9 April – 5 June 1994  /  Fotomuseum Winterthur

Industriebild / Industrial Image
The Eastern Swiss Economic Region from 1870 to Today
Co-Curated with Giorgio Wolfensberger

Eröffnungsrede

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Meine Damen und Herren,

 

zu diesem Projekt gäbe es endlos zu erzählen. Von aventüren, von Eroberungen, von Niederlagen, selbst vom sich verligen, vom sich verlieben in die eine und vom vernachlässigen der anderen, vielleicht höheren Sache, ganz so als seien wir, Giorgio Wolfensberger und ich, Ritter in einem mittelalterlichen Minnelied gewesen. Das Verhalten mag manchmal ähnlich gewesen sein, aber wir waren weniger Ritter am mittelalterlichen Hof, die der Projektion Frau oder dem Gral nachjagten, weniger auch Don Quichotte und Sancho Pansa, die verzweifelt den Lauf der Zeit aufzuhalten versuchten als dass wir uns manchmal wie Ritter der Moderne, wie Ritter des 20. Jahrhunderts vorkamen, die sich für etwas interessieren, das besonders jene nicht ganz begriffen, denen unser Interesse galt.

Von allem Anfang an nahm uns die Idee eines Projektes zur fotografierten Industriegeschichte gefangen. Als sich klärte, dass das Fotomuseum seinen Ort nicht nur in Winterthur, einer der exemplarischen Industriestädte der Schweiz, sondern dort in einer ehemaligen Fabrik, die in ihrer Geschichte einst Elastikwäschefabrik, dann Papierwarenfabrik und schliesslich Schreinerei war, finden wird, tauchte der Gedanke erstmals auf. Vom Ende einer bestimmten Industrieepoche her gesehen also, denn wie beim Eisenwerk in Frauenfeld, der Kammgarnfabrik in Schaffhausen, der Roten Fabrik, der Wehrli-Mühle, dem Schöller-Areal in Zürich und wie bei vielen anderen einst berühmte Fabriken und Fabrikareale in Winterthur, Baden, Zürich-Oerlikon, so wurde auch die Elastikwäschefabrik schliesslich einer kulturellen Bestimmung übergeben. Strukturwandel schafft Räume.

Als sich viele Interessierte fragten, wie denn dieses neue Fotomuseum funktionieren werde, diente das Industriefotografie-Projekt jeweils als anschauliche Argumentation. Es liess sich damit verständlich machen, dass es nicht nur viele nationale und internationale Fotografen und Fotografinnen, Künstler und Künstlerinnen gibt, die mit der Fotografie ihre Sicht der Welt zur Diskussion stellen, sondern dass es noch unendlich viel mehr Fotografie gibt, dass das 20. Jahrhundert angefüllt ist mit anonymer Fotografie, die für die unterschiedlichsten Zwecke gemacht worden sind und die mit der Zeit zu einem kulturellen Erbe in Bildern werden. 

Was wir nicht von allem Anfang an wussten, was sich erst mit der Recherche herauszustellte, war die Fülle an Fotografien, die in den Firmenarchiven lagert, und ihre Vielfältigkeit, auch wenn ein ganz grosser Teil Sachfotografie von Werkteilen und fertigen Produkten ist. Manchmal war es fast überwältigend, wie sich vor uns eine Welt in Bildern auftat, von der wir alle wissen, die wir aber meistens nicht wirklich kennen: von der Strumpfnäherin in einem Appenzeller Dorf zum Maschinenschlosser und seinem Riesenzahnrad in einer Grossfabrikationshalle, von der Fabrikantenvilla zur Fremdarbeiterbaracke, vom einfachen Suppenwürfel zur höchst komplexen Maschinerie, von der Produktion bis zur Verpackung. Manchmal packte uns die Euphorie, hier eine Art Gegenwelt, zumindest ein Gegenbild zur nachwievor prägenden Vorstellung eines konservativen Alpen-Käse-Schokolade-Uhren-Landes bieten zu können. Ein Bild, das von einer manchmal harten, aber auch stolzen Industriezeit erzählt, von einer Schweiz, in der geplant, geforscht und realisiert worden ist, auch in schwierigen Zeiten, von einer technisch innovativen, denkerisch frischen, von der Modernisierung der Schweiz, aber auch von einer Schweiz mit sozial-wirtschaftlichen Spannungen, mit Ungerechtigkeiten, mit Arbeitskämpfen.

Die Fülle bot sich aber nicht selbstveständlich an. Nein, sie hätten gar nichts, der Besitzer habe oft gewechselt, sie hätten alles weggeworfen, nein, sie hätten keine Zeit, für uns in den Keller zu steigen, war oft die Antwort. Am Ende des Insistierens gab es aber auch positive Überraschungen: Dann nämlich, wenn auf die ersten Anfrage keine, auf die zweite eine abschlägige Antwort folgte, das Archiv sei langweilig und unbedeutend und schliesslich daraus die Einladungskarte und das Plakat - von Trix Wetter (vielen Dank) als Wurf gestaltet - entsteht. 

Zwei Gründe dürften für dieses Desinteresse zu Beginn verantwortlich sein: Erstens gilt die Industriegeschichte, obwohl die Industrie Motor der modernen Gesellschaft nachwievor  als statusneutrale oder statursniedrige Geschichte. Zweitens ist die Industrie kein Ort der Kontemplation. Ihr Ziel ist die Produktivität, ihr Denkenn und Handeln ist instrumentell auf Gegenwart und Zukunft ausgerichtet.Dem konnte sich auch die Fotografie meist nicht entziehen. Sie wird verlangt, eingesetzt, abgelegt und vergessen. Und gerät die Produktivität einer Firma ins Schwanken, dann wird selbstverständlich abgebaut, auch die Vergangenheit, auch das Firmenarchiv. Ausnahme ist fast einzig das Firmenjubiläum.

Der wenig bedeutsame Status der Industriegeschichte spiegelt sich oft auch im Zustand der Fotografien und der Archive. Fotos, jahrelang dem Staub und der Feuchtigkeit asgesetzt, Glasplatten, so viele übereinandergestapelt, dass sie unweigerlich verkratzen. Fardias, von sovielen Fingerabdrücken zerfressen, dass sich die Buntheit aufgelöst hat. Ein bisschen erstaunlich ist das dennoch, denn die Fotografie erscheint uns doch als das wirklich geeignete Medium, Industrie zu dokumentieren, ist sie doch selbst Produkt des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts, selbst ein mechanisch-physikalisch-chemisches Instrument, ein Prinzip, das zur Zeit der Industrialisierung entdeckt wurde und das der Vorstellung der Machbarkeit und Inbesitznahme der Welt das entsprechende Bild liefert. Vielleicht ist es gerade die Aehnlichkeit , die Verwandtschaft im Prinzip, die die Fotografie zum Teil degradiert haben.

Dennoch, wir haben viele Archive gefunden, Giorgio Wolfensberger durchstreifte viele niedliche Schuhschachtel-Archive und bestens ausgestattete Archiv-Depots. Die Bilder, die sich da in dicken, verzogenen Wälzern darbieten, formen Bildterritorien, in den das wichtige neben dem unwichtigen, der Direktor neben dem Firmenpöstler, das Produkt neben die Menschen gestellt wird. Die Chronologie als einfaches, geradliniges Ordnungssystem erzeugt fast das Gegenteil, ein überraschend buntes, kurioses Beisammensein von Fotografien, deren erste und letzte Pflicht es war, sachlich, das heisst, unverzerrt, ausgeglichen und mit möglichst umfassender Schärfe zu berichten: eine Sachlichkeit, die schliesslich zum Dogma der Industriefotografie wurde.

Die Fülle war vielleicht die letzte Entscheidungshilfe, das dieses Projekt einzugrenzen sei. Es war klar, dass Winterthur im Zentrum stehen würde, aber soll es eine Ausstellung zu Winterthur und Umgebung, die Ostschweiz oder die ganze Schweiz werden? Gar im Vergleich mit der Industrie im Ausland? Wir entschieden uns für einen einzigen Wirtschaftsraum, in der Schweiz der grosse Wirtschaftsraum Ostschweiz, wie er in der Geschichte sich formiert hat, wie die Textil- und aus ihr die Metall- und Maschinen- und schliesslich die Elektro- und Nahrungsmittelindustrie entstanden sind. Ein Wirtschaftsraum, mit seinen Eigenheiten, aber auch stellvertretend für andere. Durch die Eingrenzung konnte man vielleicht tiefer graben, waren vielleicht Bilder von längst vergessenen Firmen zu finden. Durch die Eingrenzung bietet sich die Chance, Zusammenhänge, Vernetzungen, Entwicklungsstränge deutlicher werden zu lassen.

Es ist eine Bildergeschichte zur Industrie der Ostschweiz geworden, eine Ausstellung und ein Buch, die den fotografierten Teil der Industrie auferstehen lassen, die die Bilder, viele davon erstmals, die meisten davon als Originalfotos aus ihrer Zeit, zur Geschichte der Industrie vorstellen. Das Buch folgt in etwa dem Fluss der Zeit, der Entwicklung der Industrie von der Textil- zur Maschinen- zur Elektroindustrie, schiebt dazwischen Kapitel zur Architektur der Indsutrie, zur Frauenarbeit und Nahrungsmittelproduktion, zu den sozialen Komponenten und den Verkehrswegen und -mitteln, die für die Entwicklung der Industrie unabdingbar waren. Die Ausstellung gehorcht ein bisschen eigenen Gesetzen, sie ist freier und strenger zugleich. Sie kann besonders vorführen, wie warm oder kalt, wie bunt gar die verschiedenen Tonalitäten der Fotografien, wie eindrücklich diese auftragsgebundenen Fotos sind. 

Ausstellung und Buch sind sowohl Fotografie- wie Geschichtspräsentation zugleich geworden.

Abgesehen vom Interesse, der Neugierde und Lust an dieser Bildwelt, verbinden wir dieses Projet mit einem Appell: Es ist Teil der Natur der Privatwirtschaft, dass diese Archive privat sind, den verschiedenen Firmenn gehören. Darin enthalten ist aber ein kulturelles Erbe von allgemeinem, von nationalem Interesse. Deshalb die dringende Bitte, diese Bilder, diese Archive nicht bei Gelegenheit einfach aufzulösen oder gar wegzuwerfen. Die Bilder einer der imposantesten Zeiten der Schweiz wären unwiederbringlich verloren. Wir zeigen hier viele der Fotografien erstmals und viele, wenn nicht die meisten sind Zeugnisse aus ihrer Zeit.

Dieses Projekt wäre nicht zustande gekommen ohne die Hilfe vieler. Verzeihen Sie, dass ich zuerst all den direkt Beteiligten danke, allen voran Giorgio Wolfensberger , ohne den das Projekt blosse Idee geblieben wäre.Er hat ein Jahr lang mit seinem Jger- und Sammlerinstinkt die Archive durchforscht. Dann danke ich Jean Robert für die wunderbar riskante Buchgestaltung, Willi Wottreng für die vielen spannenden Texte im Buch, allen Autoren, Herrn Egli von der Firma Straumann und dem Waserdruck für den riskanten Overdrive beim Lithographieren und Drucken, dem Werd Verlag, Herrn Laube und besonders Frau Sieg für den heftigen gemeinsamen Einsatz. Margarete Wolfensberger für die fast zahllosen Legenden. Das Projekt ist nicht nur Buch, sondern auch Ausstellung geworden. Auch da ging es in den letzten Tagen ungestüm zu und her. Suzette Beck hat mit gewohnter Übersicht ihr Aufbauteam angeleitet. Vielen Dank. 

Manchmal glich dieses Projekt, und vor allem die Suche nach einer finanziellen Basis verblüffend dem Gang eines Kreditbegehens. Der Weg war hart, steinig, wir hatten vorweg zu beweisen, wie gut das Resultat sein wird. Schliesslich vermieden wir ein finanzielles Fiasko dank der folgenden Firmen und Institutionen:

Zürchr Kantonalbank

Straumann AG

Bundesamt für Kultur

Stadt Winterthur

Pro Helvetia

Kulturprozent Migros

Cassinelli-Vogel-Stiftung

Kanton Glarus

Kanton Thurgau

Gebrüder Straub, Zug

SIG, Neuhausen

Sulzer AG, Winterthur

Industrie- und Handelskammer St.Gallen-Appenzell

Schweizer Heimatschutz

Kanton Schaffhausen

Stadt St.Gallen

Feldschlsschen, Rheinfelden

Knorr, Thayngen

NOK

Schweizerische Seidengazefabrik, Zürich

Sinar AG, Feuerthalen

Johann Jacob Rieter-Stiftng

Geilinger AG

Lindt&Sprüngli

Sulzer-Escher Wyss

Bischoff Textil AG, St.Gallen

Schweizerischer Gewerkschaftsbund

Wir danken auch allen Fotografen, allen Firmen und Institutionen, die uns ihre Fotografien ausgeliehen haben, sei es für das Buch oder die Ausstellung. Besonders danken möchten wir den folgenden Personen: Herrn Dr. Stüdelin von der Sulzer AG, der uns von allem Anfang an geholfen und ermuntert hat, Frau Thomann von Haldengut, Herrn Hans Meier von der Firma Maag, Herrn Josef Hugentobler von der SIG, Herrn Mäder von der Escher Wyss, Herrn Theo Stalder von der Georg Fischer, Herrn Erich Winiger von der Firma Bühler. Uzwil, und Herrn Widmer und Herrn Breitenmoser von Sulzer Werbung, die uns meist schnell und perfekt die gewünschte Abzüge geliefert haben.

Eine Nachbemerkung: Sie kennen die Regel, man solle Brot nicht warm essen, weil es Bauchschmerzen verursacht. Abgeändert heisst diese Regel hier: lassen Sie Ihr Buch 24 Stunden liegen. Oeffnen Sie es zur Hälfte von vorne, zur anderen Hälfte von hinten. Das Buch hält so viel länger, denn es wurde erst heute morgen zwischen 6 und 8 Uhr gebunden. Taufrisch - vielen Dank und viel Vergnügen.

 

 

Co-curated with Giorgio Wolfensberger.

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Installation view, Fotomuseum Winterthur, Marianne Müller

Switzerland experienced a proud industrial period. In the archives of companies from eastern Switzerland hundreds of thousands of photographic documents are stored: of spinning mills, weaving mills, textiles, of metalworking and electrical industries, of machines, the production of clothing and food, building of streets, railroads, power plants, and factories.

These photographs are stored in the cellars of factories on glass plates, blueprints, or as careful prints, lie forgotten in shoeboxes, exposed to dust and dampness, or have been carefully archived and chronologically ordered in photo albums. Until now little attention has been paid to them. Yet they are a fantastic pool of documents from the history of our country, which convey visual information about all aspects of industry, about the modernization of Switzerland, about the innovations and production forces of the once young companies, about life in the factories, which was off-limits to outsiders, about the mentality in the various industries, the social coexistence or clashing between those on top and those underneath, about women’s and men’s work, leisure, and industrial discipline. They also present the monumental, fantastic sides of the industrial buildings and machines in the usually small-format Switzerland.

Giorgio Wolfensberger, himself a trained photographer of industry, has sifted through many company archives for the Fotomuseum Winterthur. The selected photographs – many of which are shown for the first time – form a visual history of the economic space of eastern Switzerland and the industrial photography from 1870 to today.

External Link: www.fotomuseum.ch/…