Juni 2006

Gregory Crewdson (Pressetext)

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Vor der Kulisse der amerikanischen Vorstädte und mit deutlichem Bezug auf das Hollywoodkino entwirft Gregory Crewdson seit Mitte der 1980er Jahre Bilder für Neurosen, Ängste und geheime Wünsche einer Gesellschaft, die in die Abgründe der eigenen Psyche blickt. Seit der Serie Twilight entstehen seine aufwendigen, perfekt schönen Fotoinszenierungen auf filmähnlichen Sets, teils im Studio, teils „on location“, zum Beispiel in Kleinstädten von Vermont oder Massachusetts, mit Hilfe eines grossen Teams und einer exakten, oft wochenlangen Planung.

Selbst einflussreicher Lehrer in Yale, formuliert Crewdson seine Arbeit auf der einen Seite als realistische Schilderung des ländlichen Amerikas und knüpft damit an die dokumentarische Haltung früherer Fotografen wie Walker Evans, Robert Adams oder William Eggleston an. Mit theatralischer Lichtregie, der Einbeziehung des Fantastischen und Märchenhaften sowie dem Bekenntnis zu breit angelegter Erzählkunst entwickelt er andererseits die grosse Traditionslinie der inszenierten Fotografie weiter, die sich spätestens seit Cindy Sherman und Jeff Wall als eine der wichtigsten Ausdrucksformen aktueller Fotokunst erwiesen hat.

Den Beginn seiner Karriere mit Early Work (Frühwerk) aus den Jahren als Hoch­schulabsolvent 1986-88 finden Sie für einmal in der Galerie. Diese erste klein­formatige Farbarbeit stellt das häusliche Umfeld als einen Raum der Einsamkeit und unbestimmter Erwartungen dar. Seine Bilder von weiss verschalten Häusern, fein gesäuberten Gärten und Swimmingpools und dem starren Blick in den Fernseher sprechen von mangelnder Kommunikation, von Entfremdung und Isolation im scheinbar trauten Heim in nachbarschaftlicher Umgebung. 

Der zweite Werkblock, Natural Wonder (Naturwunder) aus den Jahren 1992-97 spiegelt Crewdsons Faszination über die Natur als magisch-mythische Zone voller rätselhafter Ereignisse. Er liebt das Zwiespältige, die Spannung zwischen Häuslich­keit und Natur, zwischen Zivilisation und Animalität. Tulpen schiessen ins Über­mächtige, Vögel sitzen fast zeremonisch um einen Sand- und Eierkreis, die Natur deutet an, dass sie ihre eigenen, uns unbekannten Regeln hat. 

Hover (Schweben) von 1996-97 ist Crewdsons einzige Schwarzweiss-Serie. Sie zeigt das ländliche, vorstädtische Amerika aus der Luftperspektive: Staketenzäune, die jedes Gärtchen vom nächsten trennen, der Einbruch des Bären in die Idylle der „Tract Houses“, das Auslegen von Rasenstücken zu einem Teppich auf der „Main Street“ oder das kreisförmige Mähen als Formen übersteigerter Haus- und Garten­pflege. Idylle und Einbruch, Ruhe und Sturm werden hier in einer fragilen Balance vorgeführt.

Der vierte Teil (hier zu Beginn der Ausstellung) ist der programmatischen Serie Twilight (Zwielicht, Dämmerung) von 1998-2002 gewidmet, mit der Crewdson auch international bekannt wurde. Hier sind die rätselhaften und dunklen Energien einer unzähmbaren Natur in den Wohnstuben angekommen: Eine Frau sitzt in ihrem Wohnzimmer auf einem raumfüllenden Blumenbeet, das sie, verschwitzt, erschöpft und mit Erde beschmiert, offensichtlich gerade selbst angelegt hat. Ein Junge greift durch den Abfluss der Dusche tastend in den Untergrund, sein Arm wirkt wie ein abgetrenntes Leichenteil. In der Mitte eines reichhaltigen Raumes treibt eine junge Frau im durchsichten Negligé und mit starrem Blick auf bewegungslosem, spiegel­glattem Wasser. Crewdson setzt hier in diesen rätselhaften, unheimlichen Bildern den Akt der Kontaktaufnahme mit dem Unbewussten, mit dem Verdrängten in Szene. 

Für Hover, Twilight wie auch für die folgenden Werkblöcke Dream House (Traum­haus, mit einigen bekannten Filmschauspielern, u.a. Julianne Moore, Gwyneth Paltrow und William H. Macy) und Beneath the Roses (Unter Rosen) tritt der Künstler nicht mehr als Fotograf, sondern vor allem als Regisseur auf. Jedes Motiv erfordert eine grosse Crew und einen Aufwand wie für eine Filmproduktion. Mit der neuesten Serie Beneath the Roses, 2003-05, erreicht Crewdson einen vor­läufigen Höhepunkt: Ganze Strassenzüge wurden abgesperrt, leerstehende Häuser abgebrannt (mit entsprechender Genehmigung der örtlichen Verwaltung), Strassen­kreuzungen mit Wasser, Licht, Feuer und Schauspielern zu Filmsets verwandelt. Bis zu hundertfünfzig Personen arbeiteten an der Produktion mit, darunter Spe­zialisten für Luftbildaufnahmen und Special Effects, Castingagenten, Kranführer, Friseure und Stylisten. Auch Fachleute für Computergrafik waren nun dabei.

Mit Beneath the Roses beginnt Crewdson bewusst und erstmals in grösserem Umfang, digitales Composing in der Nachbearbeitung der Bilder anzuwenden. Damit erreicht er eine für diese Aufnahmen typische absolute Klarheit, Tiefe und hyperreale Schärfe aller Details. Die Bilder werden durch die omnipräsente Schärfe fast surreal zugleich. Sie hypnotisieren unseren Blick. Wir irrlichtern in Crewdsons Metaphern für seelische Zustände, für Angst und Panik, aber auch für Sehnsüchte herum, stossen in seinen David Lynch-artigen Sets auf ein reiches Angebot an Zeichen – offene Taschen, blutende Wunden, wilde, aufgeregte Blicke und Haare, gespannte Konstellationen unter Familienmitgliedern –, die zusammen diese dünne Schicht zwischen normal und abnormal, Alltag und Katastrophe formulieren, die Gregory Crewdson in seiner Arbeit anvisiert.