Ein graues Feld breitet sich aus, durch das sich Wellen ziehen, von Schwarzgrau zu Dunkelgrau hin zu leichten Aufhellungen, darin ein Gewirr von hellen Linien, offenen und geschlossenen Konturen. Sie scheinen eingeritzt, wie Kratzer in dunklem Stein, oder sie wirken wie weisse Ränder von verdunsteten Tropfen, aber auch wie Kreidestriche, wie eine Überlagerung von vielen schnell gezogenen, hellen Zeichen. Die Linien sind kurzwellig, kritzlig und informell, selten fügen sie sich zu einer Form, die als Figur, als reduzierte Wandzeichnung von Tieren etwa oder von Gesichtern, erscheint. Die Kenntnis von Höhlenmalereien nährt diese Assoziation, zusätzlich verstärkt noch durch ein Gefühl von raum-zeitlicher Tiefe, das sich beim Betrachten einstellt – weithin oder von weit her. Betrachte ich ein Firmament, das sich auszukristallisiert? Ein Material, das ausdünstet? Eine Wandtafel voller Spuren unverständlicher Zeichen? Einen Scherbenhaufen aus Glas nach einer Ex- oder Implosion? Wird so einst der Fallout aussehen, wenn der Informationshimmel, den ich durch den Bildschirm erahne, zusammenbricht? Oder betrachte ich lediglich eine milchgläsern-durchscheinende Oberfläche, welche Tiefe nur vortäuscht? Die Allover-Struktur des Bildes, die Ausblendung der Perspektive und der Vergleichsmöglichkeiten entziehen der Betrachtung die Grundlage, sicher zu entscheiden, ob es sich hier um kleinstmögliche Teile, um einen Mikrokosmos, oder um gigantische Formen im All, also um einen Makrokosmos, handelt. Je nach Lichteinfall versinkt der Blick eher im Dunkel der unterlegten Zonen, taucht ab im Grund, wird aufgesogen, oder er folgt stärker der Helligkeit der krakeligen Linien, tanzt auf der Oberfläche, auf dem Gitter vor dem tiefen, dunklen Raum.
Es war einmal ein Mann, der hatte einen hohlen Zahn. In dem hohlen Zahn lag eine Schachtel, in der ein Zettel lag, auf dem stand: Es war einmal ein Mann, der hatte einen hohlen Zahn. In dem hohlen Zahn lag eine Schachtel, in der ein Zettel lag, auf dem stand: ... Dieser Kinderspruch veranschaulicht das Gefühl, das sich beim Betrachten des Bildes einstellt. Man gewinnt den Eindruck, als wiederhole sich in jeder Form, jeder Fläche das Ganze, das Grosse im Kleinen, das Kleine im Grossen, wohin der Blick und wie tief er auch fällt.
Doch dieses eine Bild kommt nicht alleine, da folgt ein zweites, ein drittes, viertes, fünftes, manchmal ein neuntes, zehntes. Eine Serie von grossen Bildern entsteht, die wandeinnehmend rhythmisch gehängt wird. Darin erscheint eine merkwürdige, eingedellte ovale Form, einer Fruchtzelle ähnlich, in die sich ein Sperma zu bohren scheint, und zwar taucht sie in jedem Bild der Serie, die mir vorliegt, wieder auf. In Wiederholung, aber immer an anderer Position und aus einem anderen Blickwinkel gesehen. Als tigere jemand unruhig vor der Pforte auf und ab und werde von Kafkas Türsteher nicht eingelassen; als nähere sich der Blick von allen Seiten, unruhig auf der Suche nach einer Ordnung, einem ruhenden Pol, den die Bilder nicht bieten. Ja, die Bilder scheinen das gleiche Umfeld wiederzugeben, aber sie sind immer leicht verschoben, leicht oder stark gedreht zueinander aufgenommen, als würden sie ein Feld vermessen, als kreisten sie um eine Situation, als seien sie am Suchen.
Diese kreisende, suchende Bewegung in der Abfolge der Serie verdient genauere Betrachtung, denn sie geschieht in Absenz, zumindest in weitgehender Reduktion einer klassischen perspektivischen Ordnung. Hans Danuser vermisst da fotografisch ein ‹Gelände›, unsystematischer als ein Landvermesser, dafür suchender, als sei es ein Tatort, drehender, als ziehe es ihn spiralförmig in den Bann. Ein Kartograph auf leichten Abwegen, mit offenem Blick, ohne genaue, abgegrenzte Zielvorgabe. Die Bewegung scheint vielmehr einer Ungewissheit, vielleicht einer Unruhe zu gehorchen. Die Ordnung, Klarheit, Sicherheit fehlen, es gibt kaum etwas zu greifen, das Halt bieten, als Massstab dienen könnte, der Blick scheint durch ein Geflecht von hellen Linien hindurch in die Tiefe zu fallen, endlos. Wird da eine Grenze ‹beschrieben›, ‹beschritten›, visualisiert sich dadurch ein Übergang, von einem bekannten Ordnungssystem zu einem neuen, offenen Feld?
Andere Serien aus dieser Werkgruppe wirken dreidimensionaler, lesen sich etwa wie Bilder von abbröckelndem Fels, abblätterndem Schiefer oder von pilzigen, vegetativen Wucherungen. Die Umrisse füllen sich hier, werden zu Flächen, die abbrechen, übergehen in nächste Ebenen. Umrisse, die gar Volumen annehmen, wie eine Reliefkarte. Schliesslich wird deutlicher erkennbar, dass es sich bei diesen Bildern um Fotografien von Eis handelt, um Wasser in unterschiedlichen Kältegraden, von wenigen Graden unter Null bis zu 190 Grad unter Null. Je kälter das Eis, desto heller wirken die Bilder, bis sie fast zum strahlenden Eishimmel werden. Je wärmer das Eis, desto dunkler, schwärzer der Unter- oder Hintergrund, vor dem sich die Zeichen hell abheben. Je nach Kälte verändern sich auch die kristallinen Eisstrukturen, formen weichgeschwungene oder eckige, schärfere Linien. Alle diese Bilder tragen den Titel «Frozen Embryo», «eingefrorener Embryo» oder allgemeiner: eingefrorenes Leben. Aber es sind keine Föten darauf zu erkennen, auch bei sorgfältigster Betrachtung nicht. Diese Bilder ziehen im Titel gleichsam die Geschichte ihrer Herkunft mit. Hans Danuser hat Anfang der neunziger Jahre begonnen, in Forschungsbereichen zu fotografieren, in denen Föten dazu verwendet werden, um die Auswirkungen von Medikamenten, um pränatale medizinische und chirurgische Eingriffe zu testen, und Zugriff auf die Stammzellen, auf das Erbgut zu haben. In einer Werkreihe, die aus dieser Beschäftigung entstand, ist jeweils ein Fötus im Zentrum abgebildet, eingefroren auf Eis gelegt, kreisförmig hell ins Licht gesetzt, als erleuchte ihn eine wissenschaftliche Aura. Die neuen Arbeiten der letzten Jahre entstanden im gleichen Forschungsbereich, lassen dieses ‹schlagende› Motiv jedoch bewusst weg und konzentrieren sich einzig auf das Eis. Das Auge blickt nicht in den Himmel hinauf, sondern starrt auf die Wannen voller Eis hinunter, welche als materielle Basis, als Grund für die Experimente und Fallstudien bereitstehen. Nicht himmlisches Licht spiegelt sich in den Eiskristallen, die Leben einfrieren und so verfügbar machen, sondern einfaches Laborlicht. «Denn je fahler das Licht, desto stummer, unergründlicher und entseelter wird der Sektor, in welchen der Fotograf wie ein Tiefseetaucher hinabdringt.» (Juri Steiner) Die Eingriffe ins Erbgut, die hier vorgenommen werden, sind aber schöpferisch, ‹himmlisch› – zumindest im Ausmass ihrer Einflussnahme, ihrer Macht.