2017  /  Hans Danuser: Dunkelkammern der Fotografie (Steidl)

In Vivo – In Vitro

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Das Buch war ungewöhnlich, als es 1989 erschienen ist, und es hat seither nichts von seiner Ausserordentlichkeit verloren. Es ist hochformatig, leicht betont in seiner Höhe, hat Ausmasse von 37cm in der Höhe und 29.5cm in der Breite, ein Format also, das höchstens noch eine halbautomatische Verarbeitung erlaubt. Der Schutzumschlag ist weiss, ein warmes Weiss, das einen kleinen Schritt in Richtung Offwhite, in Richtung Warmtönung geht, das Papier ist stark, fest, matt laminiert oder lackiert, auf der Vorderseite und auf dem Buchrücken findet sich ausschliesslich Typographie: Hans Danuser – IN VIVO – Verlag Lars Müller. Auf der Rückseite des Buches ist, in der oberen Mitte, ein kleinformatiges Foto gesetzt, eine Art von Zitat aus dem Buch, jener zentralen Fotografie aus der Serie Medizin I, in der Nummerierung des Buches das Bild III 10, die Nummer 10 des dritten Teils, der „in Lehre und Forschung der Anatomie und Pathologie“ aufgenommen worden ist.  Ein teils sichtbarer, teils abgedeckter, teils integrer, teils freigelegter, sezierter Köper wird auf einer Bahre, auf einem ausziehbaren Kühlschrank vermutlich, von oben rechts nach unten links ins Bild geschoben, als habe man eben ein modernes Grab, einen metallenen Gefrierschrank geöffnet und ein schwaches Licht auf einen eingefrorenen Körper geworfen. Ein kleines Hinweis- und Symbolbild für das gesamte Projekt, ein verschobenes Frontispiz. Das Buch ist in hellgrauer Leine gebunden, mit der Prägung „IN VIVO“ auf dem Cover, das Vorsatzpapier ist in einem tiefen kräftigen Rot gehalten, der einzigen Farbe im Buch. Innentitel wie auf dem Schutzumschlag.

Dann beginnt die Abfolge der 93 tritongedruckten Schwarzweissbilder in sieben Teilen, einzig begleitet von einer vom Grafiker und Verleger Lars Müller eingeführten minimalen Nummerierung, der römischen für die Serien und der arabischen für die einzelnen Bilder. Die hochformatigen und querformatigen Bilder sind so platziert, als habe Lars Müller sie mit einer kleinen Hand-Bewegung aus der Mitte gerückt, die querformatigen leicht nach oben, die hochformatigen nach links oder rechts, so dass die Bilder sich besser mit dem grossen Papierformat verhaken. Ein ausgeklügeltes System von Bilderseiten und Leerseiten zieht sich durch das gesamte Buch, eine Reihung der Arbeit, die der Ausstellungsform folgt und umgekehrt. Dem Buch eingelegt ist ein Beiblatt mit allen technischen Angaben, aber auch mit den Titeln der Serien und der einzelnen Bilder, von römisch I bis römisch VII, mit Serienlängen von 9, 11, 12, 13, 14, 16 und 18 Fotografien. Straumann AG in Dielstorf steuerte von den allerersten digital erzeugten Lithographien zu diesem Buch bei, die bei Waser Druck in Buchs nicht wie damals üblich im Duplex-, sondern früh im Dreifachton, Triton genannt, gedruckt und bei der Buchbinderei Burckhardt AG in Mönchaltorf als Buch zusammengetragen und gebunden wurden. Die Kombination von Litho, Druck und Kunstdruckpapier ist erstaunlich, mehr noch auch heute noch grossartig.  Viele Fotografien bewegen sich so extrem im Schwarzbereich, ausschliesslich in den letzten 10 bis 20 Prozent der Grauskala, dass andere Druckereien und Verlage abgesagt hatten. Fotografien, Grafik, Lithographie, Druck und Bindung formen hier eine Einheit, wie man sie selten sieht. Entsprechend gewann das Buch auch einige Buchpreise. Diesen formalen, grafischen und technischen Besonderheiten des Buches entsprechen die 93 gestalterisch und inhaltlich aussergewöhnlichen Fotografien von Hans Danuser, die damals Furore machten und die noch heute von starkem Interesse, von einer besonderen Wertigkeit sind. Ein erstes Mal formuliert: „IN VIVO“ – das ist die Welt am Leibhaftigen vorgeführt, am Lebendigen und Toten. In Vivo und In Vitro – die Macht, das Wissen, das Geld, die Gewalt (in) einer abstrakter werdenden Welt in beunruhigenden Bildern visualisiert. Bevor wir das Projekt jedoch im Einzelnen genauer anschauen, will ich die Landschaft von Fotografie und Kunst wie einen Teppich ausrollen, in deren Folge und die hinein die einzelnen Serie von „IN VIVO“ über die Zeit von 1980 bis 1989 hineingesetzt und schliesslich als Gesamtprojekt publiziert und als Ausstellung im Kunsthaus Aarau erstmals eingerichtet worden ist.

 

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In den Fünfzigerjahren begann der Hang der Gewissheiten zu rutschen. Der Schrecken des Zweiten Weltkrieges war unfassbar gross. Man konnte nicht weitermachen, als sei nichts geschehen, nicht mit den gleichen Mitteln weiterwerkeln wie bisher – selbst wenn die Gesellschaft, ihre Institutionen, auch die Trägheit in uns Menschen mit aller Kraft versuchten, so schnell wie möglich zur Normalität zurückzukehren, sich selbst und die damit verbundenen Wertvorstellungen in alter Form wieder zu installieren und zu festigen. Zu sehr hatte der Zweite Weltkrieg zumindest in jenen Ländern, die direkt von ihm betroffen waren, den Einzelnen auf sich selbst zurückgeworfen. Der Glaube an den Staat, an die Institutionen, die Kirche, die verschiedenen moralischen und juristischen Instanzen hatte eine tiefe Erschütterung, das Freud’sche Über-Ich eine tiefe Verstörung erfahren.

Der Weg der Kunst und der Fotografie in die 1970er-Jahre ist entsprechend gekennzeichnet von einer Reihe von kräftig ausholenden Entwicklungsschritten. Zum Beispiel einer kontinuierlich zunehmenden Subjektivierung der dokumentarischen Fotografie. Schrittweise verschoben sich die Parameter, das objektive Vorzeigen der Welt wandelte sich in ein subjektives Wahrnehmen, die fotografische Wahrheit verschob sich deutlich zur Wahrhaftigkeit, die Objektwahrheit zur Subjekt-Wahrhaftigkeit, zur Authentizität des Fotografen. Das visuelle Erkunden, Wissen und Darstellen der Welt mutierte zum Zwiegespräch, zur Medien- oder Selbstreflexion. Der Fotograf rückte gleichsam sichtbar ins Bild. Er kommt aus der Deckung hervor, entblösst sich, steigt vom Feldherrenhügel runter ins Feld, tritt ein, nimmt teil. Er wird Teil des Bildes. Und die Welt wird Teil von ihm. Die Dokumentarfotografie verwandelte und radikalisierte sich schrittweise zu einem subjektiven, künstlerischen Statement.

Diese Subjektivierung findet wir ebenfalls in der Kunst, in den Verkörperlichungen, Verräumlichungen, Verzeitlichungen von Kunst, den Happening und Performance-Bewegungen, die Ende der fünfziger Jahren einsetzen, diesen ersten Schritten zur Auflösung des strengen Bildbegriffs, gegen die Vorstellung von Kunst gleich Malerei auf rechteckigen Leinwänden, gerahmt oder ungerahmt, verbunden mit Ideen des Erhabenen, Ewigen, Entrückten wie zum Beispiel zuletzt noch im Abstrakten Expressionismus. Und in den grossen anstehenden Identitätsfragen: Wer bin ich? Welche Rolle spiele ich? Welche Rolle wird mir aufgezwungen? Fragen, die virulent geworden sind im Glaubensverlust an aussenstehende Autoritäten, aussenstehende Absolutheiten. Im Nachkriegsfeminismus finden wir ein Grundmodell vieler Identitätsdebatten: Die Frau wird unterdrückt durch die Zuschreibung einer vorgeblich natürlichen, tatsächlich gesellschaftlich kontrollierten, unterdrückenden Rolle, mit der sie sich von klein auf zu identifizieren hat. Sie wird nun diese Identifikation zu durchbrechen und sich eine neue Identität zu schaffen versuchen, verbunden mit einer Umwertung der Werteskala. Die Verordnung, Zuordnung von Identitäten wird zu einem zentralen gesellschaftlichen Machtinstrument - während die Erfindung einer eigenen Identität zu einer Form des Widerstandes wird. Dieses Modell kann in mehr oder weniger radikalen Formen durchgespielt werden. Alle folgenden Gruppeniden­titäts­diskussionen (Schwule, Farbige etc.) folgen diesem Modell.

Die Happening- und Performancebewegung leiteten nicht nur in die Identitätsbewe­gungen der sechziger und siebziger Jahre über, sondern auch in die allmähliche Konzeptualisierung der Kunst und Fotografie, in die verschiedenen Formen der Auflösung des traditionellen Kunst- und Bildbegriffs. Für viele Künstler sind die sechziger und siebziger Jahre zutiefst ein Jahrzehnt der Abkehr: von den abstrakten, reinen, nach Objektivität strebenden Gestaltungsweisen und ihrem gedanklichen Überbau, vom Werk als geschlossener, absoluter Entität; von der Vorgabe des kunstwürdigen Materials und vom Stildenken. Absage auch an die grosse Form, an die grosse Erzählung, an die übergreifende Wahrheit. An ihre Stelle traten sichtbar das Einsehen, Nachdenken, Erforschen, Fragenstellen, Suchen, Erproben -  das konzeptuelle Reflektieren der Wahrnehmung, der Bedingungen des eigenen Tuns, die Erforschung der eigenen, eingesetzten Mittel. Fotografie wird in der konzeptualisierten Kunst meist „industriell“ gebraucht, um Ed Ruscha mit diesem Begriff zu zitieren. Keine Fine Arts of Photography, keine hohe gestalterische Kraft innerhalb des Rechtecks, sondern der Gebrauch der Fotografie als Realitätsfetzen.

Die konzeptuelle Wende in der Fotografie wiederum können wir sehr gut an der amerikanischen Landschaftsfotografie sichtbarmachen, am Wechsel der  Vorstellung von Landschaft als etwas Heiligem, Entrücktem, der pantheistischen Vorstellung von Natur an sich hin zu einer realen, faktischen, auch ökonomischen Betrachtung der Landschaft in den sechziger und siebziger Jahre. Die Fotografen drehten sich um 180 Grad und schauten nicht mehr in die Natur hinaus, sondern zurück, in die Vorstädte, ins Wuchern der Städte ins Land hinaus: Suburbia war nun auch bildlich geboren. Der Blick der „New Topographics“ ist nicht mehr von der Kraft eines Subjekts, dem Abenteuertum eines Autors und seiner Utopie getragen, vielmehr wird hier utopielos untersucht und geforscht, was mit den Städten, den Vorstädten, der Landschaft geschieht. Es sind Untersuchungen zum neuen Urbanismus als äusserer und innerer Realität. Die Fotografen und Künstler setzen den Bildpurismus und die Form-Inhalt-Deckung als kritisches Instrument ein, ersetzen die Illusion der fotokünstlerischen Fertigkeit durch die Illusion der mechanistischen Beschreibung. Dadurch zwingen sie auch uns, den Betrachtern der Fotografien, also uns, dem Subjekt der Betrachtung, eine grundsätzlich neue Rolle auf: ohne Wahl und unsentimental den Blick auf die

Die siebziger Jahre führte aber viele Fotografie, viele Fotografen und Fotografinnen zu einer grossen Verunsicherung, zu einer fotografischen Aufbruchs- und Identitätskrise. Die herkömmliche Vorstellung und Gebrauchsweise der Fotografie stand in den siebziger Jahren erstmals massiv unter Druck. Gegen aussen war sie dabei, ihre Vorreiterrolle im Berichten über die Welt ans Live-Fernsehen zu verlieren. Gegen innen stand sie zunehmend im Schatten der ersten grossen Welle an farbiger Werbefotografie, und die Kunst begann sich der Fotografie zu bedienen, zu bemächtigen. Zudem geriet der Begriff der „fotogra­fi­­schen Wahrheit“ allmählich unter die Räder. In strukturalisti­schen Theorien wurde der „Tod des Autors“ proklamiert. Dahinter steckte die Vorstellung, dass nicht mehr ein autonomes Subjekt bestimmt und handelt, sondern das ein System am Werk ist, und das wir uns in und mit diesem System bewegen, abhängig davon und eben nicht mehr autonom, also unabhängig. In diesem Licht erscheinen drei der damals vorherrschenden fotografischen Gestaltungsmerkmale (Schwarzer Negativrand, in der Empfindlichkeit hochgepushte Filme, Weitwinkel) wie Teil einer starken Reaktion, Teil einer bildnerischen Gegenstrategie, einer Art von fotografischer Gegenreformation. Die Fotografie hatte möglichst authentisch und real zu wirken. Nahe, direkt, schnörkellos zu sein und ohne, dass die ursprüngliche Absicht in Nachbearbei­tungen in der Dunkelkammer verzerrt werden durfte. Das wurde zum Credo einer bildnerischen Gegenreformation. Realität und Authentizität wurden durch das Sichtbarmachen des Korns, durch das Raumachen des Mediums, und durch das „Aufreis­sen“ des Bildes, der Brillanz suggeriert. Der schwarze Rand verstärkte die persönliche Sicht eines autonomen Subjekts. Das scheint der neue Ausdruck einer Haltung gewesen zu sein, die mit der komplexer werdender, systemischer verstandenen Welt nicht zurechtkommen konnte/wollte.

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In diese Situation hinein beginnt Hans Danuser mit seinem grossen Projekt, das er neun Jahre später, 1989, mit dem Buch und der Ausstellung im Kunsthaus Aarau abschloss. Ende der siebziger Jahre zuerst suchend, forschend, ausprobierend, startete er schliesslich Anfang der 1980er Jahre mit der „Atomenergie“, aufgenommen „in Atomkraftwerken, der Reaktorforschung und Zwischenlagerung von hochradiaktivem Abfall“. Er startet also mit einem heiss diskutierten, feurig debattierten Thema. Wir erinnern uns: Das geplante Kernkraftwerk Kaiseraugst im Kanton Aargau scheiterte am erbitterten Widerstand der regionalen Bevölkerung und von stark politisierten Umweltschützern. Lange Zeit stand die Gemeinde Kaiseraugst als Standort eines Kernkraftwerks zur Diskussion. Die spektakulärste Aktion, schreibt Wikipedia, war 1975 eine elf Wochen andauernde Besetzung des Baugeländes durch anfänglich rund 15'000 Personen. 1989 wurde das Projekt, nach 20 Jahren Planung und 1,3 Milliarden Franken Planungskosten endgültig fallen gelassen. Die Debatten liefen heiss, die Fotografien hingegen zeigten oft das Gleiche: Demonstranten, Protestplakate, hochgereckte Fäuste und Kühltürme alleine oder mit weidenden Kühen davor. Hans Danuser ging anders vor, er erarbeitete, erkämpfte sich das Recht, in den Kern der Atomenergieforschung und -produktion vorzustossen, Atomkraftwerke, Reaktorforschung und Zwischenlager von innen, aus nächster Sicht zu fotografieren. Er erreichte es, die visuelle Deutungshoheit, die sich in diesem Fall die Firma Motor-Colombus als mögliche Betreiberin des Kraftwerks strikt vorbehalten hat, in und durch seine Arbeit zu brechen und ein Stück weit zurückzuerobern. In einer doppelten Abgrenzung zerstückelte er einerseits den Kühlturm als Symbol in drei unterschiedliche Fragmente und zeigte andererseits das Kraftwerk und die Orte der Forschung ohne Menschen. Wir erleben diese Orte in seinen Fotografien als leere, streng reglementierte und scharf ausgeschilderte, signalisierte Räume, wir betreten sie, als würden wir einen Arbeitsplatz antreten, werden hindurchgeführt, durch die Garderobe, die Schleusen, die Nebelgischt innerhalb des Kühlturms, schauen in den Atomreaktor, folgen dem atomaren Abfall ins Zwischenlager, in Stapel von metallenen Fässern, beschriftet und einfach mit Plastik bedeckt. Wir erinnern uns vielleicht daran, dass in den siebziger Jahren die Schweiz die atomaren Abfälle vor Portugal noch ins Meer geworfen hat. Wir haben den Begriff „Endlager“ auf den Lippen, wohl ahnend oder wissend, dass es ein Endlager nie geben kann, weil der Abfall die kommenden 50‘000 Jahre betreut, unterhalten werden muss, unter laufender strengster Kontrolle.

Seine allerersten Bilder unterscheiden sich wesentlich von den damals üblichen beschreibenden, dokumentierten Pressefotografien. Ideologisierte Symbolbilder werden vermieden, die beschreibende, zuspitzende Tatsachen behauptende Kamera weicht einer Bildauffassung, die dem Betrachter ein Eintauchen ermöglichen, ein Absinken, Umsehen, ein Sehen, das Gefühle auslöst, das Geruch und Geschmack zu erlaubt, also paradoxerweise mehrere Sinne anzusprechen scheint. Das erste Bild des Projekts überhaupt, aufgenommen in der „Kühlturmtasse“ erinnert an Metropolis von Fritz Lang oder an Stalker von Andrei Tarkoswki, an eine Art von Endzeitstimmung, ein visuelles Sodom und Gomorrha. Im zweiten Projekt, in der Gold-Serie, aufgenommen in einer „Goldgiesserei, einer Raffinerie und in Banktresoren“ dominiert tiefstes, saugendes Schwarz die Fotografien, eingeschossen wird glühendes, gleissendes Licht, beim Schmelzen und anschliessendem Giessen des glühenden Goldes in die Barrenform. Ein dramatisches, industrielles Chiaroscuro, wie wir es seit Caravaggio aus der Malerei kennen, mit einem inneren Bildlicht, das nicht von aussen ins Bild scheint, sondern alleine dem eingefangenen Prozess im Bild zu verdanken ist. In den Abzügen und im Druck bewegt sich das Schwarz im Bereich von 80 bis 100 Prozent Sättigung und Dunkelheit, mit einer ebenso extremen Helligkeit, die zuweilen wirkt, als habe Danuser die Silbergelatin-Schicht bis auf den Papierträger weggekratzt. Der Eindruck von Alchemie korrespondiert mit der stillschweigenden, grossartigen Verwandlung von Rohgold in Reingold, von einem Element der Erde in eine abstrakte Grösse, in die Welt der monetären Abstraktionen, der Werte, des Geldes.

In „Medizin I“ dominiert das Weiss von Kacheln, mit denen die Räume „in der Lehre und Forschung der Anatomie und Pathologie“ ausgelegt sind, ein kühles, vom vielen Reinigen stellenweise ausgewaschenes, ausgelaugtes Weiss, in das hinein menschliche Körper und Körperteile zur Untersuchung, zur Analyse gebracht werden. Kopf, Hirn, Herz, Magen, Organe. Die Anatomie als das klassische Thema der Wissenschaft und Kunst wird hier fotografisch reaktualisiert. Wir folgen dem untersuchenden, sezierenden, wissenden Blick, verfolgen die Häutung, die Fragmentierung, die Aufsplitterung des Körpers auf dem Weg des Suchens nach Wissen, auf dem Pfad zur Gewissheit. Ereignis und Ort des Geschehens sind, wie schon in der Atomenergie-Serie, in einer auffälligen Balance gehalten. Die Umgebung, der Raum, der Ort, die Beschaffenheit der Böden, Schränke, der metallenen Seziertische wird durch die Fotografie in den Status eines Mitspielers erhoben, sie sind so beredt wie die Dinge, die wir darin erkennen, sie schaffen die Atmosphäre, den Bildraum, die Bildatmosphäre. Sie sind Buchumschlag, Papier und Text in einem, die zusammen wie ein leises Murmeln die versal geschriebenen Bild-Worte „Energie!“, „Gold!“, „Wert!“, „Existenz!“, „Wissen!“ begleiten. Die Ausrufezeichen sind der Intensität der Bilder und ihrer Themen geschuldet.

Diese Serie beginnt wie die Atomenergie mit einer Fotografie von Häuten, von Schutzkleidern. Entleert, gereinigt, aufgehängt verweisen sie auf die Tätigkeit von Menschen, bei gleichzeitiger Weigerung, den aktiven, tätigen Menschen zu zeigen. Er ist in jedem einzelnen Bild präsent, mit seinem Wissen, Wollen, seiner Macht, seinen Zielen, Wünschen, vielleicht Neurosen auch, aber er verschwindet zugleich hinter seinen Geräten, seinen Räumen, der von ihm geschaffenen Welt. Als Untersuchungsobjekt hingegen ist er präsent, auf besondere Weise in „Medizin II“, aufgenommen „in Klinik und Forschung der Opthalmologie und Otorhinolaryngologie“, bei Operationen der Augen, Nase, Ohren, der Sinne des Menschen, seinen Instrumenten, mit denen er zur Aussenwelt Kontakt aufnimmt, den natürlichen Sensoren, die er mit künstlichen Sensoren zu verlängern, zu verschärfen, zu erweitern versteht. Und der Stimme, dem Kehlkopf, mittels dessen er atmet und sich mitteilt, mit der Welt nicht nur in Kontakt, sondern in Kommunikation tritt. Die Schaltstelle des Existierens und Zusammenlebens. Zielgerichtet werden die zu operierenden Organe freigelegt, und der Rest wird abgedeckt, weggewischt, mit desinfizierenden Mitteln weggestrichen. Die Medizin ist hier ein exzellentes Spiegelbild der Handlungsfähigkeit der Menschen. Wir sind hervorragende Mechaniker, können punktgenau reparieren, verstehen aber weiterhin von grösseren Zusammenhängen nicht allzu viel, sind in diesen Feldern, in komplexen, interdependenten, mehrschichtigen Zusammenhängen vor allem auch kaum handlungsfähig.

Dann wird der Patient, der „Fall“ an Schläuchen, an Maschinen angeschlossen, er übergibt sich demütig der Welt der Ersatzspieler, die für die Zeit der Operation seine Atmung, seinen Blutstrom, seinen Zustand kontrollieren und ausführen. Vorstufen einer Cyborgisierung des Menschen, einer Vermählung der Natur mit der Prothese, dem Ursprung mit dem Ersatz oder der künstlichen Verstärkung. Durch die äussere Schicht, die Erscheinung der Dinge, gelangen wir ins Innere des Körpers, in seinen Mechanismus ein. Endoskopieren des Körpers mit Überwachung am Bildschirm meint, ins Innerste des Körpers hineinsehen, den Körper an die grosse Maschine andocken. Eine gänzlich neue Form von Demut, ein Eingriff in die Unversehrbarkeit, in die Intimität des Körpers, eine neue Form von Macht, die die Fügsamkeit des individuellen Körpers gegenüber dem organisierten Wissen als Kraft und als Macht notwendig werden lässt.

„Los Alamos“, die vierte Serie, aufgenommen „in Laboratorien für Kernfusion und Laserforschung“ wird wesentlich zu einer Serie von Architekturbildern. Einerseits ging es darum, den Raum um die Erde in eine reale und imaginäre Architektur, ein Netz von Laserkanonen zu fassen, das die Erde von aussen, vom Weltall her gänzlich und jederzeit und überall unter Kontrolle, im Griff hat, andererseits fotografierte Hans Danuser an diesen Forschungsstellen in Los Alamos, New Mexiko den Versuch der amerikanischen Regierung unter Ronald Reagan, diese neuste, noch unbekannte Lasertechnologie zu entwickeln. Wir sehen dunkle Räume, Arbeitsplätze, die von kühler Brillanz, wenn Licht und Metall aufeinandertreffen, und von schnelllebiger, intensiver Forschung, von einer militärischen Baugrube „sprechen“, unterbrochen von scharfen Lichtstrahlen, von Warnschildern und einer Robot ähnlichen Laserkanone, einer metallenen Krake, die aus einer Kugel heraus in 360x360 Grad gerichtet schiessen kann. Das Projekt wurde schliesslich begraben, ad acta gelegt, zumindest lesen wir seither nichts Neues, damals stellte es hingegen die Vorstellung von Vorherrschaft, Weltherrschaft in der Welt des Kalten Krieges auf den Kopf. Das hatte Hans Danuser auch dazu bewogen, sein erstes Militärprojekt, das er unter anderem bei Contraves in der Schweiz fotografiert hatte, zugunsten von Los Alamos aufzugeben.

Wie anfangs erwähnt: in der gesamten Arbeit tragen die Umgebungsfotografien entscheidend zum Gesamtbild bei, sie geben den Rahmen ab, formieren den Raum, in dem sich das Thema fotografisch entwickelt, sie sind quasi Tatortfotografie, Bestandsaufnahme, Verortung der Motive und der Thematik. Auffällig stark in der Serie „Los Alamos“, eng, erdrückend, ja erstickend dann in „Chemie I“, aufgenommen „in der Forschung, Analytik und Produktion bei der Pharmakologie und Chemie“. Bild 2 und 3 in dieser Serie wirken zusammen wie Alcatraz, wie Guantánamo, wie ein gänzlich auswegloses Gefängnis für Tiere, für die Ratten, die hier „zum Wohle“ der Menschen untersucht und analysiert werden, das heisst oft einfach, injiziert werden, bis sich Krankheitsbilder zeigen, Verhaltensstörungen, bis Krebs sich manifestiert. Damit die Ausweglosigkeit auch für uns Betrachter, Betrachterinnen spürbar wird, hat Hans Danuser eine Fotografie gedreht, bis sich zwei Bilder so verschränken, dass die Wege optisch gänzlich schliessen, abbrechen, dead ends werden. Diesen körperlich spürbaren dunklen, düsteren Gitterräumen steht das helle Weiss von Schreibtafeln gegenüber, auf denen Formeln des Wissens, Formeln der Produktion (noch nicht Formeln des Gewinns) skizziert, hingeworfen, hingeschleudert sind. Ausfällungen der Geistesblitze, Formalisierungen des Untersuchten, Abstraktionen des Fleischlichen, Körperlichen, der inszenierten Natur-Unfälle. Die Schreibformeln für die „Versuchsanordnung in vitro mit Hirnschnitten“, die „Versuchsanordnung in vivo am offenen Hirn“. Das erste Bild, der „Kernspin-Tomograph“, scheint die Abstraktion, die Geometrisierung der Natur durch die Wissenschaft bildlich zu inszenieren. Dieser damals nur einmal jährlich durchgeführte Untersuch an einer Ratte erfährt im Bild seine geometrische Formung, seine Abstraktion in Quadrat, Dreieck und Kreis. Jede Serie enthält einige Schlüsselbilder, für das Ganze, das Projekt, die darin verborgenen Denkweisen, Wertigkeiten hingegen kann fast nur diese Fotografie stehen, falls man denn ein Bild herausgreifen will.

Alle Themen bis auf eines waren virulent, wurden intensiv diskutiert, teils formulierte sich bereits Widerstand dagegen, auf das Thema der Gen-Forschung hingegen, das letzte Kapitel von „IN VIVO“, stiess Hans Danuser erst während des Fotografierens, auf dem Weg der Realisierung. Seine Serie „Chemie 2“, aufgenommen „in der Genforschung und Biotechnologie bei der Pharmakologie und Agronomie“ markiert den Endpunkt seines grossen Projekts. Sie enthält das erste Bild, eine Ultraschallaufnahme eines Embryos, das auf eine Welt jenseits der direkten Sichtbarkeit verweist, sie formuliert das Bild einer Technologie, die in die Tiefe greift, die die Welt in ihren Wurzeln, ihren Genen eben verändern kann. Danuser zeigt von den ersten Tabakpflanzen überhaupt, die gentechnisch verändert worden sind, er visualisiert analoge DNS-RNS-Findungen. Die Arbeit visualisiert vor allem die grossen Temperatursprünge von minus 197 Grad auf Eis im Erbgutlager bis zu 37 Grad in einer Art Brutkasten des Lebens. Tabakpflanze, Behälter, Embryo, Brutraum,  Desoxynucleinsäure/DNS, Eis, Eis, Eis, Glasampullen, Ultraschallaufnahme, Eis – das sind die Bezeichnungen der einzelnen Fotografien in dieser Serie. Das „Eis“ verweist schon auf seine nachfolgende Arbeit, die „Frozen Embryos Series“. Das erste Bild der Serie und des Buches und das letzte Bild gleichen sich wie Bruder und Schwester. Beide zeigen einen bildatmosphärischen Nebel, beide formulieren den Übergang von der einfachen Sichtbarkeit – „da vorne steht ein Haus in der Ebene“ – zu komplexen Wahrnehmungen der Wirklichkeit und Eingriffen in sie: „Was hier auf diesen Filmstreifen geträufelt wird, visualisiert innere Strukturen des Lebens. Visualisiert die DNS.“

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Ich habe zu Beginn geschrieben, dass sich die Fotografien von Hans Danuser deutlich von der damaligen reportierenden, dokumentierenden Fotografie unterschieden hat. Das betrifft sowohl Thema wie Bildsprache. Danuser bewegte sich in gesellschaftlich relevanten Bereichen der Erforschung und der Produktion von Energie, von Geld, von Wissen, von Kontrolle, von Macht und Gewalt, es sind tabuisierte Bereiche, in denen die Zugänge kontrolliert oder versperrt, in denen die Kommunikationen kanalisiert werden. Die Information allgemein und die Deutungshoheit über die Forschungsresultate und über die Bildsprache, die diese zunehmend abstrakteren Themen verbildlichen, liegen üblicherweise in den Händen der Firmen und Institutionen und werden wie ein heiliger Gral bewacht. Sein geduldiges, insistierendes Vorgehen, das Aufbauen und Ausfächern des Projekts als ein künstlerisches, nachdenkendes, komplexes Bildprojekt erlaubte Danuser Zugänge, die heute gänzlich versperrt sind.

Die Bildsprache von Hans Danuser war damals aufregend neu, anders, und dennoch sehr fotografisch. In den ersten hundert und mehr Jahren der Geschichte dieses Mediums wurde unser Sehfeld derart stark vom Motiv gebannt und gefangen genommen, dass wir, vor Hunger auf Augennahrung, auf mögliche visuelle Erkenntnis starrend, kaum je über den Tellerrand hinausgeschaut haben. Ein optisch gefesselter Tunnelblick installierte sich, der zwar seine Sichten und Einsichten von Dekade zu Dekade verbesserte, der die Regeln des Spiels innerhalb des Bildes, des rechteckigen Rahmens immer virtuoser beherrschte, der sich schrittweise bewusst wurde, wie  stark das fotografische Bild von der technischen Entwicklung der Kameras, der Optiken und der Trägermaterialien abhängig war, der aber vor lauter Neugierde, Freude und Liebe zum Motiv, gepaart mit Geschäftigkeit und Geschäftssinn, kaum je links und rechts, oben und unten bis an den Bildrand und dann darüber hinaus schaute, und sich auch nie umwandte und fragte, wer denn hier gerade eine Fotografie unter welchen sozialen, politischen, wirtschaftlichen und medienspezifischen Umständen gemacht hatte.

Einzig die japanische Fotografie um 1970, die Provoke-Fotografen Takuma Nakahira, Yutaka Takanashi und Daidō Moriyama u.a. waren mit ihrem Are, buke, boke anders vorgegangen. Are, buke, boke meint grainy, blurry, out-of-focus, also körnig, verschwommen und unscharf. Ihre Fotografien erzeugten eine Stimmung, die deutlich machte, dass hier nicht „schöne, attraktive Fotografien“ oder „engagierte, deutliche Fotografien“ gezeigt, nicht möglichst präzis Dinge gesehen und dokumentarisch festgehalten werden, sondern dass die Fotografen in Bewegung sind, dass sich das bewegte Leben und der bewegte Fotograf begegnen und das Bild quasi die Ausfällung dieser Begegnung, das Resultat des langsamen Aneinandervorbei­streichens oder schnellen Aufeinanderprallens ist. Beim Durchblättern der drei einzigen damals publizierten Provoke-Magazine, entsteht der Eindruck, dass etwas aufgebrochen wird, dass da „etwas“, das Leben vielleicht, die Situation, die Lage, das Bild erstmals explodiert, dass die klassische Repräsentation der Welt mit manchmal aggressiven Schwarzweiss­mitteln angegriffen und weggefegt wird. In diesen Bildern ist eine gewisse Nähe zum Vorgehen von Danuser zu spüren.

Hans Danusers 93 Fotografien von „In Vivo“ wollten das Beste der Fotografie mitnehmen und sie zugleich erneuern. Er verhielt sich explizit fotografisch, ging für seinen sieben Themen an viele verschiedene „Orte“ und fotografierte da, in diesen Bereichen, bewegte sich langsam und sorgfältig und brachte die Aufnahmen dann nach Hause ins eigene Labor. Das ist ein klassisches Vorgehen, das ist zudem eine Qualität, die so nur das fotografische Medium erlaubt. Er hat die Bilder auch in einer Art und Weise entwickelt und vergrössert, dass der schwarze Negativrand auf den Bildern zu sehen, dass der Rand im Notfall als „Beweis“ dienen kann, dass Danuser „da gewesen“ ist. Aber er hat den Rand nie gezeigt, weder im Buch noch in den Ausstellungen. Er hat ihn immer abgedeckt oder für den Druck auf der Lithographie weggeschnitten. Denn sein Weg wollte anders, sollte neu sein, weg von der dokumentarischen Bestandes-, Belegsaufnahme, an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit gewesen zu sein, hin zu einem fotografischen Bild, das Grundsätzliches zeigt, das Strukturen festhält, das abstraktes Wissen in Bilder fassen will, das essentielles menschliches Verhalten, Forschen, Untersuchen, Entwickeln, Produzieren, der achtziger Jahre in Bildern visualisieren will, die sowohl Information wie Emotion, Sachliches wie Konnotatives, Beschreibung und Bildhaftes, Schärfe und Pelziges erlauben. Ja, seine Fotografien wirken pelzig, samtig, man meint sie berühren zu wollen, so reich an Tonalitäten, so reich und dicht wirken sie in ihrem Silbergehalt. Informationen versinken im tiefen Schwarz oder bleichen im hellen Weiss aus, und bleiben dennoch bestehen, sind da, geben zu denken und zu fühlen. Danuser beharrte auf dem fotografischen Benehmen, wollte aber Bilder herstellen, die Fotografie weitertreiben, sie aus ihrer Motivecke. Beweisecke vertreiben, aber dennoch nicht bei der damals explodierenden Kunstfotografie landen, er blieb im klassischen Fotoformat und beteiligte sich nicht an den explodierenden Formaten in Malerei und Fotografie, an den Billboards, der neuen Grossmalerei, Grossfotografie, vielmehr ging er einen neuen dritten Weg, zwischen den bestehenden Kategorien und reportierte mit der fotografischen Bildkraft eines Malers, eines Filmers, eines Tarkowski oder Fritz Lang.

Weder die Themen noch die Bilder sind gealtert in den nun vergangenen 30 Jahren, und wenn doch, dann sind sehr gut gealtert. Entsprechend wird diese Werkgruppe auch international immer wieder aufgegriffen. Ja, die Genforschung ist heute bedeutend weiter, Star Wars wurde aufgegeben, aber die Grundsätze von Wissen und Macht, von Macht und Gewalt bleiben bestehen, und Danusers Bildsprache stünde jedem echten, intensiven Bild- und Themen-Tiefschürfer von heute gut an. Die Verschränkungen von Buch und Ausstellung, das parallele (fast musikalische) Entwickeln der Bildthemen in den unterschiedlichen Erscheinungsformen hingegen wird einzigartig bleiben. Danuser selbst hat danach den Schritt in die Grösse, in die physische Konfrontation mit dem Bild gewagt, zum Beispiel mit den vier hoch- und vier querformatigen eisengerahmten Grossfotografien von „Strangled Bodies“ in der Mitte der neunziger Jahre, mit denen sein Werk definitiv auch installativen Charakter erhält.