2015

Grummelnd stapft er weiter, immer weiter
Zur Fotografie von Robert Frank

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Der erste und zweite Weltkrieg trieben das Denken, das Erleben der Welt vom Glauben an übergeordnete, «absolute» Autoritäten in die Suche nach der eigenen, persönlichen Existenz. Was bleibt, wenn alles zusammenbricht, wenn die grossen Autoritäten ausser Kraft gesetzt werden? Der Mensch wird auf sich selbst zurückgeworden, auf sich alleine, schrieben Jean-Paul Sartre, Albert Camus, Simone de Bauvoir, die drei zentralen Philosophen und Schrifsteller, in unterschiedlichen Ausformungen. Zentraler Pfeiler des existenzialistischen Denkens ist die Vorstellung, in die Welt geworfen zu sein, ohne absolute Wahrheiten, ohne verlässliche Anker, ohne Ausrichtung auf Gott, den Staat, das Vaterland, mit der Pflicht, diese Freiheit anzunehmen und sich selbst aus dem Nichts eine Welt zu bauen. «Das Wesen des Daseins ist seine Existenz” und «Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt.» Das sind die wohl berühmtesten Thesen des Existenzialismus. Freiheit heißt, individuell die Möglichkeit zu haben, ohne Zwang oder Druck von außen zwischen zwei oder mehreren Handlungsoptionen entscheiden und agieren zu können. Freiheit umschreibt demnach eine Selbstbestimmung - eine Autonomie - des Menschen und zugleich, so Jean-Paul Sartre, eine Verpflichtung, ja eine Verurteilung des Menschen zur Freiheit, weil alle anderen einst absoluten Pfeiler des Daseins sich aufgelöst haben. 

Simone de Bauvoir schrieb in «Soll man de Sade verbrennen?»: «Eine solche Haltung bedeutet zunächst einmal, dass der eigentliche Mensch es ablehnt, ein fremdes Absolutes anzuerkennen. Wenn er nicht mehr ausserhalb seiner selbst die Garantie seines Daseins sucht, dann weigert sich auch, an absolute Werte zu glauben, die sich als Sachen vor seiner Freiheit erheben würden. Nur das Subjekt kann sein Dasein rechtfertigen. Kein fremdes Subjekt, kein Objekt kann ihm von aussen Rettung bringen.» Begriffe wie Volk, Nation, Vaterland haben sich durch die beiden Weltkriege aufgelöst. Das Vertrauen in die europäischen Prinzipien in die Pfeiler des Daseins waren zusammengebrochen. Der Mensch musste sich selbst neu entwerfen: Eine Chance und eine Panik, eine Freiheit und eine Verpflichtung zugleich. 

Viele KünstlerInnen und FotografInnen von damals sind geprägt von der Weltkriegserfahrung, vom Zusammenbruch des Wertsystems durch die beiden gigantischen Kriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ed van der Elsken zum Beispiel, William Klein, Shomei Tomatsu, und eben auch Robert Frank. Sie alle haben, auf unterschiedliche Weise, den Weg in Richtung einer Subjektivierung der Betrachtung, des Dokumentierens der Welt gefunden.

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Robert Franks Weg scheint, drei, vier Jahrzehnte lang, eine Art seismografische Parallele des Laufs der Welt sein, ein Weg, der sich in feinfühligem Reagieren auf und in zunehmendem Distanzieren von der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt. Er radikalisierte sich von Dekade zu Dekade, ging den Weg in den Film und nahm schliesslich das Fotografieren unter neuen Vorzeichen wieder auf. In The Americans, das vermutlich berühmteste singuläre Fotobuch der Fotogeschichte, wie es Sarah Greenough von der National Gallery of Art in Washington formulierte, arbeitete sich Frank an der Geschichte der Fotografie ab, eindringlich, erfolgreich, in seiner Weise perfekt. Das Buch gleicht einem Blick nach draussen, der sich in Bewegung setzt, der zeigt, dass hier jemand geistig und physisch unterwegs ist, der Bilder macht, weil er schaut, beobachtet, versteht, ein Blick auch, der zugibt, persönlich zu sein, der sich unter die Leute mischt, der das Leben einatmend, ergreifend, intuitiv zu erfassen sucht. Interessanter Weise laufen die Vorbereitungen zu «The Family of Men» und die berühmte Ausstellung selbst parallel zu Robert Franks Recherchereisen durch die USA, die er Dank zweier Guggenheim- Stipendien unternehmen kann und die schliesslich in «The Americans» münden. Die Tonalität der beiden Ausstellungen ist radikal verschieden. Während «The Family of Man» die Einheit der Menschheit in der Vielzahl der Menschen beschwören und symbolisieren will und die amerikanische Form einer humanistischen Utopie entwarf, wirkt Franks Blick auf die USA weit ehrlicher, direkter, eindringlicher, naher und schliesslich auch kritischer. 

Wie kaum eine anderer Fotograf betont Robert Frank, wie sehr die Aussenwelt seine Innenwelt spiegelt. «I am always doing the same images – I am always looking outside, trying to look inside», erklärt er fast kategorisch. Das Subjektivwerden der Fotografie kann nicht einfacher und klarer beschrieben werden als mit diesem Statement. Kritiker, und von denen gab es genug, griffen das schnell auf und hielten dagegen: «In the case of Robert Frank, one wonders if his pictures contribute to your knowledge of anything other than the personality of Robert Frank.» Eine scharfe, wenn auch schmalbrüstige Bemerkung, die wie viele andere Kritiken den Blick, den Robert Frank auf die USA war, vernichtend fanden. «The Family of Men» hatte einen höchst positiven Grundton, es ging um das wunderbare Leben, um die Wunder des Lebens (im westlichen Kapitalismus, im wachsenden Konsumismus, aus der Sicht des Siegerlandes im Zweiten Weltkrieg). Der Grundton war fast werbetechnisch positiv gehalten. Bei Robert Frank hingegen geht es um das reale Leben, das täglich erfahrene Dasein auf seinen 9-monatigen Reisen mit samt seiner Familie, seiner Frau und zwei Kinder, quer durch Amerika. Sein Ton ist sicher melancholischer und schärfer auch. «Realer», das Wort grossgeschrieben, aber mit doppelten Anführungszeichen versehen. «Europäischer»,mit dem Bewusstsein der grossen Katastrophe. Martha Roslers Statement hielt knapp und präzise fest: «From an outward looking, reportorial, partisan, and collective (enterprise) to a symbolically expressive, oppositional and solitary one; the lionizing of Robert Frank marks (a) shift from metonymy to metaphor.» Und Blake Stimson schreibt selbst in seinem Buch «The Pivot of the World: Photography and Its Nation»: «In Rosler’s work as in Frank’s, it is the moment of turning back from the look through the window to come face to face in the mirror with the anguised realization of the inadequacy of that look as bridge, to come face to face with the inadequacy of the descriptive system at hand.» 

Robert Frank gibt offen zu, dass er in «The Americans» die Bilder stehlen musste, dass er die Menschen nicht fragen konnte, ob er sie fotografieren darf. Denn, formal, ästhetisch, emotional und soziologisch, war sein System darauf aufgebaut, sensible und aufmerksam die Grenzen zu beobachten, die die Menschen teilt, diese Grenze, die es ihnen gerade erlaubte, nicht mit den anderen Menschen umgehen zu müssen. Stimson spitzt das ironisch-kaltschnäuzig so zu: «He had to have a means for moving between the freedom and autonomy of his existenzial lebensraum and the sense of belonging to this longed-for human mayonnaise.» «The method was simple, really. It was a matter of positioning himself in the middle so that his own instability or vulnerability became a central component of what was photographed.» Die Beziehung zwischen der Erfahrung des Fotografen und der fotografierten Subjekt ist das, was diese Fotografien so auffallend stark mache.

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In den sechziger, siebziger und achtziger Jahren wird Frank immer subjektiver, direkter, persönlicher. Seine oft zwei- und dreiteiligen Text-Bilder-Collagen wirken wie freigelegte Nervenstränge, offene Stromkabel, wie die Wicklung eines Motors, von Leben, von Existenz. Er entwirft schliesslich in hoher autobiografischer Nähe mit Fotografie und Texten kleine Lebenssituationen, die von Heiterkeit bis zur Tragik, von Hoffnung zu Verzweiflung, von Liebe zu Verlust pendeln. In einer Tiefe, die bisweilen den Atem nimmt, in einer Unruhe – mit angerissenen Fotos, dunklem, auslaufenden Polaroid-Rand und kritzelnder, hektischer Schrift –, die den Pulsschlag der Aufregung spüren lässt, in einer Tragik manchmal, die alles in ihren düsteren, schwarzen Schlund zu schlucken scheint. Das Werk dieses Robert Franks keucht oft vor Verzweiflung, stösst sich zunehmend an der Sinnlosigkeit der Wirklichkeit, der Welt, kämpft mit ihrer Absurdität, findet Licht, verliert Menschen, kämpft gegen Resignation, verlangt aus der Nacht nach Licht, Glück, unbändig, schonungslos, dürstend, leidend.

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Ich greife ein Bildpaar heraus: Zwei Fotografien sind zueinandergestellt, nahtlos aneinandergeschoben. Das linke Bild führt den Blick durch ein Fenster hinaus in einen Hinterhof, der Hinterhof an der Bleecker Street 7. Ein grauer, enger, verschlossen wirkender Hof im Winter. Schneeresten am Boden hellen die scheinbare Ausweglosigkeit des Gevierts aus, korrespondieren mit dem kargen laublosen Baum, der sich wie eine dünne, sich verzweigende Ader nach oben zieht, in Richtung Aufhellung, in Richtung Licht. Der typische Querbalken amerikanischer Fenster kreuzt sich in unserem Blick mit dem hochstrebenden Baum. An der Oberkante schliesst das Bild mit verlaufenden Entwicklungsfehlern, die wie eine Draperie oder wie Reste einer eingeschlagenen Fensterscheibe wirken. Das rechte Bild führt den Blick auf eine alte, spröde und brüchig gewordene Palästinakarte, die ausgerollt auf faltigen Laken liegt. Starkes Gegenlicht spiegelt und «brennt» so Teile der Karte weg, blendet das Kartographische aus, während es gleichzeitig jede Unebenheit, jeden Riss des Trägers zum Relief auftürmt, als verlebendige es die Karte. Ein auffallendes Paradox, das zwei Realitäten, das Leben des Trägers versus das Leben des kartographischen Bildes, gegeneinander ausspielt. 

Ein winterlich lichtloser, fast toter Hof steht also neben dem Bild einer runzligen, reliefartigen, blendenden und geblendeten Karte. Helle Partien des einen Bildes treffen in hard-edge-Manier auf dunkle, schwarze Partien des anderen. Spuren von Schnee, von Weiss hier korrespondieren mit Lichtern auf der Karte dort. Auf einer der Innenhoffassaden ist in grossen schwarzen Lettern «Lefty Wolf Man. Milie» aufgetragen. Wie oft bei Robert Frank, so gibt es auch dieses Diptychon in verschiedenen Versionen. Die eine Version schliesst ein von Hand gezogener Tintenstrich unten zusammen, über dem in handschriftlicher grüner Tinte «They will travel with you» eingetragen steht, und rechts signiert mit «Robert Frank», verbunden mit zwei Daten, dem Geburtstag von Robert Frank, «Sunday November 1924», und dem Herstellungsdatum «Mabou 1998». Eine zweite Version wirkt unverbundener, loser aneinandergepasst. «at 7 Bleecker Street 1996» steht links und «in Mabou 1995» rechts geschrieben, dafür sitzt dazwischen, in der Mitte, das Wort «Roots» für Wurzeln oder Herkunft. 

In beiden Versionen aber treffen reale Geographie und modellhafte, imaginäre Geographie aufeinander. Der Geist des gelebten Ortes, die Bleecker Street in New York, trifft auf den Geist imaginierter, erinnerter Herkunft, aufgenommen in Mabou, dem zweiten realen Wohnort von Robert Frank. Alle drei «Orte» sind ebenso real und wie sie zu verschiedenen Genius Loci aufgeladen sind. «They will travel with you», Sie werden mit dir reisen, heisst es. Die Rede ist wohl von diesen drei «Seelen», die mit «Dir», dem angesprochenen Du, reisen, und das Du scheint hier der Autor des Werkes selbst zu sein. Also eine Art Selbstanrede mit Voraussage oder Vorahnung: Geistige Herkunft verbindet sich mit real Gelebtem zum Gepäck für die Zukunft, für die Reise ins Unbekannte, scheint das Werk andeuten zu wollen. Robert Frank äusserte sich im Gespräch mit Ute Eskildsen zum Altern: «Nun, in meinem Alter, die Pillen stützen den Alten, so kann er noch spazieren und fotografieren, vor allem hat er Zeit zum Nachdenken. Dies wird dann ganz sorgfältig und langsam ein Andenken.» 

In reduzierter, minimaler Form enthält dieses Diptychon alle Elemente, mit denen Robert Frank arbeitet, seit er vom Filmen zur Fotografie zurückgekehrt ist. Es handelt sich um die Montage von zwei Polaroidnegativen, die zusammen auf ein Blatt – auf einen Silbergelatinabzug – kopiert wurden. Das eine Foto wurde 1995, das andere 1996 aufgenommen. 1998 hat Robert Frank die beiden Bilder zueinandergestellt und aus den beiden Fotografien das Werk geschaffen. Handschrift, manchmal Schreibmaschinenschrift, setzt Worte in das Bild oder unter das Bild, ergänzt die Bildinformation, widerspricht ihr, verwandelt sie, vergegenwärtigt sie. Der Spalt zwischen zwei zusammengefügten Fotografien, an dem sich die Bildinformationen wie Erdplatten aufwerfen, die Bildbedeutungen sich entzünden, an dem die Bilder zu «laufen» beginnen, wird oft durch eine oder mehrere unterlegte, eingefügte oder darübergespannte Textzeilen «überschrieben», rekontextualisiert. Nicht deckend, nicht bedeutungseinengend, sondern eher «lasierend», so dass die verschiedenen Bild- und Textebenen ein durchscheinendes, manchmal mehrschichtiges Gewebe formen, das hier sich aufbläht und dort sich zusammenzieht, und so eine Art offenen Frankschen Bildorganismus kreiert, mit dem die Betrachter in einen visuellen Dialog treten.

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Der Mensch ist in eine sinnlose Welt geworfen, und aus dieser Sinnlosigkeit gibt es kein Entrinnen. Das ist unsere existenzielle Absurdität, wie Albert Camus, wie Jean-Paul Sartre sie formuliert haben. Der Mensch ist sich dieser Situation bewusst, doch kann er nicht anders, als sich nach Sinn sehnen, als weiter zu drängen, vorwärts zu schreiten, er muss denken und handeln, um zu überleben, er muss in der Liebe die Leere und die Absurdität temporär aufzuheben versuchen. Robert Frank entwarf in seinen Polaroids und verwandten Arbeiten seit den siebziger Jahren eine ungeheuerlich existenzialistische Bilderwelt, die Entwurf und Spur, Vision und gelebtes Leid zugleich ist (zum Beispiel der Unfalltod seiner Tochter und das langsame Sterben seines Sohnes Pablo) und die ein komplexes Bildbewusstsein mit tiefem Erleben, Erfahren, Erdauern verbindet. Und seither stapft er immer weiter, auf der Suche nach «something that has more of the truth and not so much of art». Nun schon mehr als 90 Jahre lang.

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Verwendete Literatur:

Simone de Bauvoir: Soll man de Sade verbrennen? Rowohlt 1983
Sarah Greebough/Robert Frank: Looking In: Robert Frank's the Americans. 2009
Jean-Paul Sartre: Der Existenzialismus ist ein Humanismus. Rowohlt 2000
Blake Stimson: The Pivot of the World: Photography and Its Nation, MIT Press 2006
The Family of Man (Ed. Edward Steichen), Museum of Modern Art. 2002