2009  /  Pernilla Zettermann: Behave (Hatje Cantz)

Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit?

English Version: Freedom as an Insight into Necessity →
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„My Night Guard“ (Meine Nachtwache) zeigt weder eine Bürgerwehr im 17. Jahrhundert unter der Leitung des Kompanie-Hauptmanns Frans Banning Cocq, wie Rembrandt sie auf seinem wohl berühmtesten Gemälde in Szene gesetzt hat, noch die permanente elektronische Überwachung und umfassende Vernetzung, wie der Amerikaner Lewis Baltz sie in seiner neuartigen zeitgenössischen Historienfoto­grafie „Ronde de nuit“ zu einem 12-teiligen und 12 Meter langen Wandbild zusammengestellt hat, doch die Richtung von einer äusseren zu einer inneren, zu einer durchdringenden Wache stimmt: Pernilla Zetterman beginnt ihr Buch „Behave“ mit dem Bild ihres nächtlichen Zahnhalters, der die Übertragung innerer Unruhe auf die Kaubewegungen der Zähne verhindern soll. Man ist angesichts dieses Instruments versucht, einen Wandel von der Wache vor dem Haus zu jener im Haus – begleitet von einer tiefgreifenden Ordnung des eigenen Inneren, der Fusion von individualphysischen und -psychischen Kontrollmechanismen – festzustellen, wenn das nicht etwas gar schnell und leichtfüssig argumentiert wäre. Doch da ist auch dieses besondere Licht, das die Szene oder genauer das Ding selbst aus dunkler Umgebung magisch erstrahlen lässt. „Fotografisches 17. Jahrhundert“ fällt dazu als para­doxe Zuspitzung ein. Pernilla Zetterman fotografiert den Zahnhalter mit einer Lichtfüh­rung, wie sie Rembrandt und Caravaggio angewandt haben. Die Dinge leuchten aus dem Dunklen und erstrahlen aus sich selbst. Das verleiht ihnen eine unerhörte Magie. Zetterman fotografiert also in bester Tabletop-Fotografie-Manier und lässt den Gegen­stand erstrahlen, als sei er der neue Audi Quattro, der Gral zur Körperstabilität oder der Schlüssel zum Unbewussten. Die blaue Tönung verleiht ihm eine Kühle, wie wir sie heute nur aus der Werbung und der Überwachung kennen. Der Zahnhalter wird so, höchst ambivalent, zum „inneren“ Huf und zum glitzernden Kristall gleichzeitig.

Nach dem Umblättern folgt links eine schwarze Seite und rechts ein zweites Foto: Eine Figur, sitzend, hell gekleidet, von der Seite her fotografiert, von der Kamera so knapp, ja fast verletzend beschnitten, dass weder der Kopf noch die Unterschenkel und Füsse zu sehen sind. Dafür fällt die Aufmerksamkeit sofort auf die Verschränkung der Arme und die Verknüpfung der überlangen Ärmel auf dem Rücken. Ganz so, wie die Bilder, die wir aus der Psychiatrie kennen, wenn ein Patient beruhigt und still gestellt werden soll. Die Figur ist gebunden. Zugleich aber wirkt sie nicht gewunden, sondern sitzt fast schulmäs­sig aufrecht da. Streng, klösterlich, in frische weisse Baumwolle gekleidet. Und sie scheint im Titel  „Yes“ zu sagen. Man ist versucht, ein Ausrufezeichen anzufügen, denn hier scheint sich jemand zu einem „Yes!“ durchgerungen und es mit kasteiender Be­stimmt­heit formuliert zu haben. Wie der Zahnhalter so ist auch dieses Bild ambivalent in seiner Bedeutung, es verbindet und verkehrt äusseren Zwang und inneren Druck, die Freiheit der Entscheidung und die Einsicht in die Notwendigkeit.

Beide Bilder sind gleichzeitig reduziert und symbolisierend angelegt, und steigern sich so zu Leitbildern für das gesamte Buch. Sie schlagen das Thema an, das die nächsten Bilder in einer konzentrierten Bilderzählung ausformulieren. Sie formulieren die Grundregeln, nach denen im Folgenden gelebt wird. Sie sind wie Türsteher für das Buch, erste Verbildlichungen des Titels „Behave“. Erst im Schlussteil des Buches, in der Arbeit „Ground Rules“, wird diese Bildsprache, die Gegenstände aus dem Kontext schält,  wieder eingesetzt.

            Nach diesem kurzen Auftakt „mit Pauken und Trompeten“ wechselt die Atmosphäre. Es wird heller, ruhiger, bedächtiger, alltäglicher, so scheint es. Dennoch, das unspektakuläre Bild „My Grandmother’s photograph“ scheint nochmals Grundsätzliches sagen zu wollen. Wir schauen von hinten an das Foto, sehen, wie feinsäuberlich es ge­rahmt ist. Mit je zwei Klammern auf jeder Seite werden Fotografie und Abdeckglas gehalten. Ein ausklappbarer Steller hält das Foto in der gewünschten Schwebe, so dass das Bild einen immer anschaut. Wir sehen jedoch nicht das Bild, nicht das Gezeigte, die Bühne des Lebens, vielmehr schauen wir von hinten drauf, sehen den Hintergrund, die Konstruktion der Bühne, einige Requisiten, Merkmale, einige Gerüste des Lebens. Bei Giotto di Bondones Fresken in der Basilica San Francesco in Assisi schauen wir in dieser Weise von hinten auf das Kreuz Christi, auf seine Aufhängung, seine Konstruktion. Wiede­rum spielt Pernilla Zetterman mit dem Thema der Ambivalenz, dieses Mal als Hinweis für uns Betrachter und Betrachterinnen mit der Ambivalenz von Sehen und Nichtsehen. Danach folgt das Triptychon „Everything is fine“, drei Fotografien, die sich in kargem Setting auf drei Bein- und Fusspaare konzentrieren: Stuhlbeine, Füsse, Fuss­bo­den. Man ist versucht zu sagen: nackte Stuhlbeine, nackter Fussboden mit nackten Füssen. Als ginge es um ein Lehrstück von Bertold Brecht, so werden drei Generationen vorgezeigt, wie sich ihre Art, mit den Füssen eine Faust machen zu wollen, also die Zehen einzurollen und sich so offenbar zu kontrollieren, zu benehmen, von Generation zu Generation fortsetzt. Das Bild einer Determination, die sich beinahe als genetische Vererbung (miss)verstehen lässt.

Dann der helle Umschlag auf einer nur leicht dunkleren Fläche, ein nie gezeigtes Foto, wie der Titel uns sagt; weiter ein zerknülltes Papier auf heller Unterlage; ein ordent­licher Stapel geöffneter Briefumschläge (die Ruhe des Bildes wird durch die scharfen Zacken der mit dem Finger geöffneten Umschläge gestört); der Blick aus dem Fenster, durch eine gewaschene, aufgehängte, mit Klammer befestigte und noch nasse transpa­rente Plastiktüte hindurch. Ein ebenso poetisches wie beengendes Bild, eine Sicht nach Draussen, eine Aussicht, die sich gleich wieder von innen her zu verschliessen droht. Danach Mutters Handtasche, eine dunkle Tasche, auf den Boden gestellt, aus der unzählige zerknäulte Papierchen quellen; ein weisser Mehrfachstecker mit Kabel, mit Faden zusammen gebunden, und schliesslich das Bild perfekt gebügelter und minutiös im Schrank gestapelter Laken. Ein helles, ein feierliches Bild mit der Wiedergabe ein­gestickter Monogramme, ein Bild, das von grosser Reinheit zu erzählen scheint, vom Versuch, die Jungfräulichkeit, die Reinheit über die Jahre des Lebens zu erhalten – wenn auch nur über die an der Sonne getrocknete sorgfältig gebügelte Bettwäsche.

            Diese Fotografien sprechen zusammen genommen von Ordnung und Ordnungs­versuchen, von Kontrolle und Beherrschung als Lebensprinzip. Es zieht sich ein unsicht­bares Lineal durch diese Bilder, das nicht nur die Dinge zu ordnen scheint, sondern auch immer den Rücken hinauf und wieder hinunter fährt, als erschaudernde Erinnerung, als Mahnung, dass wir immer aufrecht durchs Leben gehen sollen, aufrecht, mit geradem Rücken, zielorien­tiert und zielsicher, und dass wir das Haus nie unordentlich verlassen. Diese Fotografien scheinen von dem Teil von Identität zu reden, den wir Konditionierung nennen: die verordnete Identität, die sich einprägt wie eine Narbe, die Formatierung, die wir in der Kindheit durchlaufen, um dann als Erwachsene zu bestehen oder zu verzweifeln. Das Leben: Geputzt, geboh­nert, gekämmt und gefaltet, ausser es wehrt sich. Im Glanz des Parketts spiegelt sich das Rigide des Lebens.

            In den folgenden Bildern öffnet sich der Bildraum, er scheint sich zu dehnen, scheint Aussicht zu erlauben. Als würde er um den Faktor Zeit erweitert. Die angefaulte Bananenschale auf hell gemusterter Tischdecke, später die beiden Bilder eines verfaulenden Apfels sind zwar weiterhin im reduzierten Bildraum fotografiert, zeigen eine einzelne Frucht auf einer Fläche, heben die Zeit durch Spuren des Verfallens hervor. Zwei Blicke hingegen führen an Topfpflanzen und Vorhängen vorbei in die Weite, durchs Fenster hindurch in ein wehmütig erfahrenes Vergehen der Zeit: Sich verfärbender China­kohl in einem durchsichtigen Gemüsefach; ein vertrockneter Blumenstrauss, streng gebunden, als warte er noch immer auf die Übergabe als Geschenk; Gebrauchsspuren am und unter­halb des Türschlosses, auch an der Duschkabine, an welcher der Zahn der Zeit nagt; das monochrom blaue Bild eines gerippten Abwaschlappens; das Triptychon der weissen, feinen Frauenbäuche (Grossmutter, Mutter, Tochter), das Verwandt­schaft wie Älterwerden symbolisiert. Alle diese Fotografien thematisieren ebenfalls Zeit, verbildlichen die Wandlung in der Zeit, das Vergehen, folgen aufmerksam und vorsichtig zugleich seinen Spuren. Dazwischen gibt es weiterhin Zeichen für Ordnung und Klarheit - gestapelte Zeitungen, gestapelte Fotografien, gestapelte Fotoschachteln -, die nun, im Laufe des Bilderlesens, der Abfolge der Fotografien, etwas Zwanghaftes kriegen, als würde geordnet, verpackt und wegge­räumt, um der Zeit entgegenzutreten, um den Lauf der Dinge aufzuhalten – oder die zumindest als Teil eines dichten, unablässigen Selbstvergewisserungs­systems zu lesen sind. Ein letztes Bild, aufgenommen in dunklem Licht, den Blick auf den regennassen Asphalt gerichtet, den ein schwarzer Riss wie eine bedeutsame Handlinie überzieht, wirft einen düsteren Schatten auf die zuvor gesehenen Bilder, auf die darin abgebildeten Ver­hal­tensweisen, scheint Abgründe verdeutlichen zu wollen, die sich in der Reihe der Bilder nur sehr fein und hell und fast unmerklich manifestieren: „My everyday walk“, der Titel entschärft das Bild durch die Betonung auf das Alltägliche und verschärft es durch den Hinweis: All das geschieht täglich. Keine Pause, kein Ausweichen ist möglich.

            Anschliessend folgt eine Reihe von Bildern, die man am besten als Suite bezeichnet, als kurze in sich geschlossene Form. Die Fotografien sind wiederum so reduziert wie ganz zu Beginn des Buches, zudem erscheinen sie meist als ein Bilderpaar: Zwei Arme und Hände, zur Faust geballt die eine, offen die andere; die weissen Linien, die langsam aus der Erinnerung, der Zeit, dem Schnee aufzutauchen scheinen, sich in der Folge als Leichtathletikbahnen manifestieren. Weiss auf Rot, Farbe auf Tartanbahn. Auseinanderstrebende und aufeinander zulaufende Bahnen. Die Bildpaare sind bewusst gesetzt, konstruiert, wollen wohl von Freiheit und Zwang, von Liebe und Hass, von Zucht und Leistung erzählen, dazwischen zwei (Selbst)Porträts, Pernilla Zetterman in der Hal­tung der eisern Trainierenden, die das Ziel immer vor Augen hat. Diese Bildersuite nennt Pernilla Zetterman, wie gesagt, „Ground Rules“, und sie wirkt auch wie ein Alphabet, eine Reihe von Grundregeln, die zu befolgen sind, will man weiterkommen, sich überwinden, will man siegen. Zuletzt jedoch verlieren sich die Linien, tanzen aus der Reihe oder formen ein Herz. Sie verselbstständigen sich – die Fesseln lösen sich, der Käfig öffnet sich, die Linien sind nun abstrakt und formen Möglichkeiten.

            Pernilla Zetterman operiert mit einer Kamera, die den Sucher verengt, die ein­zelnen Gegenstände so deutlich aus dem Kontinuum der sichtbaren Welt heraus­schält, dass die Bilder bisweilen fast konstruiert, inszeniert, teilchoreographiert wirken. Jedenfalls sucht sich der Blick die Dinge heraus, die eine bestimmte Bedeutung haben, ordnet sie so, dass sie verhalten zu sprechen beginnen. Jedoch nie so laut und bestimmt, dass sich das Sichtbare erschöpft, dass wir hinter diesen einsehbaren Zeichen keine tiefe, vielleicht letztlich unergründliche Welt aus Bestimmung, Selbstbestimmung, Vererbung, Konditionierung usw. mehr vermuten. Diesen visuellen Kleinchoreographien stellt die Künstlerin Bilder voran und nach, die weit symbolischer angelegt sind, die wie Strassenlaternen den Weg weisen, die Richtung bestimmen, das Feld abstecken und das Spiel eröffnen. Das visuelle Denkspiel um Fragen wie: wie viel Heimat, wie viel Familie ertragen / brauchen wir? Wieviel Formatierung hält die Freiheit aus, wie viele Geländer braucht unsere Freiheit, damit wir sie angstfrei geniessen können? Wieviel Benehmen ist notwendig, und wo wird es zur Last, wo krankhaft? Fragen um die Verordnung und die Wahl von Identität, um ein fragiles Verhältnis, das immer wieder neu überprüft werden muss.