Dezember 2020  /  Reflections - Vontobel Art Collection, 2020

Fotografie ist ...

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… eine Erfolgsgeschichte. Seit bald zweihundert Jahren wird sie in jeder möglichen Ecke der Welt für jeden nur erdenklichen Zweck eingesetzt. Seit 2012 – so schätzt es die Fotoindustrie ein – werden pro Jahr mehr Fotografien gemacht als in der gesamten Geschichte zuvor. War sie anfänglich ein schwerfälliges, statisches Instrument, das mit viel Sorgfalt durch die Welt getragen, mit grosser Kunst angewandt und mit chemischem Wissen entwickelt werden musste, wurde sie mit der Leica zum leichten, mit den Point-and-Shoot-Kameras der 1990er-Jahre zum superleichten und mit den digitalen Smartphones zum nachlässigen, sorglosen Tool, das endlos geklickt werden kann. Aber reicht die Quantität, um wichtig zu sein? Wie steht es denn bei dieser Eile um die Qualität? Nicht immer kann sie mit dem Tempo und der Menge Schritt halten, dennoch begegnen wir immer wieder hervorragenden Arbeiten.

… ein grosses und anhaltendes Missverständnis. Selten sieht man in einem Feld so heftige Grabenkämpfe, die erst noch mit scharfer Klinge geführt werden, wie bei der Fotografie. Was ist sie? Was darf sie sein? Was ist gute Fotografie? Das sind die Fragen, die immer wieder gestellt werden, gefolgt von zischenden Antworten: «Das hier ist Fotografie!», «Nein, das hier!», «Das dort auf keinen Fall!» Je unsicherer die Auftragslage der Fotografie mit der Zeit geworden ist, desto lauter die Behauptungen. Als habe die Fotografie noch immer ein nur vage ausgebildetes Selbstbild und ein mangelndes Selbstwertgefühl, wird dasselbe Foto von der einen Seite zur absoluten Fotografie, zur Kunst erhöht und von der anderen Seite als Schrott verdammt. 

… ist nur schwach codiert. Eben geradeso wie die Welt da draussen, dieses organisierte Durcheinander. Weit schwächer jedenfalls als Sprache, als ein geschriebener Satz oder ein ganzer, gut durchkomponierter Text. Entsprechend gross sind die Verständnislücken. Jean Mohr, der Genfer Reportagefotograf, und John Berger, der englische Kunst- und Wahrnehmungstheoretiker, demonstrierten in ihrem Buch Eine andere Art zu erzählen, wie zehn Fotos, von zehn Personen betrachtet und beschrieben, praktisch hundert verschiedene Legenden ergeben. Jeder schaut mit seinen inneren Bildern auf die vor ihm liegenden Fotografien und sieht entsprechend etwas ganz anderes. Wir sehen offenbar nur, was wir sehen wollen.

… eine Apparatur, eine Maschine. Und mit diesem Werkzeug kann man allerlei Dinge tun. Zum Beispiel das Meer fotografieren, die Berge, ein nigelnagelneues Auto, die Familie, die Geliebte, einen geschichtsträchtigen Ort, einen Materialschaden, ein Beweisstück in einem Deliktfall, eine tolle Architektur, bevor sie von den ersten Bewohner_innen angeblich gleich verschandelt wird. Fotografie ist ein Werkzeug für nahezu alle Lebenslagen, und in jeder dieser Situationen ändert sich die Bedeutung des dabei entstehenden Bildes. Landschaftsfotografie, Familienfotografie, Polizeifotografie, Medizinfotografie, Überwachungsfotografie – oder im Notfall oder eben im Glücksfall sogar Kunstfotografie: Fotografie als Kunst oder Kunst mit Fotografie.

… eine Erinnerungshilfe und ein Erinnerungsblocker. Ohne Fotografie würden wir uns an vieles aus der persönlichen und aus der öffentlichen Vergangenheit nicht mehr erinnern. Kaum öffnen wir ein Album, eine Bilddatei, kaum sehen wir ein Foto, springt uns die Erinnerung wie eine Katze mit offenen Krallen an. «Aha!», «Ja, genau!!», «Das war so super!!!» Man kann nicht genügend Ausrufezeichen für diesen schönen Wiedererkennungsmoment setzen. Aber dieser Trigger, dieser Auslöseeffekt hat eine Kehrseite: Wir erinnern uns oft nur noch mithilfe von Fotografien an Vergangenes. Was nicht fotografiert wurde, gilt als nicht bemerkenswert und ist wenig erinnerbar. Was hingegen fotografiert wurde, wird nur so erinnert, wie es in der Fotografie aufscheint. Und nach dem ersten Erinnern mit der Fotografie, bedeckt, ja verdeckt dieses Bild gleichsam unsere ursprüngliche Erinnerung an die Vergangenheit – für immer.

… ist keine Kunst, aber sie kann Kunst erzeugen. Seit ihrer Erfindung kämpft die Fotografie um die Anerkennung als Kunst. Maler und Poeten notierten im 19. Jahrhundert mit nicht geringer Verachtung die mechanische, gleichmässige, flächendeckende exakte Abbildung der Natur, der Stadt, der Wirklichkeit, während die Kunst damals doch stark auf ein Zusammenführen, ein Filtern, ein Kondensieren auf eine Einheit, ein Ganzes, auf ein Wahres hin arbeitete. Entsprechend konnte, durfte Fotografie keine Kunst sein. Noch in den 1960er-Jahren wurde die Fotografie von Theoretikerinnen und Bildphilosophen knapp als «Halbkunst» bezeichnet. Erst ein stark erweiterter Kunstbegriff und der Gebrauch der Fotografie in der Kunst seit den 1960er-Jahren hat es der Fotografie endlich ermöglicht, als Kunst wahrgenommen, gesammelt und ausgestellt zu werden. Doch die Sammler und Sammlerinnen trauen der Haltbarkeit von Farbfotografien erst, seit Inkjet- oder Pigmentprints die C-Prints von Kodak und Fuji abgelöst haben. Mehr als zweihundert Jahre lange soll sich die Qualität nicht verändern, (voraus-)sagen die Chemiker – und die Sammler_innen nicken befriedigt und erleichtert. So alt werden wir ja dann doch noch nicht. 

… ist Kunst. Ja, sie wird nun als Kunst wahrgenommen, ausgestellt und gesammelt. Auf Auktionen werden Höchstresultate erzielt. Die Museen legen sich eigentliche Fotoabteilungen mit eigenen Kurator_innen zu, andere wiederum vermeiden jede Ghettoisierung und mischen Fotografie mit Zeichnung, Malerei, Skulptur, Video und Installation, um so die Fotografie und die Kunst ganz allgemein weit mehr über die Haltung, denn über das Medium zu begreifen. Offenbar war der jahrzehntelange Kampf um die Anerkennung der Fotografie schliesslich erfolgreich. Aber Achtung: Das, was Museen und Private als Kunst sammeln, umfasst höchstens 1 Prozent der weltweiten fotografischen Produktion. Was geschieht nun mit den anderen 99 Prozent? Werfen wir sie weg? In den Abfall? Sind sie nicht höchst wertvolle visuelle Soziologie, visuelle Geschichte, ohne die unsere Weltbilder weit ärmer wären? Verdienen sie es nicht, als Bildzeichen ihrer Zeit gesammelt und gesichtet zu werden?

… ein Mittel zum Dokumentieren, aber auch ein Mittel zum Eingreifen. Lange Zeit wurde immer wieder die Qualität der Fotografie, Ereignisse für die Nachwelt zu dokumentieren, hervorgehoben. Und darin benimmt sich die Fotografie ja oft auch weltmeisterlich. Bis wir zu begreifen begannen, dass die Fotografie auch eingreift, erzeugt, das Handeln verändert. Menschen setzen sich in Pose, wenn eine Kamera auftaucht. Witwen weinen und schreien heftiger, wenn ein Fotograf sie dokumentiert. Szenen kreieren sich also um die Präsenz einer Kamera herum. Und wie steht es dann mit dem Selbstbild, dem Selfie? Zwischen 2011 und 2017 starben - laut einer Studie des Journal of Family Medicine and Primary Care, Juli/August 2018 - weltweit offenbar 259 Menschen, während sie sich selbst aufnahmen, während sie ein Selfie machten. Unmittelbarer, direkter kann Fotografieren und Handeln gar nicht miteinander verbunden sein. Das Bildermachen wird hier leider zur schwerwiegenden, zur tragischen letzten Aktion.

… geradezu auf dem Weg, Verkehrsschild zu werden. Es gibt eine bemerkenswerte Pendelbewegung: In den 1980-Jahren ist die Fotografie ins Museum eingezogen, hat also den musealen Raum erobert. Damit das gelang, musste die Fotografie immer grösser werden, gleichsam raumgreifend gross, sodass sie wie Architektur oder wie ein Billboard wahrgenommen wurde. Wir erinnern uns an die Bilder etwa von Jeff Wall, dem kanadischen Grosskünstler, der tatsächlich sehr grosse Leuchtkästen ins Museum hängte. Oder an Katharina Sieverding oder an Balthasar Burkhard mit ihren grossen gerahmten Fotoflächen. Man sprach sogar eine Weile lang von der «Grossfotografie» wie von einer eigenen Disziplin. Zurzeit erleben wir die Gegenbewegung dazu. Seit zehn Jahren sind die meisten Fotos nur noch 4 x 5 cm gross, dafür erscheinen sie auf unseren Smartphones retro-illuminated, wie bei einem Leuchtkasten von hinten in Durchsicht beleuchtet. Radikaler könnte der Unterschied nicht sein, auch der Unterschied in der Wahrnehmung. Bei Grossbildern in Museen oder an Hausfassaden können wir physisch ins Bild eintauchen, mental darin herumwandern, während die hell leuchtenden Kleinedelsteine das kaum mehr zulassen. In dieser neuen Miniaturpräsentation gewinnen in der Regel diejenigen Fotos, die so vereinfacht, so deutlich und klar wie Verkehrsschilder ihre Botschaft rüberbringen. 

… ein Bastard. Sie kann dies und das sein. Je nach Sichtweise. Das gleiche Foto kann Landschaftsbild, Familienfoto, historisches Bild, Werbeaufnahme oder Kunstfotografie sein. Das gleiche Bild kann Wahrheit festhalten oder Gewissheit verwischen, je nach Kontext, in dem es gezeigt wird. Es switcht also hin und her und ist letztlich nicht zu fassen. Ausser wir komponieren mit einer Reihe von Fotos einen Bildersatz oder bauen ein Bilderhaus, das die Bedeutung stärker festigt. Diese Ambiguität ist Chance und Gefahr in einem. Der gigantische Siegeszug der Fotografie ist mit diesem spritzigen Cocktail aus Buntheit und Unklarheit, Möglichkeit und Abgrund, Eindringlichkeit und Leere etwas besser einzuordnen.

… ist je nach Zeit etwas anderes. Im 19. Jahrhundert war sie ein Werkzeug des Reisens, des Entdeckens, des Wahrnehmens, des Erkundens unbekannter Gegenden, unbekannter Völker. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird sie zum Ereignisdokument. Mit der Leica werden Unfälle und Verbrechen, wie es in den Zeitungen heisst, aufgenommen, politische Ereignisse, sportliche Events, menschliches Verhalten. Ab Mitte der zweiten Hälfte wird sie, erstaunlicherweise, auch zum Beruhigungsmittel. Das Festhalten, Fixieren einer sich immer schneller drehenden Welt wirkt beruhigend. Das Greifen wird vermeintlich zum Be-Greifen, die Fotografie hält an, hält fest – und vermittelt so den Eindruck, dass wir noch alles im Griff haben. Und heute? Jetzt? Im Netz wird sie zum Meme. Zusammen mit GIFs, mit den kurzbewegten Bildchen, wirkt sie oft animierend, stimulierend, wird zum neuen hektischen Alphabet in einer total visuellen Welt. In Museen und Büchern hingegen wird sie als ernsthaftes, eindrückliches Werkzeug zum bildlichen Nachdenken über Existenz, Wahrheit, Realität, zum Erfahren von Existenzen, Wahrheiten, realen und fiktiven Welten eingesetzt. Und in der Forschung ist sie weiterhin unersetzbares Recherchewerkzeug.

… noch weit mehr. Trauen Sie sich rein, ins Reich der Fotografie!