2004  /  Unpublished (book project was cannelled)

Fotografie in der Kunst
Kleine Geschichte eines angespannten und befruchtenden Verhängnisses

Hier wird ein Buch unter dem Titel „UBS Art Collection“ der Fotografie gewidmet, Fotografie als Teil einer Kunstsammlung vorgestellt. Ganz selbstverständlich. Dabei wird leicht vergessen, dass diese Selbstverständlichkeit erst ein, zwei Jahrzehnte alt ist. Die Geschichte der Fotografie ist auch die Leidensgeschichte eines Mediums, dem lange Zeit der Status der Kunst verwehrt blieb. Im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts erfunden entwickelte sich die Fotografie rasch zu einem Medium, das mit bis anhin ungekannter Genauigkeit die Welt abbilden konnte. So genau, dass sich die Maler und Zeichner fragen mussten, ob sie sich weiterhin der mimetischen, die Natur nachbildenden Darstellung widmen sollten. Zumal diesen fotografisch erzeugten Bildern fast unmittelbar ein Höchstmass an Wahrheit, an Wahrheit der Wiedergabe der Wirklichkeit, zuerkannt worden war. So genau auch ist die Fotografie, dass im Bild selbst immer sichtbar ist, dass sie nicht von Menschenhand angefertigt wurde. Dies war ihr Dilemma in einer Zeit, in der Kunst stark mit Malerei und mit Duktus, der Art des Malauftrages, gleichgesetzt, die „Handschrift“ als zentrales Merkmal des Künstlerischen gewertet wurde. Sie war nicht handgemacht, entsprang nicht einem direkten Fluss aus schöpferischem Geist über die Schaffenshand ins Werk. Entsprechend konnte das fotografisch erzeugte Bild damals nicht als eine künstlerische Leistung wahrgenommen werden.

Dieses Dilemma prägte die Fotografie seit Ihrer Erfindung um 1830 herum, quälte sie oft gar. Und zwar so stark, dass markante Ausschläge die Stilgeschichte der Fotografie kennzeichnen. Am Augenscheinlichsten offenbart sich diese Anspannung in der Frage, ob eine Fotografie immer scharf sein müsse, oder ob sie auch unscharf sein dürfe. Die Piktorialisten, Vertreter der vorherrschenden Stilrichtung in der Fotografie um 1900, wehrten sich gegen den Vorwurf der mechanistischen Darstellung, indem sie mit allen möglichen Mitteln ein sanftes, atmosphärisches Bild erzeugten. Fotografien, mit Gummi und Bromöl auf weiches, offenes Aquarellpapier gedruckt, verwandelten jedes scharfe Negativ in ein malerisches, romantisches oder impressionistisches Bild – bläulich, bräunlich oder olivgrün eingefärbt. Diese piktorialistische Fotografie lehnte sich auffallend an die Malerei an, wollte so als Kunst akzeptiert werden.

Im Gegensatz dazu besann sich die Moderne der Fotografie auf ihre eigenen Mittel. Die Fotografie wurde selbstbewusster, gewann an Vertrauen, entwickelte ein eigenes forschendes Sehen der Welt, ein Erkunden der sichtbaren Wirklichkeit aus verschiedenen Perspektiven: von oben, unten, hinten, vorne, aber immer direkt und ohne Schnörkel aus dem Fundus der Kunstgeschichte. Parallel zum Konstruktivismus, zum Bauhaus, zur konkreten Kunst wurde moderne Fotografie „straight“, scharf und klar. Dieser Schritt war wichtig für die Fotografie, liess sie erwachsen werden. Doch bildete sich daraus ein Dogma der scharfen, mediumtreuen Fotografie. Unscharfes war von nun an für Jahrzehnte verpönt.

Diese zwei Beispiele stehen stellvertretend für viele. Sie zeigen, wie stark Anlehnungen und Abgrenzungen die Geschichte der Fotografie prägten, bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein, obwohl sich seit den sechziger Jahren ein Wechsel anbahnte, der das Verhältnis von Fotografie und Kunst entscheidend verändern sollte. Er kam von unverhoffter Seite: Die Kunst selbst begann Fotografie einzusetzen – vorerst ohne Kenntnis der Geschichte des Mediums. Schauen wir etwas genauer hin:

1955 trat Robert Rauschenberg mit seinen „Combines“ an die Öffentlichkeit – Skulpturen, in denen er Möbel, Reifen und andere disparate Materialien vereinte, und Malereien, die er mit Fotografien versetzte. Gefundene oder selbstgemachte Fotografien wurden in Gemälde integriert, später als Siebdrucke überlappend aneinandergereiht oder zu einem Block, einer Assemblage, zusammengestellt. Entscheidend war, dass es „irgendwelche Fotografien“ waren. Denn das Explosive an dieser neuen, radikalen Haltung war, dass Fotografien als ausserkünstlerisches Material, als quasi-objektive Fundobjekte, als unkünstlerische Realzeichen in die Malerei integriert wurden. Fast zur gleichen Zeit begann Andy Warhol, den Siebdruck zu nutzen und vorgefundene, ausgeliehene Fotografien repetitiv in block- und sequenzartige Bilder zu stellen. Diese neuen Kunstbewegungen – in Europa waren es die „Nouveaux Réalistes“ mit Jean Tinguely, Nicki de Saint Phalle, Daniel Spoerri, Raymond Hains und anderen – suchten nach einem Ausweg aus den Dogmen des Modernismus, aus der Sackgasse der Abstraktion. Die Bewegungen dieser Zeit wollten weg vom auratischen Objekt, und sie gingen erst den Weg zu mehr Realismus in der Beschäftigung mit der Welt, später jenen zur Kunst als Untersuchungsinstrument, zur Idee, zum Gedanken als zentralem Element des künstlerischen Tuns.

In den sechziger und siebziger Jahren wurden Wahrnehmung und Bild einer breit angelegten, ernsthaften Prüfung unterzogen. Einerseits wurde das Sehen und Erkennen selbst befragt und analysiert, andererseits wurde der Glaube an das Bild und die Realität des Bildes in Frage gestellt: auf der Fotoebene in Form der Absage an das Einzelbild, hin zu Reihen, Serien, Sequenzen von Fotografien; in der Malerei als Sprengung des Gevierts, der Begrenzung des Bildes, als Auslaufen des Bildes über die Wand, in den Raum, ins Leben hinein. In beiden Fällen ging es um Entmystifizierung, um ein Entschlacken des Bildes von Bedeutungs- und Gefühlsschwere. Von nun an reichten ein Träger – Chassis, Leinwand oder Fotopapier – und eine Oberfläche – Grundierung, Farbauftrag oder Fotoemulsion – für den Niederschlag von Gedanken, Ideen, Haltungen. Oder die Handlung ersetzte das Ziel, die Handlung im Fluss wird zum Zentrum der Betrachtung, löst das Kunstwerk als Objekt auf und ab. Diesen Weg gingen Land Art- oder Performance- und Happening-Künstler (später auch Handlungs- und Explosionskünstler wie Roman Signer). Sie lösten das Unbewegliche zugunsten des Beweglichen, das erstarrte Objekt zugunsten der Bewegung in Raum und Zeit auf.

Damit sind wir mitten in der Konzeptualisierung der Kunst und der Fotografie, im ersten grossen Amalgam von Fotografie und Kunst: John Szarkowski, der Direktor des Fotoabteilung am MoMA in New York, schrieb 1975 unter dem Titel „Eine andere Art von Kunst“ einen Artikel in der New York Times und stellte fest: „Einige zeitgenössische Künstler, die wenigstens nominal, also theoretisch als Maler begannen, und die in der Zwischenzeit ihren Weg durch nichtpiktorale Kunstformen gegangen sind (Happenings, Konzeptkunst, Land Art, Systems Art etc.), haben eine schnelle Wertschätzung demonstriert, eine Wertschätzung der Fotografie als einer Technik, welche die Wege der menschlichen Erfahrung dokumentieren kann. Solche Künstler, die von Duchamp und Tinguely gelernt haben, dass der Kunstakt nicht mit der Geschicklichkeit der edlen Herstellung einhergehen muss, haben schnell gelernt, dass die Fotografie ein Kunstwerk sein kann, ohne ein offensichtlich schönes Objekt zu sein.“ John Szarkowski macht es deutlich: Der Konzeptkünstler liebt die Idee und sucht nicht das Objekt, er konzentriert sich auf das visuelle Denken und nicht auf das Ausarbeiten eines edlen Objekts, die Bildidee und nicht das Bild-Artefakt ist wichtig. Und die Fotografie wird eingesetzt wie Sprache – als Träger einer kulturellen Botschaft. Seither wird mit Begriffen wie „Fotografie als Kunst“ und „Kunst als Fotografie“ auf die Differenz ihrer Herkunft und der damit verbundenen Bedeutungen hingewiesen. Mit dieser Wende wurde es für die Kunstszene möglich, das Medium Fotografie in ihren Diskurs aufzunehmen. Die Fotografieszene jedoch tat sich zuerst offenkundig schwer damit, weil diese Aufnahme unter Vorzeichen stattfand, die ihre eigenen Prinzipien brach und auflöste.

Ende der siebziger Jahre war die Fotografie in zwei Lager geteilt: Einerseits die Fotografie als Kunst. Sie folgte weiterhin vornehmlich dem modernistischen Kanon: perfekte Form, perfekte Technik, der richtige Moment, vorwiegend in Schwarzweiss. Der Look dieser Fotografie hatte sich etabliert: Baryt-Abzug im Passepartout. Dieses Genre von „Fine Art of Photography“ formierte sich, nachdem die Fotografie ihre berichtende Aufgabe ans Fernsehen abgetreten hatte. Es wurde allerdings kaum im Gegenwartskunstmarkt gehandelt, sondern in einem eigenen Handelssektor, in eigens eröffneten Fotogalerien. Andererseits hatte sich ein Teil der Fotografie einer Symbiose mit den „avancierten“ Kunstpraktiken verschrieben, mit Konzeptkunst und Performance. Hier waren der „kunsthafte“ Charakter der Fotografie und virtuose Technik weniger wichtig als ihr intellektueller, kritischer, erforschender Einsatz.

Beide Formen wurden Anfang der achtziger Jahre von der wiedererwachten Sehn-Sucht nach Bildern überrascht. Die Fotografie musste Bild werden um anzukommen: Bild im Sinne von unmittelbarer, sinnlich und emotional ansprechender Oberfläche beachtlicher Grösse, verankert in traditionellen oder populärkulturellen visuellen Codes, ikonenhaft aufbereitet und gerahmt. Die Lösung lag in der Form. Fotografie musste ganz einfach gross werden, denn Malereien waren wieder gross geworden. Also wurden Fotografien und Motive aufgeblasen („Blow Up“ hiess der Titel einer Wanderausstellung in Europa), damit sie die zwingende Gegenwart von Gemälden erreichten. Und sie erhielten schwere, grosse Rahmen, die ihren repräsentativen Objektcharakter betonten. Prunk und Spiegelungen waren die Formel für das Glänzen, den Schein des Erhabenen der achtziger Jahre. Das Ende des Glaubens an die lineare Geschichte, der Geschichte als Fortschritt wurde mit dem In-Begriff der achtziger Jahre, der „Postmoderne“, umschrieben. „Postmoderne“ ist nicht nur ein ästhetischer, sondern vielmehr auch ein geschichtsphilosophischer Begriff. Die Moderne ging von der Geschichte als Fortschritt (im Kulturellen, Politischen, Technischen) aus. Mit dem Scheitern der totalitären Utopien des 20. Jahrhunderts, Versuchen, das Paradies auf Erden zu verwirklichten, versandete die Idee des Fortschritts. Geschichte wurde nun zusehends zirkulär verstanden, als eine ästhetische Abfolge von immer wiederkehrenden Ideen in neuen Kleidern. Mit diesem Geschichtsverständnis kehrten auch Pathos und Erhabenes, kehrte die Allegorie ins Bild zurück. In der UBS Art Collection vertreten Marie-Joe Lafontaine und Balthasar Burkhard diese neue Ästhetik, dieses Spiel mit dem Erhabenen, dem Monumentalen, der Enttabuisierung des Heroischen. Peter Fischli und David Weiss ihrerseits spielen oft auf das Erhabene an, um es dann zu unterlaufen, oder gehen umgekehrt low culture so ernsthaft und freudig an, als stünden sie vor dem Pantheon. Allegorie und neues Raunen auf der einen Seite, Ironie und das Spielen mit der Welt auf der andern. Erwin Wurm ist mit seinen T-Shirts- und anderen One-Minute-Skulpturen ein heiterer Plastiker in der gegenständlichen Welt. Christopher Williams scheint jener Künstler zu sein, der das das Schöne, das Erhabene nicht symphonisch inszeniert, sondern es in der Klarheit der Moderne, in der Monumentalität des Kleinen sucht.

Die „postmodernen“ allegorischen Achtzigerjahre werden ab Mitte des Jahrzehnts von Abgängern der Düsseldorfer Akademie, den Schülern von Bernd und Hilla Becher, herausgefordert – von Andreas Gursky, Thomas Struth und Thomas Ruff, Candida Höfer, Axel Hütte, Jörg Sasse und anderen mehr, die eine neue Variante des bildhaften Dokumentarismus vorschlagen. Die Becher-Schüler nehmen eine Scharnierstellung zwischen der Kunst der achtziger und neunziger Jahre ein. Bernd und Hilla Becher sind Konzeptualisten, die deutsche Nüchternheit und Präzision mit einem zurückhaltenden, forschenden Intellektualismus verbinden. Sie suchen, fast wie Ethnographen, das genaue, vergleichbare Bild, betreiben eine visuelle Feldforschung. Ihre Schüler verhalten sich anfänglich meisterkonform, doch bald verändert sich die Haltung der meisten.

Andreas Gursky, in der UBS-Sammlung mit zwei Bildern vom Aletschgletscher und vom Pariser Autosalon vertreten, eignet sich als Stellvertreter, gerade wegen des besonderen Spannungsfelds zwischen Fotografiertem und Bildhaftem in seinen Werken. Die Fotografie beschäftigt sich traditionell mit einem Gegenstand oder Wesen, einem bestimmten Motiv, das an einem bestimmten Ort vor einem bestimmten Hintergrund und zu einem bestimmten Zeitpunkt ins Blickfeld der Kamera gerückt wird. Diese „klassische Haltung“, scheint nicht bloss Haltung und Stil des jeweils Fotografierenden zu entsprechen, sie scheint vielmehr dem Medium Fotografie selbst eingeschrieben sein. In diesem Sinne reist auch Andreas Gursky durch die Welt und wählt sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an bestimmten Orten ein ganz bestimmtes Motiv aus: zum Beispiel Produktionsstätten oder Warenumschlagsplätze, „Verkehrsknotenpunkte“ oder Freizeitbeschäftigungen, von „leisure“ zu Sport, dazu auch Foren der Politik und Tempel der Kunst. Im grossen Gegensatz zu diesem anscheinend wesenhaften Aspekt der Fotografie verfolgt Andreas Gursky aber ein anderes Ziel: Er geht zwar an bestimmte Orte, doch er versucht weniger, ein Motiv vor einem Hintergrund aufzuspüren, als vielmehr Konstellationen zu zeigen, darüber- oder darunterliegende Strukturen, gesellschaftliche Ereignis- und Handlungszusammenhänge zu visualisieren; einerseits in Zusammenfassungen von vielen einzelnen Details zu einer Art fotografischer Landkarte oder andererseits in Verdichtungen zu symbolhaft anmutenden Bildern, die gleichwohl ihre Bedeutung nie ganz preisgeben. Er fotografiert zwar zu einem bestimmten Zeitpunkt, und er fotografiert an beispielhaft zeitgenössischen Orten einer prosperierenden, mobilen, nachindustriellen kapitalistischen Gesellschaft – selbst die „Natur“ in seinen Fotografien ist unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten –, aber er ist bestrebt, das zeitlich Fixierte zu dehnen, es nicht in einen erzählerischen Ablauf, sondern in ein Allgemeines zu verwandeln.

In Bezug auf die Fotografie dehnt Andreas Gursky das Medium Fotografie bis an seine Grenzen; in Bezug auf das Bild im allgemeinen nimmt er eine Abstraktionen oder Konstruktionen vor – er abstrahiert vom Besonderen ins Allgemeine oder konstruiert mit den vielen vorhandenen konkreten Details ein Allgemeines; inhaltlich gesehen sucht Andreas Gursky nach universalen Zeichen. Er sucht im Besonderen, Heutigen, Zeitgenössischen nach allgemeinen, immer wiederkehrenden Zeichen der Regeln und Strukturen des Zusammenlebens, des Produzierens und Ordnens der Welt.

Die vielen Landschafts- und Stadtlandschaftsfotografien in der UBS Art Collection – von Massimo Vitali, Walter Niedermayr, Jean-Marc Bustamante, Thomas Flechtner, Olafur Eliasson, Axel Hütte – konnten im Sog von Andreas Gursky ihre Wirkung im Kunstmarkt entfalten. Mit den Werken von Cindy Sherman, Robert Mapplethorpe, Andreas Gursky und Jeff Wall begann der Fotoboom im Kunstmarkt, setzte das Sammeln von Fotokunst ein, festigte sich allmählich die Vorstellung, dass mit dem Medium Fotografie auch Kunst gemacht werden könne.

In den achtziger und neunziger Jahren zeigte sich die Kunst zunehmend fotografischer, fotorealer: unter anderem durch die Aufgabe von Utopien zugunsten des Festhaltens und Kommentierens der Welt und ihrer Verhältnisse; durch die Auflösung der Totalisierung als Gestaltungsziel zugunsten des fotografischen Erkundens der Welt als Zeichenwelt, des Spiels mit dem Fragment, der fotografischen Erforschung und Aneignung der Wahrnehmung in Raum und Zeit sowie der Dekontextualisierung von vorgefundenen Bildern in der Medienwelt. Das Fotografische (die Fotografie oder allgemeiner das fotografische Sehen und Wahrnehmen der Welt) wird zu einem wichtigen Mittel in der Kunst, Strukturen und ihre schnellen Veränderungen im Gesellschaftlichen, im Privaten und Öffentlichen, im Wissenschaftlichen, Wirtschaftlichen und Politischen darzustellen – das heisst, darstellend zu analysieren, zu kommentieren und ironisieren. In den neunziger Jahren scheint diese Entwicklung ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Fotografie wurde in diesem Jahrzehnt derart expansiv eingesetzt, als habe man das Medium eben erst erfunden. Seither verschwimmen die Grenzen, die Stränge lösen sich auf. Das Interesse an jeglicher Form von Fotografie – sei sie nun analog reproduzierend, also dokumentarisch, szenisch, filmisch inszenierend, oder digital produzierend (hier erweist sich Thomas Ruff als der neugierigste visuelle Forscher der Zeit) – überstrahlt einstige Standesgrenzen fast ganz.

Rund 170 Jahre sind seit der Erfindung des Mediums Fotografie vergangen. Der Leidensweg hat ein Ende gefunden. In einer konzeptualisierten Kunstwelt kann die Fotografie auch Kunstmedium sein, und nicht nur Medium der Erinnerung, der Werbung, der scheinbar unbestechlichen mechanischen Wiedergabe. Doch unser Verständnis der Fotografie hat sich dabei gründlich verändert. Wir zweifeln nun am Wahrheitsgehalt der Fotografie, wir wissen um das Fragmentarische und Subjektive jeden Bildes. Fotografie ist Bild geworden, auf Kosten ihrer Zeugenschaft. Eine Zeugenschaft, die aber oft auf einem Missverständnis beruhte. Suky Best spielt in ihrer Serie „Inadmissible Evidence“ mit unseren Erwartungen, unserem Glauben an das Evidente in der Fotografie. Das beruhigend einfache Dreieck – hier das sehende, fotografierende Subjekt, da das Motiv in der Welt, dort die Fotografie – hat sich dynamisiert, ja, aufgelöst. Unser Standpunkt ist in Bewegung geraten, wir sind so mobil geworden wie die Welt vor unseren Augen.

Die Arbeiten von Jörg Sasse führen uns diese Situation vor Augen: Er kreiert mit seinen computermanipulierten Arbeiten – Ausgangsmaterial sind oft Amateurbilder, Fotografien von Freunden – Situationen, die den Standpunkt des Betrachters, das Subjekt des Betrachtens, verunsichern. „Was sehen wir denn da vor uns?“ fragt sich das Subjekt, nachdem die Bilder zuerst einmal ganz vertraut wirken, als sähen wir eine Landschaft, eine Häuserfassade, eine bewegte, unscharfe Szenerie. All die Merkmale, die Ordnungsmuster, die unser Sehen bestätigen, unser Vertrauen stärken zu verstehen, was wir sehen, sind „leise“, fein und fast unmerklich ausser Kraft gesetzt worden. Die Andeutungen von Perspektive erweisen sich als optische Fallen, als Sackgassen, aber sie sind noch da. Wir haben konstruierte, künstliche Pixelwelten vor uns, die mit dem Anschein von Wirklichkeits-Wiedergabe spielen, aber hier etwas weglassen, dort etwas hinzufügen, bis eine Art von Schweben entsteht – schwebende Bilder, die unser Raumgefühl auflösen, die neuartige Räume „formulieren“, die auch die Zeit in ein fast zeitloses Irgendwann versetzen; konstruierte Bildwelten mit der Kraft zur Fiktion, zum angedeuteten Plot, zur transzendent wirkenden Untiefe.

Die Unsicherheiten, Paradoxien, die wir in diesen Bildern erfahren, entsprechen unseren Erfahrungen in der materiellen, der gesellschaftlichen Welt. Wir sind alle aufgefordert, geistige Nomaden zu werden, uns als Teil eines atmenden, sich verändernden Gefüges zu verstehen. Beat Streulis Passantenbilder Ende des 20. Jahrhunderts, sein Blick auf die postindustriellen Flaneure visualisieren dies als Problem und neue Kraft, als Gefährdung und neuer Stil. Fotografie in der Kunst ist so auch zum Trainingsfeld für den Ernstfall Realität geworden. Und das hat die Kunst selbst von Dogmen, von der Gefährdung des l’art-pour-l’art befreit und für die Beschäftigung mit der Welt geöffnet.