Juli 2012  /  Du 828

Foto-Therapie

<p>Zoe Leonard: <em>Wig,</em> 1990</p>

Zoe Leonard: Wig, 1990

Mich packt manchmal der Rappel. Dann kann ich keine Fotografie mehr sehen. Ertrage diese Hochglanzblendung nicht mehr, diesen alles überziehenden Glanz. Eine fette Farbdecke, in die alles eingewoben werden kann, in der sich unterschiedslos Armut und Reichtum, Stadt und Natur, Menschlichkeit und Unmenschlichkeit präsentieren, vielfarbig spiegelnd und glänzend. Die Welt wird darin eingeschweisst, vakuumverpackt, geruchs- und ausdünstungsfrei, das Legedatum steht auf der Rückseite. Wir sehen digital, denken digital, schicken digital, handeln digital, und staunen, dass wir nicht auch noch digital sch ……, fein säuberlich in Portionen abgepackt. Diese Fotografie gefriertrocknet das Leben, in Sekundenbruchteilen stirbt es in ewigem Strahlen ab. Farbbunt, aber blutleer, datenreich, jedoch lebensarm.

Der grosse Rappel schlägt selten zu, dafür aber heftig. Dann heisst es, «alles weg damit», dann brauche ich Leben, Greifbares, Riechbares. Ich suche in solchen Augenblicken Bilder (wenn ich nicht direkt in den Wald gehe), die mich verbinden, nicht entbinden. Die direkten Zugang, tiefes Sehen ermöglichen, auch wenn es schmerzhaft ist, die einen Zugriff erlauben, als ginge es um Berühren und nicht um Sehen, um Haut- und nicht um Augenkontakt. Die Bilder von Zoe Leonard gehören zu meiner Therapie dazu. Jede ihrer Fotografien sagt: «Ich sehe, was ich fotografiere», «ich zeige, was ich gesehen und fotografiert habe», «Das ist es, nichts anderes!». Über alle Themen hinweg, die sie angeht, schauen wir auf einen Barytabzug, der zuerst von sich selbst und von der Fotografie allgemein zu reden scheint. Der schwarze Negativrand, der mitgeprintet wird, umkreist das Gesehene, rahmt es, bestimmt es sowohl als Fragment der Wirklichkeit wie auch als Totalität des Fotografierten. Die verschiedenen Unreinheiten – Kratzer im Negativ, Staubkörner im Vergrösserungsapparat –, die sich beim Entwickeln des Films und beim Vergrössern der Fotografien ergeben können, werden nicht wegretuschiert, sondern auffallend so belassen. Dadurch werden der Prozess des Fotografierens, der Entwicklung und der Vergrösserung auf die verschiedenen Arten von Schwarzweiss-Fotopapieren hervorgehoben und mit thematisiert. Der Träger des Bildes, der Bildinformation, geht nicht vergessen, er versinkt nicht, wie in der Blendung der Werbefotografie, hinter der Brillanz des Bildes, hinter der perfekten Vergrösserung, sondern er wird gezeigt und ist dadurch ein spürbarer Teil des Bildes. So wie einst nach Sendeschluss das Radio rauschte, der Fernseher flimmerte, die Plattennadel endlos schleifte, nachdem alle Hörer eingeschlafen waren, so erkennen wir in den Fotografien von Zoe Leonard durch die Bildinformation hindurch immer auch die Materialität des Bildes und das Prozesshafte des Fotografierens. 

Wir sehen nicht nur, wir scheinen einem alchemistischen Prozess beizuwohnen. Die starke Präsenz des Trägers, des Materialen irritiert den Glanz, trübt das blosse Blenden, den Spiegel der Bildoberfläche, lässt ihn partiell matt erscheinen. Aus der fotografischen Materie formt sich bei Zoe Leonard das Bild heraus. Bilder von Landkarten und Stadtmodellen zum Beispiel, Luftaufnahmen von Wasserläufen und Stadtsiedlungen, Fotografien von Modeschauen und Museumsbesuchen – die unterschiedlichsten Motive und Themen schälen sich wie Graphitspuren aus dem Grund, teils hell, mit ausbrechenden Lichtern, teils dunkel, mit Bildpartien, die abrupt und russig von hell ins Dunkelschwarze abbrechen. Zoe Leonard fotografiert, aber sie behandelt das fotografische Bild wie eine archäologische Grabungsstätte, an der Spuren, Überreste unterschiedlich genau und unterschiedlich tief freigelegt werden. Sie knetet gleichsam ihre Fotografie, und zwar so lange, bis Träger und Bild, Licht und Schatten, Motiv und Thema ein Amalgam werden, das zutiefst der Gestaltungskraft der Künstlerin entspringt und zugleich fast wie ein gefundenes Foto wirkt. Eine Art von formbewusstem Antiformalismus, von materialbewusster Antibrillanz scheint den Gestaltungsprozess zu begleiten und zu prägen. Die Suche nach Zuordnungen lässt mich Zoe Leonards Werk als «Fotografia Povera», eine Arte Povera der Fotografie bezeichnen, die den Bildgehalt schon im Material anrührt, im Prozess sichtbar macht und ihn dann mit dem Licht zum Leben erweckt.

Gott sei Dank schleicht sich der Rappel auch bald wieder weg. Aber wenn wir uns nicht mehr im Sand suhlen, nicht mehr Briefumschläge mit der Zunge anfeuchten, nicht mehr sichtbar schwitzen, dann sind wir teilzeitig auf Lebensentzug, werden irre an körperlicher, elektronischer, an digitaler Sauberkeit. Die Sonne geht doch gefühlsmässig im Westen unter (manchmal mit ergreifend schummrigen Rot), auch wenn wir wissen, dass sich bloss und immerwährend die Erde dreht.

Wer in nächster Zeit den Rappel hat, vielleicht weil es wieder mal den Juni hindurch dauerregnet, kann auf dem Weg in den Süden in Mailand bis 28. Juli bei der Galleria Raffaella Cortese neuen Werken von Zoe Leonard begegnen. Unter dem simplen Titel: Sun Photographs.