September 2018  /  republik.ch

Fotowirren? Bildkompetenz!

Die Fotografie durchlebt zurzeit ein Paradox. Ein doppeltes Paradox sogar, eine Art dreifacher Rittberger mit Schraube. Auf der einen Seite hat sie ihren langgehegten Traum erreicht. Endlich wird sie nun als Kunst anerkannt. Fähnchen schwenkend rufen wir: Ja, Fotografie ist Kunst! Ja, Fotografie gehört ins Museum! Ja, Fotografie kann ein autonomes Bild sein und nicht nur eine mechanisch-elektronische Abbildung der Realität. Endlich!

Das Ziel ist also erreicht. Doch wer applaudiert? Der Boom der Kunstfotografie und der Kunst mit Fotografie (der Kunst von Fotografen und der Fotografie von Künstlern)  dauerte von 1985 bis 2005. Über zwei Jahrzehnte hatte die Fotografie eine dominante Position in der Kunstszene. Fotografien wurden in dieser Zeit immer grösser und raumgreifender, immer bunter und leuchtender. Sie wurden hoch- und plattgezogen und  richtiggehend «fett» und erfolgreich ins Museum gestellt. Oft machten diese Bilder massive, laute Behauptungen, die vorgaben, dass wir durch die Fotografie die Welt verstehen, sie im Griff haben. Mit ihrer Grösse und Buntheit suggerierte diese Fotografie, dass sie weiss, wie die Welt läuft, dass sie die Probleme benennt und deshalb auch schon halb gelöst zu haben meint. Inzwischen jedoch trauen wir den bunten Glaubensbekennt­nissen nicht mehr. Die Euphorie der Achtziger- und Neunzigerjahre ist grosser Skepsis gewichen. Die Kunstszene und der Kunstmarkt jedenfalls haben sich still und leise von der Fotografie abgewandt. Man wird wohl sagen müssen: Ziel erreicht, aber leider etwas spät. Das Kernpublikum ist schon woanders.

Die paradoxe Pirouette jedoch dreht noch weiter. Ja, die Fotografie ist als Kunst akzeptiert. Doch nicht ganz. Nicht DIE FOTOGRAFIE ist als Kunst akzeptiert, sondern nur ein Teil davon. Derjenige Teil nämlich, der Kunst sein will, und derjenige Teil, der als Kunst akzeptiert wird. Das ist nicht immer deckungsgleich. Vorallem aber: Zusammengerech­net sind das maximal ein Prozent der weltweiten fotografischen Produktion. Und was ist mit der Restmenge, den 99 Prozent? Was tun wir damit? Vergessen wir sie einfach, werfen wir sie weg, löschen wir sie nach Gebrauch? Schliessen wir die Tore der Museen vor dieser Fotografie? Zum Beispiel der Wissenschaftsfotografie, Pressefotografie, Polizeifotografie, Medizinfotografie, Industriefotografie, Familienfotografie, Werbefotografie und, neuer, der Webcamfotografie, computergenerierten Fotografie, der Schnellkommunikations­fotografie? Die Liste lässt sich endlos fortsetzen, weil Fotografie nach wie vor in jeder Ecke der Welt für jeden nur vorstellbaren Zweck eingesetzt wird. Einst analog und heute digital. Einst stillstehend und heute mit einem Klick auch kurzbewegt.

Diese Felder von funktionalen Fotografien, mit ihren je eigenen Gesetzmässigkeiten, landen nach dem Gebrauch, meist unbeachtet, in einem Archiv oder auf dem Datenfriedhof. Dabei finden sich darin höchst erstaunliche, wichtige visuelle Erzeugnisse, die es, zumindest teilweise, wert sind betrachtet, gesammelt, archiviert und diskutiert zu werden. Ketzerisch gefragt: Sind in diesen 99 Prozent nicht oft die wichtigeren visuellen Zeugnisse der Welt und ihrer Geschichte enthalten als im einen Prozent der Kunstfotografie? Sind diese 99 Prozent nicht quasi die visuelle Soziologie der Menschen in all ihren Tätigkeiten, ihrem Erfinden und Entwickeln, Schaffen und Handeln, Konsumieren und Wegwerfen, ihrer Ereignisse, der privaten und öffentlichen, kleinen und grossen? Auch eine Selbstspiegelung der neuen Machtverhältnisse im visuellen Dokumentieren der Welt?

Letzte Drehung mit Schraube: Von solchen Fotografien sollen seit 2012 jedes Jahr mehr geknipst oder geklickt worden sein, als in der gesamten Fotogeschichte, also die letzten rund 180 Jahre zusammengezählt. Eine fast unvorstellbare Masse von technisch erzeugten Bildern, Milliarden, Billionen, Trillionen, die geschossen, gefiltert, hochgeladen, geliked, geteilt oder gelöscht werden, auf den Social-Media-Kanälen verbreitet, in einer unglaublichen Geschwindigkeit, meist wortlos oder nur mit einer Zeile Text versehen. «Who cares», sagen meine jugendlichen Bekannten, «ich sehe diese Quantitäten ja gar nicht, ich leide auch nicht darunter.» Und während des Redens schieben sie Fotos rüber, und erhalten als Antwort: ein Emoji oder zwei, oder drei oder zehn und mehr. Neue Studien besagen, dass Jugendliche heute schon fast 50 Prozent ihrer Kommunikation mit Bildern leisten, die sie auf WhatsApp, Snapchat, Instagram, Facebook etc. verschicken. «Bilder sind die neuen Worte», schreibt die James-Studie der ZHAW. Bilder, besonders elektronisch erstellte und verbreitete Fotografien und Kleinvideos, wandeln sich gerade eben in Windeseile, in Netzeseile zu einer neuen Form von Volkssprache.

Was bedeutet das für die Fotografie? Was bedeutet das für unsere Kommunikation, für unser Verständnis der Welt? Wir wissen: Bilder erschaffen durch ihr Bild die Welt, an die wir uns erinnern werden. Die Fotografie, auch diese 99 Prozent, diese sogenannt abbildende, berichtende, wiedergebende Fotografie erzählt und dokumentiert nicht nur, sie generiert gleichsam die Vorstellung unserer Welt. Sie prägt unsere zukünftigen Bildwelten, unsere Weltbilder und damit auch unsere Handlungsweisen. Das ist seit Beginn der Fotografie so, weil die präzise, das heisst die optisch-physikalisch-chemische Wiedergabe der Wirklichkeit gleichsam mit erhöhter Glaubwürdigkeit ausgestattet worden ist, in einer, seit dem 19. Jahrhundert, «gottlos» werdenden Welt. Die Dingbilder versprechen Halt und Sicherheit, sie formen eine diesseitige visuelle Ordnung der Wirklichkeit. Das hat sich auch durch die Digitalisierung erstaunlicherweise kaum geändert, im Gegenteil. Seit wir in ein neues,  vernetztes, algorithmisch gesteuertes Zeitalter eingetreten sind, hat sich der Druck der Bilder auf die Welt klar verstärkt.

Doch diese Bilder sind, wie die Semiotiker sagen, schwach codiert. Sie sind nicht einfach «dingfest» zu machen, das heisst sie sind nicht so einfach und nicht so eindeutig zu verstehen. Sie sind offen und vieldeutig, gleichzeitig aber oft irritierend präsent. Genau darin liegt ihre Kraft. Die Werbung weiss präzise, dass sie mit intensiver Wiederholung von bestimmten Bildern unsere Wahrnehmung beeinflussen und unsere Urteilskraft schwächen oder umlenken kann. Wir haben offenbar unbewusstes Vertrauen in etwas, das wir gar nicht so genau kennen, das weit weniger präzise als Sprache strukturiert ist, das aber tiefen, anhaltenden Einfluss auf uns nehmen kann.

Erstaunlicherweise werden Bilder und ihre Wirkungsweisen aber bislang nur wenig reflektiert, zumindest nicht in ausreichender Tiefe und struktureller Grundsätzlichkeit, nicht in der Breite, die der gegenwärtigen Bild-Inflation angemessen wäre. Eine Erziehung zum Bildverständnis, zur Bildsprache, einen Einführung in die beschreibenden (denotativen) und einwirkenden (konnotativen) Bildeffekte, in die Kommuni­kation und Manipulation mit Bildern findet einzig an ausgewählten Orten statt, kaum im allgemeinen Bildungssystem. Wir stehen vor der Situation, dass wir täglich intensive visuelle Konsumenten, aber letztlich doch Analphabeten des Bildes sind. So lange Sprache dominant und Bilder erfreuliche Nebensache waren, spielte das keine grosse Rolle. Doch für die Welt von heute und morgen brauchen wir, so denke ich, deutlich mehr Bildkompetenz, mehr Netzkompetenz! Sonst wird unser Bild der Welt, werden unsere Erinnerung, und unser Handeln zunehmend von  den visuellen Strategien intelligenter Algorithmen durchwirkt und gesteuert.