Die Fotografie beschäftigt sich (in ihrer klassischen Form) mit einem Gegenstand oder Wesen, also mit einem Motiv, das an einem bestimmten Ort vor ausgewähltem Hintergrund und zu einem klar definierten Zeitpunkt ins Blickfeld der Kamera gerückt wird. Diese Art des Zugriffs spiegelt nicht bloss Haltung und Stil des jeweils Fotografierenden, vielmehr scheint es dem Medium Fotografie eingeschrieben zu sein: Die Kamera wählt einen konkreten Gegenstand aus der Welt aus, macht ihn durch die Auswahl zum besonderen und durch das Klicken des Auslösers zum bestimmten, einmal dagewesenen Gegenstand. Ein Prinzip, das zur Dominanz von Motiv und Perspektive und zum unglaublichen Siegeszug der Fotografie beigetragen hat.
Andreas Gursky kreist seit 25 Jahren in der Welt und wählt ebenfalls zu bestimmten Zeitpunkten an ausgewählten Orten sorgfältig ausgesuchte Motive aus: zum Beispiel Produktionsstätten in zeitgenössischen Industrien, Warenumschlagplätze (Frachthäfen, Banken, Börsen) oder Verkehrsknotenpunkte (Hotels, Schiffs- und Flughäfen) und Freizeitbeschäftigungen in ihrer Spannweite von leisure zu Sport und Leistungsschau: Lustwandeln im Garten, Skilaufen, Fussballspielen, Raven und Rasen. Ausserdem hat er Foren der Politik und Tempel der Kunst und des Konsums fotografiert – und alle Fotografien mit Jahreszahl und einfachen, beschreibenden Titel wie «Times Square», «Bundestag», «Union Rave», «Prada II», «Engadin», «Rhein», «Hong Kong, Stock Exchange», «Bahrain I», «Turner Collection» oder «James Bond Islands» versehen.
Soweit steht Andreas Gursky in der Tradition. Er verfolgt jedoch, im Gegensatz zur motivischen Trophäenjagd und Sammlerwut, andere Ziele: Er will in den vorgefundenen Situationen Strukturen freilegen, gesellschaftliche Verhaltensweisen visualisieren, menschliche Konstellationen sich auskristallieren lassen. Entgegen dem Siegeszug des Individuellen im 20. Jahrhundert interessiert ihn nicht das Einzelne, sondern die Gattung, nicht das Detail, sondern das Regelwerk. Zu Beginn seiner Karriere mit Einzelfotografien, später mit aufwändiger digitaler Zusammenführung zahlreicher Aufnahmen zu einer Art fotografischen Landkarte, schafft er Bilder von hoher Symbolkraft. Er fotografiert an zentralen Orten einer prosperierenden, mobilen, nachindustriellen kapitalistischen Gesellschaft – selbst die «Natur» ist Teil davon –, aber immer so, dass sich das zeitlich, räumlich, motivisch Fixierte dehnt und ausbreitet. So als streiche er das perspektivisch gehaltene, fixierte Motiv über der Bildebene aus, als verwebe er unterschiedliche Zeiten in ein aufgeladenes Jetzt und Immer, als knüpfe er an räumlich und zeitlich verdichteten, komplexen, epischen Bildteppichen.
Gursky entrückt das Bild ins Allgemeine, er sucht im Konkreten, Heutigen, Zeitgenössischen nach Universalien, nach allgemeinen, immer wiederkehrenden Zeichen von Regeln und Strukturen des Zusammenlebens, Produzierens und Ordnens der Welt, er sucht die «Natur der Dinge», wie er selbst einmal gesagt hat. Dazu dehnt er die Fotografie zum fotografischen Bild, baut in seinen grossflächigen Bildern Spannungsfelder auf, in denen sich die Betrachter bewegen, hin- und hergerissen zwischen der Schärfe des Details und der grossen Struktur, der allgemeinen Regel, zwischen gleichzeitigem Fixieren- und Erkennenkönnen und sich wieder Verlieren. Parallelen zu Bildauffassungen in der Malerei, vom all over eines Pollocks zu den Farbfeldern bei Barnett Newman und den minimalen Gitterstrukturen bei Sol LeWitt sind in seinem Bildvokabular auszumachen.
Andreas Gursky hat seine Bilder wiederholt aus einer Art Feldherrenposition aufgenommen. Der leicht erhöhte, jedenfalls entfernte, entrückte Standpunkt erlaubt das Abstrahieren vom Individuellen, Momentanen, es verschafft Übersicht, öffnet den Weg vom Konkreten ins Allgemeine. In «Hamm, Bergwerk Ost» von 2008 hingegen kehrt sich die Blickrichtung für einmal um: Selten stehen wir Gursky so (bedrohlich) nahe und schauen von unten nach oben in eine Wolke von Kleidern, blicken in die sogenannt schwarze Kaue, die schwarze Garderobe eines Bergwerks hinein. Die Kumpels deponieren nach Arbeitsschluss ihre Arbeitskleidung in Gitterkörben, Schuhe, Gürtel, Werkzeug, Hemd und Hose, ziehen den Korb hoch, verschliessen ihn, gehen nackt in die Dusche und holen sich anschliessend in der weissen Kaue ihre Alltagskleider, wiederum aus einem persönlichen hochgezogenen Kleiderkorb herunter.
Wir schauen auf eine riesige Anzahl von Hüllen von Menschen, die nach der Schicht nach Hause gegangen sind. Gursky verdichtet in seinem Bild die real vorgefundene Situation durch zahlreiche Additionen von Kleiderkörben zu einem grossen, dichten, düsteren «Kleiderlüster», der, wie einst die Kaue selbst, den Eingang in den Stollen der Zeche zu schützen und merkwürdig bleiern zu beleuchten scheint. Die Kleider schweben, vertikal hochgezogen, über uns und den (hinter dem Kettenvorhang schemenhaft verschwindenden) Arbeitern, die wiederum vertikal untertags und wieder nach oben gebracht werden. Seit Boltanskis Kleiderhaufen wissen wir, wie tief uns die Kleider als Hüllen an menschliches Glück, Leid und Unheil zu erinnern vermögen. Hingeworfene, zerknüllte, gestapelte Gebrauchskleider sind Universalzeichen menschlicher Existenz. Kleiderhüllen sind Stellvertreter, die offen lassen, ob sie je wieder vereint, je wieder gebraucht werden.
Andreas Gursky erneuert in diesem Bergwerksbild seine darstellerische Kraft als (zeitgeschichtlicher) Historienmaler, als unromantisch-kühl analysierender, gleichwohl eindringlicher Darsteller von Handlungsorten, Welt-Ordnungen, gespiegelt an ruhiger Natur, an klarer Architektur oder eben mittendrin, an den Schaltstellen, den pochenden Knoten der Realität.