April 2014

Human Capital in Industries

English Version: Human Capital →

Die Industrialisierung hat die Lebenswirklichkeit grundlegend verändert, von Mitte des 18. Jahrhunderts an zuerst in Europa, seither in der gesamten Welt. Die Veränderung war so stark, dass wir dafür den Begriff der industriellen Revolution verwenden. Agrarische und handwerkliche Arbeitsformen wurden über die 250 Jahre hinweg schrittweise durch industrielle Produktionsformen ergänzt und ersetzt. Inzwischen hat die Industrialisierung nicht nur den primären und sekundären Sektor, die Rohstoffgewinnung und die Verarbeitung ergriffen, sondern auch die Dienstleistung, die Freizeit- und Kulturwirtschaft und die Abfallbewirtschaftung. 

Die Industrialisierung hat aber nicht nur die Volkswirtschaft revolutioniert, das wäre zu kurz gegriffen, vielmehr hat sie die gesamte Gesellschaft, unser Wissen, Denken, Handeln, ja unser ganzes Leben umgewälzt. Vor ihr war das Leben und Arbeiten natur- und lebenszyklisch bestimmt. Jahreszeiten, Sonnenauf- und untergang bestimmten den Tages- und Jahresrhythmus. Mit ihr bestimmt nun die Produktion den Rhythmus, schreibt vor, wann die Menschen aufstehen und zur Arbeit gehen. Wir sprechen deshalb von der Fabrikzeit: Die Industrie hat erstmals die Arbeits-Lebenszeit quantifiziert und reglementiert, mit der Arbeitsglocke, mit Kontrollen am Eingang und schliesslich mit der Stempeluhr. 

Sie hat aber auch die Arbeitswege und damit das Verhältnis von Stadt und Land verändert. Traditionell waren Leben und Arbeiten eine Einheit, fanden am gleichen Ort, zumindest im gleichen Umkreis statt. Die Industrialisierung und das damit verbundene Arbeitsangebot zwingen Menschen zu immer längeren Arbeitswegen, bis hin zur Migration. Das Machtverhältnis shiftet vom Land zur Stadt. 

Die Industrialisierung hat die Menschen aber auch befreit, zum Beispiel viele Bauern aus dem Joch der Leibeigenschaft, oder die starren, strengen Regeln der Handwerkszünfte gelockert. Erst mit ihr wird Hygiene, erst mit ihr wird Fortschritt ein Thema. All diese Fortschritte hatten aber oft auch einen harten Preis: Der Wohlstand der einen wurde mit der Pauperisierung, der Verarmung eines anderen Teils der Bevölkerung erkauft.

Die Industrie hat also das Leben der Menschen gänzlich umgekrempelt. Doch umgekehrt ist die Industrie ohne Menschen, ohne Arbeiter undenkbar. Jedenfalls bis vor kurzem, bis zum neusten Schub der Automatisierung, der digital gesteuerten Produktion, waren Mensch und Maschine, Industrie und Arbeiter eine grosse, enge Einheit. Und der Personalchef war und ist eine wichtige Instanz in jeder Firma.  

Diese Einheit, dieses Band führte dazu, dass grosse Industrien, Maschinenindustrien zum Beispiel, wie eigene Gemeinden funktionieren. 200, 250 oder gar 300 verschiedene Berufe werden darin ausgeübt, Heerscharen von Lehrlingen ausgebildet. Die Verpflegung wird in Kantinen oder heute in Personalrestaurants angeboten. Seit 1900 wurden in Wohlfahrtshäusern sowohl Duschen und Bäder wie auch Unterhaltung und Bildung angeboten. Viele Fussballvereine tragen den Namen einer Firma: Bayer Leverkusen ist nur ein Beispiel unter vielen. 

Die Industrien fallen in der Geschichte und Gegenwart in Zweige auseinander, die mit Ihrem Personal, den Arbeitern, den Angestellten sehr sorgfältig und verantwortungsvoll umgehen und wirklich alles für die Sicherheit und Gesundheit der Human Resources, wie es heute heisst, tun, und in jene Zweige, die sich kaum darum scheren, wer, wie, wann und zu welchen Bedingungen angestellt wird. Entsprechend ist das Verhältnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmern durch viele Verhandlungen, Forderungen, Streits und Streiks geprägt, in denen um menschliche Arbeitsverhältnisse, um grössere Sicherheit, mehr Lohn, kürzere Arbeitszeiten gerungen wird. Die Geschichte der Industrie ist auch die Geschichte des Arbeitskampfes.

Die Ausstellung Human Capital in Industries widmet sich mit rund 160 Fotografien (Auftragsfotografien, sozial engagierten Fotografien und künstlerischen Positionen) aus der Sammlung der Fondazione MAST den verschiedenen Fragestellungen aus der Geschichte und Gegenwart von Industrien und Arbeitern, Industrien und Angestellten, von Human Resources und Human Capital. Sie zeigt Menschen bei der Arbeit in Minen, in der  Metall- und Maschinenindustrie, in Textilfabriken, aber auch beim Bau von Verkehrswegen, von Strassen, Eisenbahnen, Schiffen und beim Erzeugen von Energie. Es werden Vergleiche zwischen Arbeitsweisen im 19., 20. und 21. Jahrhundert angestellt. Arbeitsrealitäten in der westlichen Welt messen sich an der euphorisierenden Vorstellung von Arbeit in der Sowjetunion. Das Thema der Hierarchien, von Blue Collar über White Collar zu Ingenieuren, Managern, Direktoren und Firmenbesitzern wird visualisiert. Die ausgestellten Fotografien diskutieren aber auch die Arbeitswege, die Gesundheit  und Sicherheit der Arbeitsplätze und die durch die Industrie für immer klar geordnete Arbeitszeit. Und oft musste der soziale Fortschritt erkämpft, erstritten werden. Entsprechend heisst es auch manchmal: Streik!!

Einige der Fotografen sind anonym, wir kennen sie nicht mehr, andere sind von Fotografen gemacht, die bei den Firmen und Fabriken angestellt waren, und schliesslich haben sich inzwischen berühmte Fotografen an dieses Thema gewagt, zum Beispiel: Jakob Tuggener, Jacqueline Hassink, Larry Sultan/Mike Mandel, Jorge Ribalta, Jercy Lewczynski, Ugo Mulas, Brian Griffin, August Sander, Robert Doisneau, David Goldblatt, Erich Lessing, Margarete Bourke-White, Jan Sudek, Max Alpert, u.v.a.

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