September 2015

«Ich wünsche mir Besucher, die sich konfrontieren lassen.»

Urs Stahel über das von ihm kuratierte 6. Fotofestival Mannheim-Ludwigshafen-Heidelberg und über das Nachspüren der Jetztzeit – auf der Kehrseite der Medaille.

Das Interview für ARTMAPP führte Matthias Harder, Kuratorenkollege aus Berlin und langjähriger Wegbegleiter.

Matthias Harder: Urs, du bist für viele jüngere Fotokuratoren eine legendäre Figur, insbesondere aufgrund deiner überraschenden, ja innovativen Präsentationsformen im weiten Feld des Fotografischen. Ich schließe mich hier als Bewunderer ganz bewusst mit ein. Vermisst du eigentlich das Fotomuseum Winterthur, das du 20 Jahre lang als Bühne deiner Inszenierungen bespielt hast?

Urs Stahel: Ich wage kaum, es laut zu sagen, aber: Nein, ich vermisse das Fotomuseum Winterthur nicht. Ich tat mich zwei Jahre lang sehr schwer mit der Entscheidung, quasi das eigene «Kind» beim Eintritt ins Erwachsenenleben nach dem 20-Jahre-Jubiläum loszulassen. Nachdem ich mich aber entschieden hatte, begann ein neuer Abschnitt, den ich nun wiederum mit viel Energie lebe.


MH: Worin besteht für dich der Unterschied, eine Ausstellung oder Ausstellungsfolge im Kontext einer einzigen Institution zu planen und zu realisieren, und einem Festival mit mehreren Spielorten auf der anderen Seite?

US: Das sind zwei sehr verschiedene Paar Schuhe. Beim Museum denkt man an Kontinuität, «baut» die Ausstellungen, die Publikationen, die Veranstaltungen, die Vermittlungsangebote zu einem sich entwickelnden Ganzen zusammen – mit Repetitionen, Kontrapunkten, Prozessen. Fast wie ein Musikstück im besten Fall. Bei einem Festival ist der Auftritt punktuell, zeitlich eng begrenzt, dafür ist es aber sehr breit aufgestellt. Im Fall des 6. Fotofestivals Mannheim-Ludwigshafen-Heidelberg sind das sieben Museen oder Kunstorte in drei Städten mit insgesamt 4.000 Quadratmetern, das ist geradezu symphonisch, wirklich viel und groß. Da gilt es, sich zu überlegen, wie man diese Fläche bespielt, ohne dass es den Besuchern langweilig wird. Selbst das beste Thema ist nach einer Weile dargestellt, ausgestellt und läuft Gefahr, sich in Wiederholungen zu verlieren.


MH: Was erwartet uns in diesem Jahr in Mannheim, Ludwigshafen und Heidelberg?

US: Der programmatische Titel lautet: [7P]. Der Untertitel dann [7] Orte, [7] Prekäre Felder. Die «7» ist im Zentrum – verbunden mit einem «P» steht sie für prekär und für «Places», also Orte. Ich greife damit aber zugleich die Anzahl Ausstellungsorte auf und verbinde sie mit den schillernden Konnotationen, die wir Menschen darüber hinaus noch mit dieser Zahl verbinden: Wir sprechen von den sieben Weltwundern, von den sieben Schritten zur Erleuchtung, im Katholizismus sprechen wir aber auch von den sieben Todsünden. In Tat und Wahrheit wird es eine Ausstellung sein, die sich mit sieben kritischen Fragen, Situationen, Energiefeldern von heute beschäftigt. Sie widmet sich also der Kehrseite des Menschen, der Kehrseite seiner Fähigkeit, Großartiges, Poetisches, Wunderbares zu erschaffen. Also der Kehrseite der Medaille, wie wir manchmal sagen.


MH: Wie entwickelst du ein solches Thema wie «prekäre Felder» von der ersten vagen Idee über die erste Künstlerliste und eine mögliche Adaption der Grundidee bis hin zur Pressekonferenz, auf der du deine Ausstellungsidee präsentierst?

US: Im Detail kann ich das hier nicht wiedergeben, weil das viel zu lange dauern würde. Aber ich kann zwei Dinge sehr klar sagen: Vor zwei Jahren ging ich mit großem Interesse durch The Encyclopedic Palace, die Ausstellung, die Massimiliano Gioni für die letzte Biennale von Venedig eingerichtet hat. Ich fand das Thema spannend und fühlte mich etwas beschämt, dass ich nach zwei Dritteln müde wurde und die Räume schnell abschritt. Es fiel mir da auf, dass selbst das beste Thema, wenn es sehr groß inszeniert werden muss, irgendwann ermüdend wird. Das wollte ich in Mannheim, Ludwigshafen, Heidelberg vermeiden. Jedes der [7P]s ist fast wie eine eigenständige Ausstellung – mit eigenem Rhythmus und eigener Ausstrahlung. Und dennoch gehören sie als Puzzle zu einem großen Ganzen. Ich hoffe, dass ich für die Besucher so das Ermüden verhindere oder zumindest erschwere. Und dann war mir ebenfalls sehr schnell klar, dass ich mich mit der Jetztzeit, mit dem Heute, auseinandersetzen will. Wir leben in einer Zeit voller Krisen auf ganz verschiedenen Ebenen. Einige davon wollte ich aufgreifen und mich gleichzeitig fragen, wie eine zeitgenössische Fotografie damit umgehen kann. Und dann braucht man für jedes Thema ein, zwei zentrale Positionen, um die herum man allmählich das Konzept ausbaut und weiterentwickelt. Ich bin auch jetzt noch nicht ganz fertig.


MH: Wie kam es zu dem übergreifenden Ausstellungstitel und wie hast du die Unterthemen auf die unterschiedlichen Institutionen verteilt? Arbeitest du mit den Ausstellungsorten oder auch manchmal bewusst gegen sie, um eine größere Spannung zu erzeugen?

US: Die Spannung ist groß genug mit den sieben Themen, denke ich. Entsprechend versuche ich eher, dass die vorhandenen Räume und die Themen sich gegenseitig stützen und stark machen: Urbanismus als Geldanlage oder als Waffe, High-Tech-Produktion und Migration als merkwürdiges Paar, Ich-Fest & Selbst-Stress als eine Medaille mit zwei Seiten in Zeiten eines übersteigerten Narzissmus. Oder Gewalt und Zerstörung, Kommunikation und Kontrolle, Wissen und Macht. Das sind teils heftige Themen, die es sorgfältig zu entwickeln gilt. Manchmal passen die einzelnen Aspekte gut in die städtische Situation hinein oder in den jeweiligen Ausstellungsort, manchmal ist diese Verbindung weniger deutlich gegeben. Der Davoser Fotograf Jules Spinatsch wird jedoch für alle Themen vor Ort, in der jeweiligen Gegend, fotografieren und so die Schwerpunkte auch «verorten» und untereinander verbinden.


MH: Die gesellschaftsrelevanten, ernsten, vielleicht gar brutalen Bilder deiner siebenteiligen Ausstellung werden uns Besucher mit Sicherheit emotional fordern. Welche Reaktionen wünschst du dir als «ideale», nachhaltige Rezeption?

US: Wir leben in einer Zeit der perfekten Verdrängung. Die Unterhaltungs- und Kommunikationsindustrie hat uns mit perfide-perfekten Spielzeugen ausgerüstet, mit denen wir es schaffen, uns jederzeit oder auch ständig von Außenrealitäten abzuschotten. Wir optimieren unser Leben gleichsam nach innen, das heißt, wir achten vor allem darauf, dass es uns – dir, mir, jedem Einzelnen – immer besser geht, aber wir interessieren uns im gleichen Maße umso weniger für Bewegungen, für Ideen, die unsere Gesellschaft, vielleicht gar «die Welt» verbessern könnten. Thomas Hirschhorn hat möglicherweise aus diesem Grund zu seinen drastischen Bildern Collage Truth ein Manifest verfasst, in dem er erklärt, weshalb wir Bilder des Schmerzes, des Schreckens anschauen müssen. Der Ausstellungsraum ist daher ein wichtiger Kontemplationsraum, in dem sich jeder in seinem eigenen Rhythmus auf die (Bild-)Welten einlassen kann. Ich wünsche mir «idealerweise», wie du sagst, Besucherinnen und Besucher, die sich einlassen, die sich selbst aussetzen, die beim Betrachten der Bilder ihre eigene Situation, ihre eigenen Fragen mitdenken, die zumindest im Ausstellungsraum das Risiko einzugehen bereit sind, sich gedanklich, emotional, aber auch physisch einzulassen, sich konfrontieren zu lassen.


MH: Wenn das Festival im September 2015 eröffnet sein wird, wirst du dich ja sicherlich wieder neuen Projekten widmen. Welche sind das?

US: Du willst, dass ich Geheimnisse verrate? (lacht) Vielleicht so viel: Irgendwie bin ich über die Zeit auch zu einem Spezialisten für Museumsgründungen geworden. Ich habe die Kunsthalle Zürich mitgegründet, dann das Fotomuseum Winterthur, zurzeit helfe ich mit, in Bologna mit dem MAST ein Zentrum für Industriekultur zu etablieren, mit einer großen Sammlung an Industriefotografien und drei Ausstellungen pro Jahr. Aber schon stehen wieder zwei Ideen im Raum für neue «Orte». Vielleicht werde ich eine Weile meine Energie in deren Realisierung stecken, ihnen ein erfolgreiches Start-up zu ermöglichen. Aber ich weiß, dass mich das vom Schreiben abhalten wird, und das schmerzt doch ein wenig. Also schiebe ich die Entscheidungen zurzeit noch hinaus. Bologna jedoch wird weitergehen und an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) unterrichte ich auch weiterhin mit kleinem Pensum.