Dezember 2009  /  Du 802

Gelebte Abstraktion

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Nanna Hänninen: Airport of Ponta Delgada (Azoren), 2005, 110 × 140 cm, Digital C-Print hinter Plexiglas (Diasec)

Die letzten drei, vier Jahre brachten unverhofft abstrahierende, abstrakte Fotografie ans Licht. Jahrzehntelang fristete sie ein Schattendasein, wurde belächelt, allenfalls vom engen Kreis der generativen Fotografen diskutiert. Der Überschwang an berichtender, anklagender, ironischer, sarkastischer Fotografie fegte alles hinweg, was weniger zugreifend, zuspitzend, weniger realitätsvortäuschend daherkam. Doch plötzlich ruhen unsere Augen auch auf ausgedehnten Farbflächen, fliessenden Farbverläufen, monochromen Farbfeldern, als sei das Fotopapier gerade eben aus einem Farbtopf geschöpft worden. Bildsituationen rollen sich vor uns aus, die für immer an die Malerei delegiert schienen - beim tagebuchartigen Lebensarchivar Wolfgang Tillmans ebenso wie bei der abbildungskritischen Ornamentalistin Shirana Shahbazi. 

Die Finnin Nanna Hänninen lenkte ihren Blick immer schon auf eine ruhige, überschaubare Innenwelt, auf die sparsame Situation eines White Cube, eine Weiss in Weiss gehaltene Studiowelt, die den reduzierten Hintergrund für konzentrierte kleine, minimale Interventionen bildet. Darin setzte sie kontrolliert Element für Element, Gegenstand für Gegenstand ins karge Setting: zum Beispiel weisse Federbälle, die zusammen mit ihren schwarzen Gummikugeln, Augäpfeln ähnlich, von Konzentration und Auflösung, von Federleichtigkeit und Erdenschwere sprechen; oder dünne Zahnstocher aus hellem Holz, eng aneinan­dergefügt und zu spitzen, fast abweisenden Staketenzäunen montiert. Sie formulierte ihre Bildspiele so dicht am Nullpunkt des fotografischen Bildes, dass die Vermutung nahe lag, ihre geschlossenen Räume würden eines Tages aufgebrochen, ihr Blick auch wieder nach draussen fallen.  

Der gewählte Ausweg jedoch überrascht: Nanna Hänninen steht im Bild nebenan tatsächlich wieder draussen und blickt in die Welt hinaus. Sie fotografiert an benennbaren geografischen Orten: bei der Brooklyn Bridge in New York,  am Hafen von Helsinki, auf der Autobahn A5 und am Flughafen von Ponta Delgada auf den Azoren. Sie ist da, konkret in der Welt, unterwegs oder still beobachtend, und zeichnet seismographisch genau auf –  aber die Bildresultate muten abstrakter denn je an. Was geht hier vor? Die Künstlerin stellt ihre schwere Grossformatkamera nicht, wie das dem Gewicht und der Grösse einer 4x5inch-Plattenkamera angemessen wäre, auf ein Stativ, vielmehr hält sie sie in ihren Händen, sie stellt sie also nicht still, sondern setzt sie bewusst Schwingungen aus. Mit dieser Haltung fotografiert sie das Wechselspiel zwischen den Bewegungen draussen und drinnen, zwischen der Realität vor ihren Augen und ihren eigenen inneren Regungen, ihrem Atmen und Lachen, ihrem Innehalten. Der Herzschlag der Welt und der Herzschlag von Nanna Hänninen mischen sich im Brennpunkt der Kamera. Das Fluidum der Welt und das Fluidum ihres Lebens treffen sich, fällen aus, schlagen sich wie chemischer Niederschlag auf dem Film nieder. Als Spur, als Erinnerung, als Protokoll von Ereignissen und ihrem Aufeinandertreffen. 

Wir begegnen also höchst abstrakten Fotografien, die mit ungreifbaren, halbdurch­scheinen­den Hintergründen und zeichnerischen Wellenbewegungen – springende oder knäuelnde Linien, verlaufende Farbflächen oder überlagernde Farbcluster – auf die Malerei des Informel verweisen, auf das ungenormte, pulsierende (Aus-)Fliessen der Farbe in den fünfziger Jahren. Fotografien, die aber auch an die Welt der Apparate und Messgeräte, an Kurvenverläufe erinnern, an Aufzeichnungen von Erdbeben, Herzstössen, von Blutdruck oder Druckwellenverläufen. Gelassene Linien lesen sich wie das Kartographie von Landschaft, wie die präzisen, mal geschwungenen, mal kantiger verlaufenden Höhenlinien. Auf der Autobahn wiederum türmen sich Linien zu dichten Bündeln. Die schnelle Bewegung vorwärts ergibt je nach Geschwindigkeit ein Stocken, ein explosives Aufladen der Energien, als würden wir in einen aufschäumenden Farbenberg hinein rasen. Die Perspektive scheint zu implodieren, sich selbst überholen zu wollen. 

Nanna Hänninen wird auf ihrem Weg in die Welt hinaus also scheinbar noch abstrakter, reduzierter als vorher. Sie legt ein visuelles Protokoll vor, das hochabstrakt wirkt, jedoch von konkreten Ereignissen, von Zusammentreffen geradezu aufgeladen ist. Die Linien erscheinen künstlich-fiktiv und sind doch reale Spur, konkreter Niederschlag. Das Bild wird nicht ruhig gestellt, wie Fotografie es meist versucht, vielmehr atmet es mit ihr, wird gezogen, verwischt, als ziehe sie der kontinuierlichen Welt ein Bild ab. Es entsteht so eine Fotografie, die zugleich von der Welt und von Nanna erzählt, die abstrakt, entrückt und gleichzeitig merkwürdig konkret und real ist. Das, was jeder Fotografie inhärent ist, doch meist mit grossem Aufwand, mit der Brillanz und Schärfe des Bildes zum Vergessen gebracht wird, wird hier zum Werkzeug, um verschiedene Schnittstellen zu visualisieren: jene zwischen Bildträger und Bildinformation, zwischen realer Welt und ihrem (mathematischen, musikalischen, analogen und digitalen) Bild, zwischen Abstraktion und Figuration, zwischen Subjekt und Objekt.

Nanna Hänninen löst in diesen Visualisierungen die alte philosophische Frage, ob die Wand auf den Finger oder der Finger auf die Wand drückt, auf ihre Weise auf: Sie führt uns die Welt als Zusammentreffen, als Kollisionen von Energiefeldern vor, als permanente, unauf­hebbare und wechselseitige Verwicklungen zwischen dem Ich und der Welt – auch zwischen dem Betrachter und dem Werk. Verlässliche Standpunkte sind fortan jene, die in Bewegung sind. Aus Statik wird Dynamik. Das Ahnen, Erspüren setzt sich zum Wissen, das Erfahren zum Denken dazu.  Aus Denkbildern werden nun auch Erfahrungsbilder, die uns – in der Form von gelebter Abstraktion – von der Fragilität des Zusammenspiels und von seiner Permanenz, seiner Unausweichlichkeit zu erzählen scheinen.