Februar 2013  /  Du 833

Hoffnung und Schmerz: Dayanita Singhs Archivräume

<p><em>File Museum</em>, 2012, Burma-Teak, 110 Pigmentdrucke, 188 × 110 × 47,5 cm (Gesamtabmessung)</p>

File Museum, 2012, Burma-Teak, 110 Pigmentdrucke, 188 × 110 × 47,5 cm (Gesamtabmessung)

Als ich, eine ganze Weile her, zwei, drei, vier Jahre jung war, fuhren wir, meine Eltern, meine Schwester und ich, im Sommer jeweils an die Adria, nach Cervia bei Rimini in die Ferien. Da wir später immer in der Schweiz Urlaub machten, blieben mir diese Tage am Meer in allerbester, fast überdeutlicher Erinnerung. Das meine ich jedenfalls. Bei einem Teil der Erinnerungen bin ich mir fast sicher, dass ich sie direkt erinnere, bei einem anderen Teil vermute ich eher, dass ich sie nur weiss, weil mir später davon erzählt worden ist, oder weil ich Fotos dazu in Alben gesehen habe. Jedenfalls, als ich Jahrzehnte später dahin gefahren bin, um dieses erste Ferienerlebnis aufleben zu lassen, um dieser zweiten Heimat meiner Kindheit wieder zu begegnen, fand ich gar nichts so vor, wie ich es gespeichert hatte. 

Das hatte zuerst weniger mit einem schadhaften Privatarchiv im Kopf als mit der Entwicklung des Adria-Tourismus zu tun. Aber falsche Erinnerungen sehen genauso aus und fühlen sich genauso an wie echte, das jedenfalls meint der Sozialpsychologe Harald Welzer. Die Konsolidierung einer Erinnerungsspur im Gedächtnis beinhalte nicht nur das, was tatsächlich geschehen ist, sondern wie es interpretiert und vor allem auch, wie es kommu­niziert worden sei. Damit der Verlust an Erinnerung möglichst klein bleibt, damit wir nach einfacher oder mehrfacher Überschreibung des Gedächtnisses immer noch möglichst viel von Vergangenem korrekt bewahren können, legen wir Menschen Archive an. Vom Privat­archiv der eigenen Liebesbriefe, den Ausgabenbelegen für die Steuerrechnung, dem fami­liären Fotoalbum, bis zum Archiv von Institutionen, von wissen­schaftlichen und juristischen Untersuchungen, von Kriegen, dem «Archive of Modern Conflict» zum Beispiel, wie sich ein spannender Archivort in London nennt. Die (analogen und digitalen) Bibliotheken der Welt sind unsere gigantischen Archive des Wissens. 

Wenn da nicht ein Funken Hoffnung wäre, würden wir Archive gar nicht erst anlegen, sagt der indische Filmer Amar Kanwar. Archive sind, obwohl sie die Vergangenheit auftürmen, in die Zukunft gerichtet. Sie werden für einen bestimmten Zweck, ein bestimmtes Ziel oder ganz allgemein zur Gewinnung von Wissen angelegt. Die Fotografien von Dayanita Singh strahlen hingegen wenig Hoff­nung aus, so sinnlich, persönlich, ja informell die Archive darin geformt zu sein scheinen. Sie wirken wie die Eingeweide der Gesellschaft, wie die Überreste einer Mahlzeit, manchmal auch wie die Szenerie eines Tatortes. Eine eilige Hinterlassenschaft, als wären die Bankräuber beim Packen der Säcke, des Diebesguts überrascht worden. Mehrheitlich aber sitzen die Mappen, Schachteln, Ordner geduldig da, wie sie gestapelt worden sind, warten wie ihre Besitzer, ihre Betreuer, warten scheinbar ohne Ziel, setzen Staub an, werden nur dann verschoben, wenn die alphabetische, zeitliche oder numerische Ordnung - A bis Z, 1900 bis 2000 oder I.1. bis XVIII. – wegen Platzmangels anders verteilt werden muss. Das Demütige, Geduldige der Sedimentierung dominiert über die Verzweiflung, dass alle diese Akten, Notizen, Hinterlassenschaften uns wohl nie an die absolute Wahrheit heran­führen, dass sie immer Krücken bleiben, dass sie Spiegel unserer Behinderung, Zeichen unserer Hilflosigkeit sind. Und dennoch: die Hoffnung auf Besserung, auf ein zukünftig Anderes, Besseres bleibt.

Im Westen kennen wir (westzentristisch) vor allem das Indien der Farben, der Gerüche, des Lebens, auch das Indien der Kasten, des Konflikts. Zurzeit vor allem dasjenige des Wirtschaftsbooms, des Aufstiegs aus der Geschichte in die Zukunft der Menschheit. Dayanita Singh hingegen hat das Indien der Archive fotografiert. Sie führt uns anhand ihrer Bilder, anhand einer Reihe persönlich geführter Archive das bürokratische Indien vor. Stapelweise geschichtete Geschichte, geschichtete Verfahren, geschichtete Erfahrung. Die Kartonisierung, Vergerbung, Versteinerung des Lebens – der Erwartung, der Bitte, des Glaubens. Im Gespräch verbindet sie die Bilder mit privaten Kindheitserinnerungen, dem Bild der eigenen Mutter, die Woche für Woche, Tag für Tag mit Ordnern zum Gericht ging und diese abends im Zim­mer, unter dem Bett oder im Schrank stapelte. Die Akten häuften, vermehrten sich, denn Gerichtsfälle dauern in Indien oft Jahre, Jahrzehnte, manchmal ein ganzes Leben lang. Sie wuchern, beginnen das eigene Leben mit einem Teppich von Fragen und Antworten, mit einer Haut von eingebrannten Ent­täuschungen, von vergeblichem Warten zu überziehen. Die Lebensschicht verhärtet sich, wird ein Reptil, ein Panzer, der nach aussen und innen gleichermassen schützt und drückt. Die Hoffnung wird so schrittweise er­stickt.

Eine Schattenwelt manifestiert sich in ihren Bildern, merkwürdig lebhaft und leblos zugleich, die Unterwelt des Papiers, der Paragraphen, der Akten, milchig, bläulich, blässlich erleuchtet durch das Licht alter Neonröhren. Im Spätherbst hat Dayanita Singh in London eine Ausstellung eröffnet, in der sie ihre Archivbilder selbst wieder zum Archivgestell, zum Akten-Möbel, zu einem «File Museum» zusammenbaut. Ein sich öffnender und wieder schliessender Paravent, der Einsicht, Durchsicht verspricht, aber auch Düsternis verbreitet. Archive sind immer grosse Hoffnung und langer Schmerz zugleich.