Juli 2013  /  Du 838

In Kussdistanz zum Leben: Alberto García-Alix

<p>Alberto Garcia-Alix: <em>Experiencio en Caracas</em>, 2007</p>

Alberto Garcia-Alix: Experiencio en Caracas, 2007

<p>Alberto Garcia-Alix: <em>Emma Suàrez</em></p>

Alberto Garcia-Alix: Emma Suàrez

<p>Alberto Garcia-Alix: <em>El Angel</em>, 1993</p>

Alberto Garcia-Alix: El Angel, 1993

<p>Alberto Garcia-Alix: <em>La Gâta</em>, 2001</p>

Alberto Garcia-Alix: La Gâta, 2001

La Virreina, die Stadtgalerie Barcelonas, in umfangreichen Räumen des Palau de la Virreina an der heute meist rammelvollen Rambla untergebracht, hat sich seit ein paar Jahren zum zentralen Ort für die Fotografie in Barcelona ent­wickelt. Im Erdgeschoss der einst für den Vize­könig von Peru gebauten opu­lent-barocken Residenz hat das Centre de la Imatge ein enga­giertes nationales und internationales Bild-Programm eingerichtet. Dieses Frühjahr zum Bei­spiel mit Alberto García-Alix, einem der prominentesten, direktesten und wildesten Fotografen Spaniens, und seiner Ausstellung, die er als «Selbstporträt» betitelte und darin knapp achtzig Beispiele aus seinem fotografischen Werk zusammen mit Videoarbeiten vorstellte.

Die Kindheit von Alberto García-Alix ist geprägt von der Franco-Diktatur, doch er wächst sie quasi aus, wird volljährig in der Befreiung und im Aufblühen Spa­niens, vor allem der Hauptstadt Madrid, die in den achtziger Jahren von einer aufschäumen­den Energie erfasst wird. Er schlägt nicht die Laufbahn ei­nes Juristen ein, wie es seinem Vater vorschwebt, sondern widmet sich for­tan der Fotografie. Instinktiv scheint er sich ‚für das Leben‘ zu entscheiden, was immer es brin­gen, was immer es kosten mag. Er ruft dem Gegenüber zu, steht vor die Menschen hin, lässt sich ein, taucht ein, in ein Dasein, das sich weigert, die Emo­tionen der Ordnung, die Kraft des Körpers dem Verstand, die Erotik des Daseins der Sicherheit des bürgerlichen Lebens zu opfern. 

García-Alix wirkt in seiner Haltung ein wenig wie Edith Piaf. Ein «Je ne regrette rien» treibt ihn immer weiter in seine eigenen und die Leiden­schaften anderer Menschen hinein. In der Sucht nach Leben gleicht sein Agieren auch jenem von Diane Arbus. Wie sie fotografiert er leichte oder stärkere Abweichungen von dem, was man ohne nähere Erklärung als «normal», als bürgerlich geord­net bezeichnet. Er belichtet anderes Sein, anderes Verhalten, nähert sich den in die Gesellschaft einge­las­­senen Rändern, den heiteren, glühenden, auch düs­te­ren Hoffnun­gen, Freuden und Ver­­zweif­lungen. Wie die amerikanische Foto­grafin begibt er sich auf die Suche nach Intensität, Einfachheit, Körperlichkeit, wie sie lässt er sich hineinfallen ins Leben und lebt seine Fotografie wie einen performativen Akt. 

Es gibt nur eine kleine Gruppe von Fotografen und Fotografinnen auf der Welt, die das Leben und die Fotografie so intensiv leben wie Alberto García-Alix. Ed van der Elsken war einer von ihnen, Daido Moriyama, Nan Goldin, Anders Petersen oder Antoine D’Agata sind weitere Beispiele für eine Fotografie, die einem grossen Drang entspringt, einer verlangenden, süch­telnden Suche nach den Tiefen des Lebens, nach Freude, Lust, Schmerz, nach der Erfahrung von Grenzen. Ohne Netz, und mit der Bereitschaft, zu steigen und zu fallen, welche Richtung die Energien gerade mal wieder einschlagen. Seine Bilder sind weder konzeptuell noch objektiv beo­bachtend ange­legt, sondern entspringen einem Taumeln, einem Mittendrinsein. Sie sind immer aus der Schlag- oder Kuss­distanz aufgenommen, Aug in Aug mit seinen Subjekten. Das fotografierende und das foto­grafierte Subjekt stehen sich wie Freunde, wie Liebende, aber auch wie Kämpfende hautnah gegenüber. Manchmal begleitet seine Kamera den Fluss der Ge­scheh­nisse, zieht er sie mit, wenn er durchs Land streift und seinen Blick wie ein streunender Hund von unten über nächtliche Fassaden gleiten lässt. Die Porträtierten sind oft auf merk­würdige Weise verdreht, verrenkt aufgenommen, als öffneten sich nur so – als «Contor­tionists», als Schlan­gen­menschen – die Spielräume innerhalb einer festgefügten, zementier­ten, im Wesen noch lange streng tradierten Gesellschaft.

Dieses Fotografieren der Freunde, des eigenen Lebens, dieses Sich-Spiegeln an den Freunden, das Spiegeln der Freunde an den Fotos, das Wiedergeben des Le­bens in einer sich ent­wickelnden Bildperformance wurde beispielhaft für ein rock- und punkartiges Fotografieren, für distanz­loses, dennoch nicht scho­nungs­­loses Dabei- und Drinnensein, das sich in den späteren siebziger und achtziger Jahren kundtat. Der Begriff der «teilnehmenden Fotografie», der seither gebraucht wird, wird oft erstmals mit Nan Goldin in Verbindung ge­bracht. Vielleicht darf ihre Ballade der sexuellen Abhängigkeit (in den späten siebziger und frühen achtziger Jahre aufgenommen und 1986 publiziert) als Startschuss für das Dokumentieren der eigenen Welt, das Fotografieren aus der Innenperspektive gelten. Es wird nicht mehr ein Anderes, Exotisches fo­to­­­grafiert, das an­schlies­send nach ‚Hause‘ getragen und dem Heimpu­blikum vorgeführt wird, vielmehr wird das eigene Leben zur Fotografie, verschwimmen Ich und Du, Subjekt und Objekt, Leben und Foto­grafie. Alberto García-Alix und die oben erwähnten Fotografen stehen ihr in keiner Weise nach. Sie alle arbeiten gemeinsam an einer visuel­len Conditio Humana, die sich der zunehmenden Sterilisierung des Animali­schen in uns, der nur verstandes­mässigen Ordnung und Korrektheit des Lebens, den Schritten ins Transhu­mane verweigert.

(La Virreina, La Rambla 99, Barcelona; ebenfalls ein schöner, aber kleinerer Ort der Fotografie ist die Fundació Foto Colectania, an der Julián Romea 6, D2 gelegen.)