2007

Gebaute Versprechen
Laurence Bonvins Fotografien von gated communities

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Disneyworld scheint das Vorbild zu sein: Ein alt wirkendes Stadttor soll den Eingang markieren und den Einlass regeln. Ein Stadttor, das an mittelalterliche Burgen und Festungsstädte erinnert, die von hohen Mauern und tiefen Burggräben umgeben und geschützt wurden, mit  - je nach Grösse und Wichtigkeit der Stadt - zwei, vier, sechs oder mehr Toren, die den Zugang und damit den Verkehr mit der Stadt regelten. Im Bild von Laurence Bonvin ist nur das Tor – zwei achteckige Türme mit Verbindungsbrücke – wieder aufgebaut worden. Die Türme dienen als Unterstand für das Wachpersonal, die Verbindungsbrücke trägt den Namen der Siedlung. Barrieren regeln den Verkehr bei Tag. Dahinter, leicht verdeckt, wird ein modernes, elektrisch gesteuertes Eisentor sichtbar. Das ist das eigentliche Wachtor, verbunden mit einer Umfassungsmauer. Sein Vorhan­den­sein verwandelt das freistehende alte Stadttor gänzlich zu Blendwerk, zur Staffage, zum Zitat mit theatralischem Symbolgehalt.  

Das Bild zeigt den Eingang in eine Scancity, eine gated community, diesen neuen Typ von Wohnsiedlungen, von residential aeras, die oft in der Nähe von grossen Städten hinter hohen Mauern und Zäunen errichtet werden. Je nach Umgebung und Standard handelt es sich um reine Wohnsiedlungen oder sie bieten, erweitert, Einkaufs- und Vergnügungsmöglichkeiten, Restau­rants, erste Hilfe usw. gleich mit an. In jedem Fall aber grenzen sie aus, schirmen sie von der Aussenwelt ab, wollen sich ihre Bewohner vor Zugriffen schützen. Jeder Eintretende wird gescannt: Wer dazu gehört und sich ausweist, darf hinein, wer ohne ausreichenden Grund Zugang will, wird abgewiesen. Nachts werden die Umfassungszäune von aussen beleuchtet. Es sind Resorts für Wohlhabende, die sich gegen den gedanklichen und kriminalisierten Neid anderer schützen. Selbstverordnete, goldene Gefängnisse der Ähnlich-Denkenden, Ähnlich-sich-Verhaltenden und Ähnlich-Verdienenden, die das ambivalente Bild von Freiheit und Gefangenheit, von Individualismus und Konformität vermitteln.

Vorbild dieser neuen Siedlungsform sind die Retortenstädte, die in den siebziger Jahren in den USA entstanden sind. Siedlungen, die im weiten offenen Land aus dem Boden gestampft wurden und die einst leere Landschaft in ein besetztes Territorium verwandelten. Gesichtslose Residencial-Architektur, mit historisierenden Form-Anleihen gebaut. Diese Siedlungen verwandelten das Wilde und Weite der USA in einen endlosen „Vorgarten" des wohlhabenden Mittelstandes. Der amerikanische Fotograf Lewis Baltz führte in seinen Serien „Maryland" und „Park City" solche Retortenhäuser und -städte vor, wie sie die abendländische Idealstadt mit einem Zentrum und sinnhafter, hierarchisch angeordneter Struktur pragmatisch-wirtschaftlich unterlaufen. Er zeigte sie als Real-Estate-Land­schaft, die er wie ein Landvermesser abschreitet und fotografisch verbucht, eine Real-Estate-Landschaft, die Stadt und Land unter monetären Gesichtspunkten eins werden lässt.

Diese Form der Stadt- und Landschaftsentwicklung verlangte nach einer neuen Fotografie, einer topographischen Fotografie: Der Blick in dieser Fotografie ist nicht mehr von einer (Natur-)Utopie getragen (wie beispielsweise in der Fotografie von Carlton Watkins, Edward Weston, Ansel Adams oder Minor White), sondern er will möglichst utopielos untersuchen, erforschen, was mit den Städten und den Vorstädten geschieht. Die Fotografen und Künstler dieser Zeit (nebst Baltz waren das Robert Adams, Joe Deal, Stephen Shore, Frank Golke u.a., die gemeinsam in den USA als „New Topographers“ bezeichnet wurden) begannen, den Bildpurismus und die Form-Inhalt-Deckung als kritisches Instrument einzusetzen, sie ersetzten die Illusion der fotokünstlerischen Fertigkeit durch die Illusion der mechanistischen Beschreibung und zwangen derart dem Betrach­ter ihrer Fotografien, dem Subjekt der Betrachtung, eine grundsätz­lich neue Rolle auf: ohne Wahl und unsentimental den Blick auf die Welt vor uns, auf die aktuelle, gegenwär­tige Welt zu richten. In den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde das Bild der Landschaft real, das Bild holte die Realität ein, wurde unsentimental und pragmatisch dokumentarisch.

Laurence Bonvin knüpft mit ihrer urbanistischen Fotografie an diese Tradition an. Sie konzentriert sich seit Anfang der neunziger Jahre immer wieder auf städtebauliche Phänomene, besonders beschäftigt sie sich mit den Randzonen der Städte, mit den Entwicklungen ausserhalb des eigentlichen Stadtgürtels, dem Ausfransen in eine geordnete, anonyme und gesichtslose globalisierte Peripherie. Ihre neuen Arbeiten folgen den wuchernden Formen in den Vorstädten Istanbuls. Hier wie an vielen anderen Orten in Europa entwickeln sich mit Verzögerung Kopien des amerikanischen Modells. Sie werden aber nicht in die weite offene Landschaft hineingesetzt wie in den USA, sind nicht Teil des unbeschränkten Freiheits- und Individualismus-Verständnis der Amerika­ner, vielmehr kreisen sie wie kleine Monde um den Planeten, um die Mutterstadt, und deuten das alte Modell der europäischen oder orientalischen Stadt um: Die Stadtmauern boten einst allen Schutz gegen fremde Mächte, auch gegen die Unbill von Naturmächten, sie verspra­chen Geborgenheit in der Gemeinsamkeit, verlangten im Gegensatz aber, der Enge des Zusammenlebens entsprechend, ein soziales, geordnetes, gemeinschaftliches Verhalten. Die neuen, blutleeren Residencial Aeras versprechen dies nur noch für die Schicht der Wohlhabenden. Vor allem jedoch bieten sie Schutz innerhalb und gegen die eigene Gesellschaft: sie sind gebaute Zeichen einer Entsozialisierung und Entsolidarisierung.

Laurence Bonvins Farbfotografien thematisieren die damit verbundenen ambivalenten Situationen und Strukturen in dokumentarisch angelegten und präzis gesetzten Settings. Ein paar Beispiele: Im Vordergrund eine Strasse, dahinter eine sich schräg nach oben ziehende Beton­mauer, darüber verbergen hoch gemauerte Flusssteine die Sicht auf das Anwesen, erst weit oben am Bildrand erblicken wir den Giebel eines Hauses. Das Bild visualisiert die Polarität von Mauern, die sowohl schützen wie einmauern. Beispiel 2: Im Vordergrund ein ummauertes Anwesen, dahinter, in der Flucht, eine Strasse, die übers weite Land führt. Ein kleines Mädchen im Schwimm­dress und mit Puppe steht alleine und einsam wirkend im Gegenlicht in der Einfahrtszone. Das Tor zum Anwesen wird zum Visier für die Landschaft, bestimmt und richtet das Schauen und Denken, erzeugt ein trennendes Hier und Dort. Beispiel 3: Ein gekiester Gehweg, der sich mangels Land am Ende des Terrains wie ein Rundlauf um 180 Grad dreht und wohl zurück zu den Häusern führt. Statt Auslauf in die Natur wird hier ein Rundlauf im geschlossenen, bewachten Areal gezeigt, mit Beleuchtung fürs abendliche Walking. Beispiel 4: Eine Nachtaufnahme vor einem Einfamilienhaus: links das Haus mit verglaster Verandatür, in der Mitte ein gekachelter Boden zum nicht sichtbaren Swimmingpool auf der rechten Seite hin, dahinter reiner, gepflegter Rasen mit Bäumchen und Büschen, die mit Bedacht gepflanzt sind. Die Gartenbeleuchtung vor gemauerter Umfassung mischt sich mit den strahlenden Strassenlaternen auf dem ansteigenden Hügel im Hintergrund. Licht spielt hier den Part der Kontrolle, Licht zeigt sich als Instrument der Macht. Schliesslich das fünfte Bildbeispiel, das Villen zeigt, die sich in Reih und Glied über den Hang und das Bildgeviert erstrecken. Jede Villa gleicht der anderen wie ein Guss dem andern, jeder Swimmingpool strahlt türkisblau sein Versprechen von eingefasster Freiheit in den Himmel. Das Ausleben des Individualismus reibt sich hier sichtbar an der Uniformität der Baustruktur.

Die Ambivalenz der „gated communities“ manifestiert sich am deutlichsten, wenn weder Mauer noch Zaun, sondern erst ein darüber ausgerollter Stacheldraht (wie um Gefängnisse oder Militärcamps herum) verbunden mit Suchlicht und Wachhäuschen als Schutz zu genügen scheinen. In diesem Bild von Laurence Bonvin wird das Resort zum Gefängnis: das gebaute Versprechen ins Paradies entpuppt sich als Sackgasse.

Laurence Bonvin entwickelt Bild für Bild eine ruhige, unspektakuläre Erzählung über diese neuen Formen des Wohnens. Ihre Stadtlandschaftsbilder muten dabei wie Stillleben an: Eingangstor mit Kind, Blick über die Landschaft mit Swimmingpool, strickende Frau im Backyard, Parkanlage mit Videoüberwachung, Zwergbäumchen mit Wasserfall im alpinen Steingarten. Feinsäuberlich geordnete Situationen, die wenig belebt, ja eingefroren wirken, die Menschen, meist dem Betrachter abgewandt, erscheinen abwesend in ihrer Präsenz. Die Wohnanlagen setzen sich mit grossem Effort und raffinierter Künstlichkeit von der sie umgebenden wuchernden Natur ab –  und verbreiten in ihren bühnenbildhaft gebauten und von Bonvin fotografierten Situatio­nen vornehmlich ein Gefühl der Leere. Es handelt sich um willentlich geformte und gestaltete Communities, doch sie werden kaum je das Leben einer Stadt, einer Kleinstadt erzeugen können. Sie bleiben Konstrukte, die sich in ihrer Mischung aus Für und Wider – für die Freiheit, den Wohlstand, die Privatheit, wider die Neugier, den Neid, den Angriff der weniger Bemittelten – verkrampfen. Das Sichtbarmachen dieser Lähmung, dieser Starre, das Fragmentieren des Gesell­schaft­lichen durch die Wohnformen, mit all ihren möglichen sozialen und psychologischen Konsequenzen, erweist sich als Leitfaden der ruhigen, präzisen Bildererzählung von Laurence Bonvin.