2004  /  Das Magazin

Fotokunst à la carte

Es war die Ära des Rumtopfes, der in Rum eingelegten Früchte, serviert mit einer Kugel Vanille-Eis – das Trumpfdessert in der Schweiz der siebziger Jahre. Jeder lagerte nach besonderem Rezept ein Töpfchen zuhause, das vor Weihnachten feierlich geöffnet wurde. In diesem Jahrzehnt änderte sich auch die Rezeptur für Fotografie ein erstes Mal schnell und radikal. Entlassen aus der ursprünglichen Pflicht zur visuellen Berichterstattung wurde die Fotografie als künstlerisches Medium erprobt. Befreit von der Nacherzählung, das Fernsehen war nun schneller, wurde sie konzeptualisiert. Man dachte über die Gesetze der Fotografie selbst und mit der Fotografie über die Regeln der Wahrnehmung nach und suchte nach der Sprache des Visuellen. Zumindest ein Strang der Fotografie tat das. Der andere Strang berichtete weiterhin: über die letzten Seidenweber und Käser oberhalb der Waldgrenze, über Kaiseraugst, über die Verschandelung der Landschaft durch die Autobahnen. In Schwarzweiss, mit dem damals groben Korn der ersten hochempfindlichen Filme und mit diesem nervigen Verzug durch das Weitwinkelobjektiv.

Ein Jahrzehnt danach folgte der Triumphzug des Tiramisù. Kaum eingeführt war es unmöglich, ein Essen ohne die schwere italienische Cremeschnitte abzuschliessen. Rumtopf, gebrannte Creme und Griessköpfli waren out, der schokopudrige italienische Mascarpone überzog die Teller in jedem Bauernhaus und Bauhaus, von Gerlafingen bis Göhnerswil. Als hätte sich die Fotokunst das Cremige zum Vorbild genommen, wurde in den achtziger Jahren plötzlich das Bild zelebriert. Die form-und-farb-schweren Mahagonirahmen liessen vergessen, dass in den siebziger Jahren gerade eben das Staunen vor der Ikone abgeschafft und durch das Lesen und Verstehen von Bilderreihen und -sequenzen ersetzt worden war. Das Fotobild wurde gross, sehr gross vergrössert, edel und bedeutsam gerahmt. Fotografie war nun Kunst, und wurde als solche verkauft und gefeiert, mit hochstilisierten Callas von Robert Mapplethorpe und erhabenen Vogelschwingen von Balthasar Burkhard. Wiederum auf der einen Seite. Auf der anderen hingegen wurde weiterhin berichtet, immer noch in Schwarzweiss, aber nun mit feinkörniger Entwicklung. Von den hiesigen und den Verhältnissen in der näher rückenden Fremde, vom Lädelisterben, vom Abreissen alter Wohnsubstanz, vom Recht der Minoritäten.

Dann trat Panna Cotta an. Das Dessert der neunziger Jahre, mit seinem Coulis aus Waldbeeren, Himbeeren oder Aprikosen. Vor dem eleganten Weiss eingedickter Sahne strahlten die Fruchtfarben um die Wette. Ein Hauch von Zitronenschale gab dem Rahm seinen geschmacklichen Halt. Strenges Weiss finden wir nun auch in allen Ausstellungsräumen, im Whitecube mit seinem ätzenden Blauweiss der Neonröhren. In diesem kühlen Ambiente blühte die Fotokunst auf. Sie boomte wie nie zuvor und wurde gleichzeitig Wertanlage, Wandschmuck und Zentrum der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Gesellschaft. Immer farbig, bunt, kaum je schwarzweiss wurde die Fotografie derart expansiv eingesetzt, als sei das Medium eben erst erfunden worden. Fotografie war der letzte Schrei.

Doch bald verschwammen die Grenzen, die Grenzen lösten sich auf. Das Interesse an jeglicher Form der Fotografie – sei sie analog reproduzierend, also dokumentarisch, oder digital produzierend, szenisch inszenierend oder diskursiv mediatisierend – überstrahlte Standesgrenzen fast ganz. Der boomende Markt erlaubte gar der schwarzweiss-berichtenden Fotografie, falls sie denn streng in der Haltung oder intimnah aufgenommen war, eine Renaissance. Die laminierten Farbflächen jagten sich nun wie die Mode der Desserts: Crema Catalana, Zabaione auf Beeren, Kirschen in Schokolade, Sorbets in allen Farben lösten einander in rascher Folge ab. Es wurde alles ausprobiert und als Fotokunst angeboten. Meist war sie 100x140cm gross, sah prall und lecker aus, doch sie sättigte schliesslich nicht mehr. Sie hinterliess keine Erinnerungen, wenn sie nicht von aussergewöhnlicher Qualität war.

Und nun bricht auch noch der Boom ab. Der Markt ist gesättigt, das zeigt der Rückgang der Präsenz an Kunstmessen, kommende Desserts sind nicht mehr die Fotografie, vielmehr werden es die Zeichnung sein oder eine erneuerte Malerei. Videokunst, so aktuell sie sein mag, ist zu flüchtig, zu wenig Objekt oder Ding, um am Markt bestehen (einen Wert darstellen) zu können.

In diese Situation hinein arbeiten heute junge FotografInnen, junge KünstlerInnen, bahnen sich ihren Weg. Keine beneidenswerte Aufgabe. Die Formen sind alle durchgespielt, sind alle gleichwertig, die Augen ein wenig fotomüde geworden. Jeder Boom hat seinen Preis. Die Gewinner und Gewinnerin der diesjährigen "Selections" in der Kategorie „Fine Arts“ spiegeln diese Situation: Christian Schwarz schreibt die intim-beobachtende Schwarzweissfotografie weiter, die nichts weiter will, als ruhig und nahe von menschlichen Situationen berichten. Sie stellt sich in die Tradition einer existenziellen Fotografie, die immer wieder von neuem das banale Leben erzählt, seine kleinen Geheimnisse, seine Augenblicke von Schönheiten und Traurigkeiten preisgibt. Trifft sie den „Nerv“, sind wir angerührt.

Esther van der Bie mischt verschiedenste Waldsituationen auf. Sie kombiniert unterschiedlichste Bildrealitäten – reale Verweise auf Wald mit inszenierten Waldwelten aus weichen Materialien oder aus bunten Plastikschläuchen – und verschiedene warme oder kühlere Stimmungen. Und erzeugt so eine Bilderfantasie, die Grenzen von natürlich und künstlich, von gesehen und konstruiert verwischt. Der visualisierte Begriff „Wald“ oder „Wäldchen“ verändert in jedem ihrer Bilder seine Bedeutung und Anmutung.

Bea Lauper aktualisiert das Thema der Authentizität von fotografierten Gesten und Situationen, von Fotografie ganz allgemein. Sie setzt in sehr verschiedene fotografierte Szenen – eine Menschenmenge, eine Landschaft, eine Strassenszene – immer wieder dieselbe Figur hinein, mit exakt dem gleichen Gesichtsausdruck, der gleichen Körperhaltung. Mit dieser Bildstrategie unterläuft sie die Einmaligkeit und Originalität der fotografierten Situation, stellt sie in Frage und demonstriert damit, dass Fotografieren nicht bloss Beobachten, sondern immer auch Konstruktion eines Feldes von Bedeutungen ist.

Drei Zugriffe auf das Medium Fotografie mit unterschiedlichsten Absichten. Sie können ihre Kraft nicht mehr über die Neuigkeit der Methode beweisen. Das ist vorbei, zuviel ist schon gemacht worden. Die Fotografien werden ihre Qualität über ihre Kontinuität, ihre Intensität, ihre Präsenz, ihre Dichte an Reflektiertheit beweisen müssen. Da steht die Fotografie heute. Und löst sie einige dieser Eigenschaften ein, so steht sie auch nach dem Ende eines ungewöhnlichen Kunstmarkt-Booms nicht geschwächt da, sondern leistet weiterhin ihren wichtigen Beitrag in der Auseinandersetzung mit den Bewegungen in der Gesellschaft.