November 2013  /  Du 841

Fast Foto – Slow Foto

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<p>Blick auf einen verkehrstechnischen Zweckbau: die Hardbrücke in einer fast entrückten Ruhe, fotografiert von Stefan Bucher.</p>

Blick auf einen verkehrstechnischen Zweckbau: die Hardbrücke in einer fast entrückten Ruhe, fotografiert von Stefan Bucher.

Lassen Sie mich zuerst zwei kleine Geschichten erzählen: Raymond Meier, ein bekannter Schweizer Fotograf, der in New York in den achtziger, neunziger und in den Nullerjahren mit seinen Modefotografien und Stillleben Furore machte – hauptsächlich im Harper’s Bazaar und in der amerikanischen Vogue – erzählte mir, wie eine Uhrenfirma auf ihn zukam, um ihm einen Auftrag zu erteilen. Coole People-Fotos solle er aufnehmen, die dann für ihre Uhrenwerbung im asiatischen Markt verwendet werden. Der Auftrag, obwohl erstaunlich lasch im Briefing, soll voll bezahlt werden, jedoch nur dann, wenn der Fotograf auch bereit sei, während der gesamten Produktion der Bilder von einem Videoteam begleitet zu werden. Meier mag das eigentlich weniger, wie er sagt, aber schliesslich willigte er ein. Mit grossem Erstaunen erlebt er anschliessend zum ersten Mal, dass seine Arbeit quasi vergebens war. Für die Katz. Zumindest halbwegs, denn die Firma war nicht an den teuer bezahlten Fotos interessiert, sondern ausschliesslich am Making-Of-Video, also nicht am Resultat, sondern an der Geschichte des Machens, der Entstehung der Bilder, der Story. Im gleichen Gespräch erwähnt Meier, wie sich früher seine Assistenten auf alle neuen Glossies gestürzt haben, jeder wollte die Hefte unbedingt zuerst sehen, möglichst noch vor dem Patron. Heute hingegen liegen sie ungebraucht, kaum durchgeblät­tert auf dem Tisch. 

Was geht hier vor sich? Wir produzieren Billionen von Fotografien, stellen sie online, schicken sie mit Lichtgeschwindigkeit um die Welt – und vielleicht schaut sie gar niemand mehr an? Wir machen endlos viele Fotos, aber offenbar verkiesen die meisten davon in einem beträchtlichen Aufmerksamkeitsdefizit: Der Grossteil davon wird gar nicht mehr angeschaut, andere werden von einer Minicommunity kurz und nett begrüsst und dann gleich abgehakt, lediglich ein winziger Bruchteil des Bilderbergs erlangt eine bestimmte zeitlich und räumlich beschränkte Wichtigkeit, eine Screen- oder Printpräsenz. Die meisten Fotografen vergammeln schon von der ersten Sekunde an in der Kamera oder auf dem Computer, auf den sie paketweise überspielt werden, ungeordnet, unstrukturiert, offenbar ungeliebt. Der Augenblick der Aufnahme hingegen scheint sehr wohl wichtig zu sein, die Umstände des Bildermachens, das Produzieren der Bilder, das gemeinsame Klicken und Kichern auch, hingegen weit weniger das Resultat. Ich frage mich, ob dem scheinbar gigantischen Siegeszug der Fotografie nicht schon der eigene Kollaps, seine eigene Implosion innewohnt? Ob der anschwellende Fluss, Strom, Tsunami von Bildern und die Lichtgeschwindigkeit, mit der die Bilder um uns herumsausen, nicht den zukünftigen Gau gleichsam zwangsläufig mit bedingen, ja ihn hervorrufen? Allfällige Vergleiche zur Finanzwelt sind ohne Gewähr. 

Mehr Bilder als heute können es jedenfalls nicht mehr werden. 2012 sollen mehr Bilder gemacht worden sein, als in der gesamten Geschichte der Fotografie zusammen, also mehr als die letzten 174 Jahre gemeinsam aufaddiert. Täglich werden 300 Millionen Bilder auf Facebook hochgeladen.  Und dennoch wird Facebook eben von Instagramm überholt. Tumblr wirbt heute, am Tag des Schreibens, mit 61,8 Milliarden Einträgen, mehrheitlich Fotografien.  Die Geschwindigkeit, mit der die Bilder um die Welt sausen und sich vervielfachen, lässt selbst Speedy Gonzales, die einst schnellste Komik-Maus der Welt zur Salzsäule erstarren. In dieser Menge und Geschwindigkeit scheinen Bilder wie Aerosole zu funktionieren: Entweder sie lösen sich von selbst in der Luft auf oder sie verstopfen unseren Augensinn, bevor sie schliesslich in all den verborgenen elektronischen Taschen und Kisten vor sich hin motten. Sie füllen unsere Kanäle auf und entwickeln sich so zur Bildverschmutzung, selbst da wo sie scheinbar unsichtbar sind. 

Welche Funktion haben denn diese Bilder heute wirklich? Was wollen, sollen, dürfen sie? Ein Grossteil davon scheint kaum mehr ästhetische Funktionen wahrzunehmen, sondern als soziale und personalpsychologische Trigger mit einer Laufzeit von 1, 2, 3, 4, max. 5  Sekunden zu agieren. Statt Erinnern: Fotografieren. Statt Erleben: Fotografieren. Statt Denken: Fotografieren. Statt Wissen: Fotografieren. Statt Reden: Fotografieren. Statt Lieben: Fotografieren. Wenigstens ist das Letzte pretty safe. Sie kennen die Situation, in der Ausstellungs­besucher die Erläuterungstexte fotografieren, in der Meinung, sie lesen sie dann zuhause. Von der Biennale von Venedig 2013 wird mir in Erinnerung bleiben, wie Horden von (asiatischen) Menschen mit ihren I-Pads zu Archäologen der Jetztzeit werden. Alles und jedes knipsen und gleich versorgen und vergessen. 

Wie wichtig es in dieser aktuellen Situation ist, bewusste, selbstbewusste, selbstreflektie­rende, kontextualisierte Bilder vorzulegen, ist heute jedem Fotografen klar. Nur so, mit Bedacht und Grips und mit strukturellem GPS ausgerüstet, kann Bildermachen weiterhin Sinn machen. Wie sehr die neulich ausgerufene Gegenbewegung der Slow Photography in diesen Verschlingmechnismus einzugreifen vermag, ist höchst fraglich. Sie vermag wohl ebenso wenig den Strom zu stören wie der Rosenhof-Markt in Zürich, auf dem seit den siebziger Jahren jeden Donnerstag Selbstgezimmertes, Selbstgestricktes, Selbstgesehenes angeboten wird, im stillen Kampf gegen das Monstrum Weltwirtschaft und Massenproduktion. Verlangsamung und Verpersönlichung garantiert nicht sofort Qualität, oft jedoch: Nostalgie.