März 2011  /  Du 814

Fashion total

<p>Klang der Kargheit: Topmodel Kate Moss, in Szene gesetzt von der Fotografin Corinne Day f&uuml;r die englische <em>Vogue</em> (<em>Kate&lsquo;s at</em>, 1993).</p>

Klang der Kargheit: Topmodel Kate Moss, in Szene gesetzt von der Fotografin Corinne Day für die englische Vogue (Kate‘s at, 1993).

Mode ist alles: das Prinzip der Neuheit, des leichtfüssigen Wechsels, des Hochjubelns und Vergessens, des Bruchs mit Traditionen bei gleichzeitigem Covern überlieferter Zeichen als frei verfügbare Geruchs-, Stil-, Farb- und Formpartikel. Dieser dynamisierte Handel mit der Oberfläche hat heute fast alle Lebensbereiche, hat das gesamte gesellschaftliche Leben erreicht. Die Freude am Ephemeren, am Augenblick dominiert, die Lust an der Hülle, der Erscheinung prahlt. Demgegenüber verströmt das einfache Sein, die Sicht auf die Basis, die Grundlagenforschung vermehrt ein Gefühl der Langeweile. Der Verdacht des Vorgestrigen, des Antiquierten senkt sich wie ein Schleier auf die Substanz. 

Luftballons gäben – könnten sie überzeugend schlank oder mager sein – das Idealbild für zeitgenössisches Verhalten ab. Heisse, bewegte Luft verhilft der Hülle zu einem attraktiven Aussehen und einem leichten Aufstieg, sie haucht dem Ballon Leben ein. Und diese Hülle schwebt luftig über der Erde, über dem Grund. Wir sehen ihn aus der Ferne, verlieren ihn aus dem Blick. Dann sinkt der Ballon für kurze Zeit auf den Boden, um erneut mit Hitze und neuem Gewand aufzusteigen. 

Alles «nur» heisse Luft? Aber dieses «nur» ist selbst zauberhaft parfümiert, weht uns frisch ins Gesicht, berührt uns zärtlich, verwandelt die Schwere des Alltags in feinstof iche Hochgefühle, so wie ich als Junge am Sonntagmorgen auf dem Balkon stand und mit grossem Staunen dem lautlosen Schweben der Ballons zusah. Dieses «nur» trägt zarte oder starke Farben, streicht über den Körper wie eine leichte, frische Brise, perlt an ihm herunter wie Quellwasser und erhitzt ihn wiederum wie Feuer. 

Das Prinzip des schnellen, diskontinuierlichen Wechsels und das Drängen an die Oberfläche (die Substanz steigt an die Oberfläche, manifestiert, pulverisiert und verflüchtigt sich dort) nisten sich mit Stil und Geschmack überall im Leben ein. Die einst verp ichtende Berufung magerte zum Beruf und schliesslich zum bezahlten Job ab. Die Börsenkurve, eine modellhafte Abstraktion, wird für die Sache selbst genommen. Sogar Freundschaften gehorchen zunehmend der Leichtigkeit des Scheins. Fashion is all – die Mode ergreift heute alles, reisst uns lachend den Strudel hinauf und hinab. Schliesslich wird das Prinzip von der Vorlage, den Kleidern, auf den Körper durchgepaust: Der Körper, getränkt von Stilfragen, von der Hybridisierung von Substanz und Flüchtigem, von Kern und Oberfläche, verwandelt sich zum durchgestalteten Objekt. 

Solche Durchdringungen erleben auch die Bildwelten. Die Bilder der Mode und des Alltags konnten einst nicht verschiedener sein. Wie Tag und Nacht, wie Blüte und Knolle, wie Vorstellung und Realität folgten sie «auf immer und ewig» unterschiedlichen Bildsprachen. In den 1990er Jahren setzte dann die Vermischung ein: schnell, intensiv, bildrevolutionär. Das Diktat von oben nach unten, von der Haute Couture zur Streetwear verschwindet oder beginnt sich umzukehren. Die Modefotografie nähert sich, gelangweilt vom ewigen Glamour, von kühler Eleganz, der dokumentarischen Fotografie an, wird reportagehaft, verleiht sich einen neuen Schein von Authentizität. Unplugged, roh und real hatten fortan die Bilder zu sein. Paten dieser Entwicklung waren Nan Goldin, Mark Morrisroe, David Armstrong, Jack Pierson unter einigen anderen. Ihre künstlerischen Bildsprachen (der 1980er-Jahre) wurden in den 1990er-Jahren zum modischen «Grunge» und «Heroin Chic», sie formten das neue Authentische. 

Corinne Day, britische Modefotografin, wurde in den 1990ern zum Inbegriff dieser Verschmelzung. Ihre Modebilder sind Strassenbilder, Szenenbilder, sind Interieurs und Porträts. In langer Zusammenarbeit mit vielen Models, vornehmlich Kate Moss, erarbeitete sie sich eine unverkennbare Atmosphäre: einen Klang der Einfachheit, der Kargheit, des scheinbar Nebensächlichen, ein Klang, der Strasse und Bühne, Alltägliches und Schlaglicht verschmelzen lässt. 

Der banale Alltag, einfache Handlungen, banale Gesten, das Abhängen, werden zum neuen Stil. Schnappschussfotografie, einfache beobachtende Fotografie, ersetzt das Theatralische, Hochstilisierte, Erhabene bisheriger Modefotografie. Kate Moss scheint hier innezuhalten, die Vorbereitungen für die Welt draussen zu unterbrechen. Sie stellt sich kurz hin, wird porträtiert, dann geht sie, vermeintlich, ihren Weg weiter. Dabei wird sie durch billig-bunte Glühgirlanden zur Madonna der 1990er Jahre, zur Heiligen einer säkularisierten Welt verwandelt – als ein Teil, eine Ausformung eines in viele Splitter geborstenen Ichs. Die theatralische Modewelt erobert hier die Bildsprache des Alltags und theatralisiert sie dadurch, unterwirft auch sie dem Prinzip des Modischen. Der (letzte) Hort des Wahren und Echten – die Authentizität im Alltag, in der Kunst, in der Sprache – verwandelt sich so selbst, gekonnt, relaxt, ohne wirkliches Aufsehen, zur modischen Ware. 

Doch die Zeiten verändern sich rasch: Die Nullerjahre der Modefotografie sagten sich schnell los von den realen Szenarios, von den quälend süssen Identitäts- und Genderdebatten, sie lebten von der Liaison mit der Pornografie, der Cyberästhetik, dem Bezug zum Konzeptuellen der 1970er Jahre, und sie kreierten Tableaus von kontrolliert stilisierter Unheimlichkeit, von kühler Surrealität. Corinne Day starb letzten Sommer. Sie wusste schon lange, fast fünfzehn Jahre lang, von ihrer schleichenden lebensbedrohlichen Krankheit. Die Substanz holte sie ein. Cool weiterleben in der Geschichte der Modefotografie wird ihr Werk der 1990er Jahre, wie dieses Bild, das sie 1993 für die britische Vogue geschossen hat.