1997  /  Berge versetzen - Girolas Kraftwerke in den Alpen

Girola (Vorwort)

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Erste Zulieferwege, die hoch in die Berge führen, werden aus dem Felsen gesprengt. Schienen oder Schotterstrassen angelegt, Barackensiedlungen erstellt. Dann werden Schächte, Tunnelnetze für die Druckleitungen durch den Berg gebohrt und gleichzeitig Fundamente gelegt und gewagte Eisengerüste für den Dammbau hochgezogen. Stein um Stein wird, in Tages- und Nachtschichten, aufgeschichtet, das Tal aufgeschüttet, eine Sperre hochgezogen - und schliesslich, in der Nähe des Dammes oder weit unten im Tal, die Zentrale errichtet. 

Die fotografischen Aufsichten von Paoletti breiten Arbeitsfelder von biblischer Bildkraft aus. Fundamentierungen wirken wie der Auszug aus Aegypten, Dammbauten erinnern an den Turmbau zu Babel. Seine An- und Durchsichten, durch die Gerüststrukturen hindurch auf die Baustelle, zeigen industrielle Daedalusse und Ikarusse in schwindelerregender, luftiger Höhe, weit vorgewagt und nahe dem Absturz. Den Tod zeigen die Fotos nicht, nicht die Toten, die jede Grossbaustelle im Gebirge fordert. Die Aufsichten zeigen zuletzt auch stolz das Erreichte, den fertigen Damm, die geometrisch geschwungene Linie, welche sowohl die Natur als auch die Zeit teilt: Vor der konstruiert reinen, unbewegten Wasserfläche und dem makellosen Bauwerk werden die Baustellen-Reste zum Bastellager, zur Bricolage erklärt (kaum noch vorstellbar, dass mit diesen primitiv erscheinenden Mitteln diese Erhöhung möglich war), wird das Organische zum Unruhigen, zum Schmutzigen verwandelt. Das zeitliche Kontinuum ist gestört, ist historisch geworden: vor und nach dem Dammbau. Die Dörfer sind hier noch klein, sind nur Weiler, die im Wasser verschwinden. Auf der einen Seite verschwindet die Geschichte in der Vollendung, auf der anderen bleiben die Erzählungen noch eine Weile lang an den Spuren der Eingriffe haften. Die faszinierenden Blicke durch die Gerüste schlagen das Thema an: das Sehen und das Gesehene wird geometrisiert - Natur ist nun für immer gerichtete, gezeichnete, 'vektorielle' Landschaft.

Die Fotografien erinnern an Bibel und Mythologie, weil sie selbst und die abgebildeten Bauten historisch sind. Nicht weil Paoletti die Szenen stark überhöht wiedergegeben hätte. Als industrieller Auftragsfotograf der zwanziger, dreissiger und vierziger Jahre ist er dem sachlichen, detailreichen Dokumentieren verpflichtet. Die Wahl der Plattenkamera unterstreicht das. Nur selten dynamisiert er die Szene durch eine steile Aufsicht, meist wählt er eine 'Normalsicht'. Diese Normalsicht, diese nüchterne Sachlichkeit ist sehr gekonnt eingesetzt - vielleicht musste er sich mit seinem Stativ manchmal sehr hoch oder sehr weit hinauswagen, um dieses Normale zu erreichen -, aber sie hatte der Vorstellung der industriellen Machbarkeit zu entsprechen. Das war damals die Bedeutung der Repräsentation. Das Bild der vielen Eisenstreben, Schienen, Holzplanken, Wägelchen und der ameisenhaft arbeitenden Menschen wirkt nur wenige Jahrzehnte später (und angesichts des grossen Fortschritts in der Bautechnik) nicht mehr pragmatisch-sachlich-souverän, sondern symbolisch aufgeladen. Umgekehrt freuen wir uns heute an der Einbettung dieser Stauseen in die Landschaft, erleben sie, romantisch verklärend, als Verschmelzung von Natur und Zivilisation, weil wir grössere, gewaltigere Eingriffe gewohnt sind, und wir vergessen dabei, dass die wiedergegebenen Errungenschaften auf der Höhe der Zeit waren, dass die Sachlichkeit also auch Gewagtes, Ungeheures offenbarte.

Paoletti - und vor und nach ihm andere - hat für die Impresa Umberto Girola aus Domodossola alles minutiös aufgezeichnet, die Baustellen fast fotografisch inventarisiert. Daten lassen darauf schliessen, dass er sie regelmässig, manchmal monatlich besucht und Maschinenpark, Verkehrsnetz, Gerüste, das Fortschreiten der Baustelle, einige Ereignisse (Besuch der Bauherrschaft, Besuch des Duce, Richtfest, heilige Messe) und schliesslich die Zentralen, Turbinenhallen, Transformatoren und  Strommasten dokumentiert hat. Die Bilder wurden dann in grosse rotbraune Alben eingeklebt. Das zeigt das symbolische Gewicht des Dokumentierens und weist dieses gleichzeitig als stolzes Repräsentieren, als Firmenrepräsentanz aus: Das sind wir, das haben wir gebaut, und das sind wir fähig zu leisten. Diese repräsentative Bedeutung hat sich verändert, seit die Firma Girola im Grosskonzern Impregilo aufgegangen ist. Immerhin wurden die Fotografien nicht fortgeworfen worden, wie das allerorten in Firmen bei entscheidenden Strukturwandeln geschieht, vielmehr wurden sie mit grosser Zuvorkommenheit für dieses Buch und für die Ausstellung zur Verfügung gestellt. Unser Bestreben wiederum war es nun nicht, diese Firmenrepräsentanz zu wiederholen: Wir haben das Archiv durchforstet nach Bildern, die den Eingriff in die Alpen, das Wege-Legen, Strassenbauen, Untertunneln, Talsperren, also die grosse Umwandlung, das Richten und Geometrisieren der Natur, das Neurahmen der Landschaft dokumentieren. In zwei, drei Fällen haben wir Bilder von Baustellen aus Sizilien eingefügt (wo Girola auch gebaut hat), weil uns ihre Bedeutung unentbehrlich schien. Soviel zu unserer Lesart eines Archivs, das in vielen tausend Fotografien die Geschichte einer italienischen Unternehmung spiegelt.