La Virreina, die Stadtgalerie Barcelonas, in umfangreichen Räumen des Palau de la Virreina an der heute meist rammelvollen Rambla untergebracht, hat sich seit ein paar Jahren zum zentralen Ort für die Fotografie in Barcelona entwickelt. Im Erdgeschoss der einst für den Vizekönig von Peru gebauten opulent-barocken Residenz hat das Centre de la Imatge ein engagiertes nationales und internationales Bild-Programm eingerichtet. Dieses Frühjahr zum Beispiel mit Alberto García-Alix, einem der prominentesten, direktesten und wildesten Fotografen Spaniens, und seiner Ausstellung, die er als «Selbstporträt» betitelte und darin knapp achtzig Beispiele aus seinem fotografischen Werk zusammen mit Videoarbeiten vorstellte.
Die Kindheit von Alberto García-Alix ist geprägt von der Franco-Diktatur, doch er wächst sie quasi aus, wird volljährig in der Befreiung und im Aufblühen Spaniens, vor allem der Hauptstadt Madrid, die in den achtziger Jahren von einer aufschäumenden Energie erfasst wird. Er schlägt nicht die Laufbahn eines Juristen ein, wie es seinem Vater vorschwebt, sondern widmet sich fortan der Fotografie. Instinktiv scheint er sich ‚für das Leben‘ zu entscheiden, was immer es bringen, was immer es kosten mag. Er ruft dem Gegenüber zu, steht vor die Menschen hin, lässt sich ein, taucht ein, in ein Dasein, das sich weigert, die Emotionen der Ordnung, die Kraft des Körpers dem Verstand, die Erotik des Daseins der Sicherheit des bürgerlichen Lebens zu opfern.
García-Alix wirkt in seiner Haltung ein wenig wie Edith Piaf. Ein «Je ne regrette rien» treibt ihn immer weiter in seine eigenen und die Leidenschaften anderer Menschen hinein. In der Sucht nach Leben gleicht sein Agieren auch jenem von Diane Arbus. Wie sie fotografiert er leichte oder stärkere Abweichungen von dem, was man ohne nähere Erklärung als «normal», als bürgerlich geordnet bezeichnet. Er belichtet anderes Sein, anderes Verhalten, nähert sich den in die Gesellschaft eingelassenen Rändern, den heiteren, glühenden, auch düsteren Hoffnungen, Freuden und Verzweiflungen. Wie die amerikanische Fotografin begibt er sich auf die Suche nach Intensität, Einfachheit, Körperlichkeit, wie sie lässt er sich hineinfallen ins Leben und lebt seine Fotografie wie einen performativen Akt.
Es gibt nur eine kleine Gruppe von Fotografen und Fotografinnen auf der Welt, die das Leben und die Fotografie so intensiv leben wie Alberto García-Alix. Ed van der Elsken war einer von ihnen, Daido Moriyama, Nan Goldin, Anders Petersen oder Antoine D’Agata sind weitere Beispiele für eine Fotografie, die einem grossen Drang entspringt, einer verlangenden, süchtelnden Suche nach den Tiefen des Lebens, nach Freude, Lust, Schmerz, nach der Erfahrung von Grenzen. Ohne Netz, und mit der Bereitschaft, zu steigen und zu fallen, welche Richtung die Energien gerade mal wieder einschlagen. Seine Bilder sind weder konzeptuell noch objektiv beobachtend angelegt, sondern entspringen einem Taumeln, einem Mittendrinsein. Sie sind immer aus der Schlag- oder Kussdistanz aufgenommen, Aug in Aug mit seinen Subjekten. Das fotografierende und das fotografierte Subjekt stehen sich wie Freunde, wie Liebende, aber auch wie Kämpfende hautnah gegenüber. Manchmal begleitet seine Kamera den Fluss der Geschehnisse, zieht er sie mit, wenn er durchs Land streift und seinen Blick wie ein streunender Hund von unten über nächtliche Fassaden gleiten lässt. Die Porträtierten sind oft auf merkwürdige Weise verdreht, verrenkt aufgenommen, als öffneten sich nur so – als «Contortionists», als Schlangenmenschen – die Spielräume innerhalb einer festgefügten, zementierten, im Wesen noch lange streng tradierten Gesellschaft.
Dieses Fotografieren der Freunde, des eigenen Lebens, dieses Sich-Spiegeln an den Freunden, das Spiegeln der Freunde an den Fotos, das Wiedergeben des Lebens in einer sich entwickelnden Bildperformance wurde beispielhaft für ein rock- und punkartiges Fotografieren, für distanzloses, dennoch nicht schonungsloses Dabei- und Drinnensein, das sich in den späteren siebziger und achtziger Jahren kundtat. Der Begriff der «teilnehmenden Fotografie», der seither gebraucht wird, wird oft erstmals mit Nan Goldin in Verbindung gebracht. Vielleicht darf ihre Ballade der sexuellen Abhängigkeit (in den späten siebziger und frühen achtziger Jahre aufgenommen und 1986 publiziert) als Startschuss für das Dokumentieren der eigenen Welt, das Fotografieren aus der Innenperspektive gelten. Es wird nicht mehr ein Anderes, Exotisches fotografiert, das anschliessend nach ‚Hause‘ getragen und dem Heimpublikum vorgeführt wird, vielmehr wird das eigene Leben zur Fotografie, verschwimmen Ich und Du, Subjekt und Objekt, Leben und Fotografie. Alberto García-Alix und die oben erwähnten Fotografen stehen ihr in keiner Weise nach. Sie alle arbeiten gemeinsam an einer visuellen Conditio Humana, die sich der zunehmenden Sterilisierung des Animalischen in uns, der nur verstandesmässigen Ordnung und Korrektheit des Lebens, den Schritten ins Transhumane verweigert.
(La Virreina, La Rambla 99, Barcelona; ebenfalls ein schöner, aber kleinerer Ort der Fotografie ist die Fundació Foto Colectania, an der Julián Romea 6, D2 gelegen.)