Mai 2015

Industry Now
Contemporary Images from the MAST Collection of Industrial Photographs

Industriefotografie im klassischen Sinn war interessant bis in die sechziger, siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Bis dahin bestimmten die Fachkamera, das Stativ, grosse Scheinwerfer und Blitzanlagen, aufwändige Vorbereitungen und eine ausgeklügelte Retusche-Technik sowohl am Negativ wie am Positiv das auffallend scharfe, präzise Bild der Industrie. Das war die Auftragssituation für den Industriefotografen. In grossen Industrien gab es eigene Abteilungen mit Fotografen, Retuscheuren und Lithographen für die Herstellung einer möglichst perfekten fotografischen Kommunikation und Dokumentation.

Im Zuge der Verschlankung der Firmen, der Besitzerwechsel, der schärferen Kostenkontrolle wurde in den vergangenen drei Dekaden nicht nur tonnenweise die visuelle Geschichte vieler Firmen weggeworfen, sondern Bildaufträge nach innen an Amateur-Fotoklubs und nach aussen an schnell schiessende Kleinbildfotografen vergeben. Mit dem Resultat einer sichtbaren Verschlechterung, ja Verwässerung der Industriefotografie. Der Stolz der Industriefotografie, die hochpräsente Darstellung von Maschinen, Architektur, Produktionsabläufen und Produkten, verschwand für eine Weile. Das zunehmende Unsichtbarwerden der Produktionswelt als Folge der Technologisierung, der Digitalisierung, und die Verlagerung von Schwerindustrien in entfernte Billiglohnländer verschärfte diese Bild-Situation noch. 

Doch die Industrien produzierten weiter, sie entwickelten sich, verlagerten sich, beschleunigten sich. Sie arbeiten heute mit neuen Werkstoffen, neuen elektronischen Steuerungen, neuen Produktionsabläufen bis hin zum Einsatz von 3-D-Druckern. Parallel zur «kulturellen Revolution» in der Gesellschaft der 1960er und 1970er Jahre ist die westliche Industriegesellschaft von einer zweiten Revolution eingeholt worden: der «High-Tech-Revolution». Diese Revolution, welche wiederum markante Veränderungen ins Leben und Arbeiten mit sich gebracht hat, hat den Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft oder sogenannten Postindustrie herbeigeführt. Der Begriff bezeichnet Technologien, die sich in ihrer Entwicklung an vorderster Front befinden, die durch radikale technologische Innovationen und die weit engere Zusammenarbeit von Wissenschaft und Industrie neue Lösungswege entwickeln, die den Wettbewerb am Markt wesentlich verändert haben. «Nicht die Produktivfaktoren ‹Arbeit› und ‹Kapital›, auch nicht die Produktivität materieller und energetischer Ressourcen oder der Ressource Information schlechthin enthalten den Schlüssel für den sozialen und ökonomischen Strukturwandel, sondern der Produktivfaktor ‹Wissenschaft› und ‹Technologie›.» (Rolf Kreibich: Die Wissensgesellschaft, Köln 1986). Noch schneller verändert sich die Wirtschaft und Gesellschaft heute durch die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologie, durch das Internet. Die Revolution der Informationstechnologie hat Raum und Zeit neu verbunden und somit das Raum- und Zeitverhältnis der Postindustrie stark verändert. «Past societies [...] were primarily space-bound or time-bound. They were held together by territorially-based political and bureaucratic authorities and/or by history and tradition. Industrialism confirmed space in the nation state while replacing the rhythms and tempo of nature with the pacing of machine. [...] The computer, the symbol of the information age, thinks in nanoseconds, in thousandths of microseconds. Its conjunction with the new communications technology thus brings in a radically new space-time framework for modern society.» (Krishan Kumar, From post-industrial to post-modern society. New theories of the contemporary world. Malden MA: Blackwell, 2005)

Während die alt bekannte Form der schmutzigen und öligen Fabrik spätestens seit den 1980er Jahren aus Westeuropa verschwunden ist, ist ein neuer Typ von Fabrik aufgetaucht: der Showroom. In den Showrooms werden Herstellungsprozesse wie Theaterstücke aufgeführt und dienen als Ausstellungs- und Marketingräume der Unternehmen. Industrieproduktion wird im Westen bewusst ins kulturelle Leben eingeführt. Beispielsweise mit der Gläsernen Manufaktur, die Volkswagen für die Produktion des Phaetons in Dresden errichtet hat. Die Fabrik wird zu einer Mischung aus kulturellem, rituellem und produktivem Ort: Die Fabrik kann für Anlässe, selbst für Hochzeiten gemietet werden. «Hier wird nur ein Auto – die Oberklassenlimousine VW Phaeton – aus angelieferten Teilen montiert. Vor allem aber dient die Gläserne Manufaktur dem Unternehmen dazu, Kunden und Besuchern die Aura der Marke zu visualisieren. [...] Die Arbeit am Produkt Phaeton wird den Besucherinnen und Besuchern der Manufaktur wie auf einer Theaterbühne präsentiert. Der Produktionsprozess selbst ist damit Teil des firmeneigenen Marketings.» (Julia Franke, Von der Produktion zur Performance. Fotografie der Dienstleistungsgesellschaft, 2010)

Werfen wir einen Blick auf die gesamte Welt, dann erkennen wir die Gleichzeitigkeit von vorindustriellen, industriellen und nachindustriellen Gesellschaften und Industrien, je nach Region, je nach Kultur, je nach Stand der Entwicklung. Während in Europa, in der aufziehenden Dienstleistungsgesellschaft, Industrien nur noch zu entwickeln und zu steuern, zu organisieren scheinen, wird andernorts weiterhin intensivst und sehr rauchig produziert. Der Einfluss der Produktion auf die Gesellschaft ist jedoch nicht geringer geworden. Dass wir heute immer noch informative, nachdenkliche Bilder von der industriellen Produktion betrachten können, verdanken wir nicht mehr den firmeneigenen Fotografen, denn die gibt es kaum noch, sondern den Künstlern und Künstlerinnen, den besonders aufmerksamen, oft konzeptuell denkenden Fotografen. Wir verdanken es ihrer Beschäftigung mit den industriellen, den technologischen Prozessen, mit dem Verhältnis von Industrie und Gesellschaft, ihren Fragen nach den Machtverhältnissen und nach dem Einfluss auf Mensch und Natur, dass wir weiterhin aufklärende Bilder aus dem riesigen, gewaltigen Produktionsreich erhalten.

MAST zeigt in «Industry Now» zeitgenössische Industrien in zeitgenössischen Fotografien von 23 Künstlern und Fotografen, Künstlerinnen und Fotografinnen. Olivo Barbieri zum Beispiel veranschaulicht in seiner sieben Meter langen Fotografie einer Produktionshalle von Ferrari, wie strahlend weiss und mit grossen grünen «Zimmerpflanzen» versehen, aber auch wie menschenleer die Hallen geworden sind. Wie bei Ferrari, so werden auch bei BMW und, wie erwähnt, bei Volkswagen die Fabriken zu Bühnen: «Sie erleben in zweieinhalb Stunden die perfekt abgestimmte Choreographie von über 800 Robotern im Karosseriebau, die Präzisionsarbeit der Roboter in der Lackiererei und die manuelle Fahrzeugausstattung in der Montage. Jeder BMW wird hier zu einem ganz individuellen Einzelstück.» So lautet der verführerische Wortlaut in einer BMW-Werkführung in Leipzig. Henrik Spohler und Vincent Fournier führen uns durch eine zunehmend unsichtbar werdende Daten- und Produktionswelt, in denen uns nur noch Hinweisschilder helfen, uns zu orientieren, denn Raum und Zeit sind als zentrale Ordnungsmuster ausgeblendet. Carlo Valsecchi fotografiert zeitgenössische Produktionen wie die autonomen Skulpturen einer «science and industrial fiction», einer High-Tech-Welt, die unseren Alltag zunehmen bestimmt. Trevor Paglen scheint sich der puren Himmelsfotografie verschrieben zu haben, wären da nicht die vielen weissen Streifen, die auf Satellitenbahnen und hochtechnologische militärische Überwachung hinweisen. Die Welt wird von Satelliten-Kameras alle 14 Tage wieder von neuem gänzlich durch- und abfotografiert. Ariel Caines Luftaufnahmen von Industrieanlagen profitiert davon. Thomas Struth beschäftigt sich in der Fotografie «Tokamak Asdex Upgrade Interior 2» mit hochtechnologischer Forschung am Max-Planck-Institut. In seinen Fotografien zeigt er keine Fabriken, sondern Forschungszentren, was sich mit der engen Verknüpfung zwischen Technologie und Wissenschaft in der Postindustrie deckt. Seine Bilder kommentieren unseren Glauben an den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt mit einem kritischen Blick. Vera Lutter wiederum widmet sich in ihren dunklen Lochkamera- Bildern weiterhin der Schwere, der Mächtigkeit von Industrieanlagen, und Miyako Ishiuchi dokumentiert die  jahrhundertealte Seidenproduktion in Japan aus heutiger Sicht. Richard Learoyd zelebriert die Elegie des Transports, der Logistik innerhalb des Produzierens und Wirtschaftens.

Auch in postmodernen, nachindustriellen, hochtechnologischen Zeiten kreieren der Besitz und der Einsatz von Produktionsmitteln und Know how verschiedene soziale Unebenheiten. Jacqueline Hassink, Allan Sekula und Bruno Serralongue beschäftigen sich mit diesen sozialen und gesellschaftlichen Fragen und Unterschieden, während Ad van Denderen und Jim Goldberg den leeren, weissen Fabriken die farbigen, schleppenden Migrationsströme entgegenhalten. Brian Griffin spiegelt die Körpersprachen von CEO’s und Managern. Ed Burtinsky zeigt, wo und wie die grossen Transportschiffe recycelt werden; die Fotografie von Sebastião Salgado erinnert daran, dass es neben Roboterproduktionen weiterhin Gegenden auf der Welt gibt, in denen höchst arbeitskraftintensiv gearbeitet wird. Schliesslich rauchen bei Mitch Epstein zwei Kamine heftig um die Wette.

Die Ausstellung «Industry Now» vereint Fotografien von Olivo Barbieri, Brian Griffin, Ed Burtinsky, Bruno Serralongue, Ariel Caine, Vincent Fournier, Peter Fraser, Jim Goldberg, Jacqueline Hassink, Miyako Ishiuchi, Henrik Spohler, Stephane Couturier, Richard Learoyd, Vera Lutter, Mitch  Epstein, Trevor Paglen, Sebastião Salgado, Hiroshi Sugimoto, Carlo Valsecchi, Ad van Denderen und Massimo Vitali. Und im Erdgeschoss werden Filme von Simon Faithfull und Allan Sekula/Noël Burch vorgeführt.

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