April 2015  /  www.artlog.net

Interview – Prix Meret Oppenheim 2015

Martin Jaeggi im Gespräch mit Urs Stahel

Martin Jaeggi: Die meisten Leute kennen dich als Mitbegründer und Direktor des Fotomuseums Winterthur. Seit zwei Jahren bist nun nicht mehr am Fotomuseum Winterthur – was machst du heute?

Urs Stahel: Ich unterrichte einerseits Fototheorie und -geschichte an der ZHdK, ich bin da für ein kleines Pensum angestellt. Dann war ich letztes Jahr Gastdozent an der Universität Zürich mit einer umfangreichen Vorlesungsreihe und einem Seminar. 


MJ: Zu welchem Thema?

US: Das Thema, das ich mir gegeben hatte, war «Vom Krieg der Körper zum Reich der Zeichen – Fotografie 1950 bis 2000». Ich untersuchte den enormen Einfluß des Zweiten Weltkriegs auf die Fotografie und Kunst der 1950er und frühen 1960er Jahre, der nach wie vor nicht ausreichend erforscht ist, wie ich meine. Das Seminar beschäftigte sich mit Industriefotografie. Das bringt mich zu einem zweiten Teil meiner gegenwärtigen Arbeit: Ich bin in Bologna an einer neuen Institution tätig, die MAST heißt – Manfattura di Arti, Sperimentazione e Tecnologia, auf deutsch Manufaktur der Kunst, Erfahrung und Technologie. Es ist ein neues Zentrum für Industriekultur, das vor 1 ½ Jahren am Rande von Bologna eröffnet wurde. Die Fondazione MAST ist, wie einige andere Stiftungen auch, von Isabella Serágnoli gegründet worden, eine wohlhabende Fabrikbesitzerin mit grossem sozialen und philantrophischen Anspruch. Sie will mit dieser Institution der Jugend industrielle Erfindung, Planung, Produktion, Marketing beibringen, damit Europa nicht ganz zum Dienstleistungskontinent verkommt. Ich bin in  Teilbereich dieses Zentrums tätig. Ich baue einerseits eine Sammlung von Industriefotografie auf. Das umfaßt Architektur, Städtebau, Maschinen, Produkte, Arbeiter, eben alles, was corporate photography umfasst. Gleichzeitig kuratiere ich dort drei Ausstellungen pro Jahr zum Thema Industriefotografie. 

Dann verfolge ich weitere Ausstellungsprojekte. Eigentlich habe ich mir vorgestellt, daß ich nach meinem Weggang vom Fotomuseum eher kammermusikalische Projekte machen würde. Ich hatte die Idee, daß ich ein Büro mit 100 Quadratmetern beziehen würde, wo ich an zwei Wänden ab und zu ganz besondere Bilder hängen würde – das wären dann meine Ausstellungen, eine Vorstellung, die ich ganz wunderbar fand. Doch das Gegenteil ist zur Zeit der Fall: Ich arbeite an einem symphonischen, nachgerade gigantischen Projekt in Deutschland, einer Biennale in drei Städten, Ludwigshafen, Mannheim und Heidelberg, in 7 Museen mit einer Ausstellungsfläche von 4'000 Quadratmetern. Das entspricht nicht ganz diesen 100 Quadratmetern, die ich mir vorgestellt habe. Die Ausstellung eröffnet im September 2015, ich bin mit Volldampf dran. Dennoch: Es macht mir unglaublich Spaß, auch weil ich glaube, daß ich ein gutes Thema entwickelt habe. 


MJ: Was ist das Thema dieser Ausstellung?

US: Ich nenne es 7P7 Places, 7 Precarious Fields. Das umfaßt Themen wie Kommunikation und Kontrolle, Wissen und Macht, Gewalt und Zerstörung, Geld und Gier. Ich versuche – entgegen dem gegenwärtigen Trend der Fotografie, wie Malerei zusehends selbstreferentieller zu werden – die ursprüngliche Aufgabe der Fotografie, sich den Realitäten der Gegenwart zu stellen, wieder ins Zentrum zu rücken. Aber nicht in der Art und Weise der klassischen Reportagefotografie, die mit dem Zeigefinger auf Dinge hinweist und meint, damit gleich das Problem mitgelöst zu haben. Es geht mir vielmehr darum, daß wir die Konfliktfelder der Welt ins Auge fassen. Ich möchte FotografInnen zeigen, die in solchen Feldern arbeiten – im Gegensatz zu jenen, die diese Felder bloß ablichten. 

Daneben schreibe ich auch regelmässig. Damit habe ich das Wesentliche aufgeführt: Ich schreibe, kuratiere, halte Vorträge und unterrichte regelmäßig an der ZHdK. Es ist also eingetroffen, was ich hoffte: Ich arbeite als Einzelgänger in dem Feld, in dem ich eine Expertise vorweise kann, und gehe dabei neue Wege. Ich fahre nicht mehr an sieben Tagen in der Woche von Zürich nach Winterthur, sondern fahre nach Bologna, nach Mannheim, nach Paris oder werde zu einem Vortrag nach Indien oder Sâo Paulo eingeladen. Für mich persönlich war es der absolut richtige Entscheid, nach zwanzig Jahren das Fotomuseum Winterthur, quasi das eigene Kind, aktiv zu verlassen, noch im Vollbesitz der eigenen Kräfte, um etwas Neues anzufangen – so grossartig die 20 Jahre auch waren. Irgendwann wurde für mich die Vorstellung fast unerträglich, daß ich im Fotomuseum auf meine Pensionierung warte und qua Erreichung des Pensionsalters aus einer Institution weggeschoben werden würde, die ich selbst mitbegründet habe. Es wurde dringlich wegzugehen, und dieser Weg ist hochspannend und großartig. 


MJ: Inwiefern hat sich deine Arbeit qualitativ verändert im Vergleich zu deiner Zeit im Fotomuseum?

US: Ich bereitete letzten Sommer hier zuhause und in einem Haus in Soglio meine Vorlesung für die Uni vor. Dabei las ich sehr viel Theorie. Es ist ja eine merkwürdige Situation: In den 1970er und 1980er Jahren lag kaum Theorie zur Fotografie vor. Es gab eine Handvoll berühmter Bücher – Susan Sontag, Roland Barthes, John Berger und dann habe ich schon Mühe, ein viertes oder fünftes zu finden. Um 1997/1998 hob eine Welle von Fototheorie und -geschichte an, die seither exponentiell angestiegen ist. In dieser Zeit leitete ich nun aber das Fotomuseum, was bedeutete, daß ich zusehends überlastet war, vor allem mit Managementaufgaben, mit der Leitung eines KMU, so daß ich keine Zeit hatte, dies zu verfolgen. Manchmal konnte ich etwas herausgreifen, um es für ein Projekt ganz utilitaristisch möglichst schnell durchzukämmen. Das war's dann aber auch. Es war nun großartig, letzten Sommer drei Monate lang zu lesen, zu schreiben, zu recherchieren und dazwischen in den Bergen zu wandern. Genau dies wollte ich – eine Rückkehr zu den Inhalten. Ich lese, schaue Dinge an, rede mit Künstlern. Merkwürdigerweise rede ich mit sehr viel mehr Künstlern, seit ich vom Museum weg bin. Damals hatte ich das Gefühl, ich hätte für Atelierbesuche keine Zeit mehr. 


MJ: Spiegelt dies nicht einfach auch, wie sich der Beruf des Museumsdirektors hin zu einer Managerposition entwickelt?

US: Ich glaube, es hängt sehr von der Größe der Institution ab. 1993 waren wir 2 ½ Leute, die zusammen das Fotomuseum schmissen. Ich hatte eine rechte administrative Hand, und jemand war 50% für Technik und Aufbau angestellt. In dieser Situation kann man in der Kaffeepause alles besprechen, man muß keine formellen Sitzungen abhalten. 

Wenn eine Institution wächst, wenn nach zehn Jahren immer mehr Leute mitarbeiten – und damit hatte ich durchaus meine Schwierigkeiten – dann muß alles formalisiert werden, man hält plötzlich täglich und mehrfach Sitzungen ab. Das verstärkt sich mit der zunehmenden Größe. Wenn man Direktor des Whitney Museums, des SFMOMA, aber auch schon des Kunsthaus Zürich ist, dann ist man Lichtjahre von den Inhalten entfernt, weil man nur noch mit Organisation beschäftigt ist. Bei jemandem wie Adam Weinberg vom Whitney Museum, den ich gut kenne und mit dem ich auch eine Ausstellung gemacht habe, spüre ich, daß es für ihn nicht den Hauch einer Chance gibt, in dieser Funktion überhaupt nochmals eine Ausstellung zu machen. Je größer ein Museum, je mehr ist der Direktor ein Firmendirektor wie jeder andere auch. 200 bis 300 Mitarbeiter müssen geführt werden, man muß Geld suchen, täglich Mittag- und Abendessen mit möglichen Sponsoren und Gönnern hinter sich bringen.

Das Fotomuseum Winterthur hat nicht diese Größe, aber die Entwicklung von 1993 bis 2013, als das Fotozentrum eröffnet wurde, von einem Minimuseum, betrieben von 2 ½ Leuten, zu einem Betrieb mit 12 bis 13 festangestellten Menschen, mit 30 Leuten bei einem Jahresessen, hat meinen Job komplett verändert. Letztlich war mir natürlich die Pioniersituation näher als die Leitung eines KMU. Auch in dieser Hinsicht war mein Weggang der richtige Entscheid, auch wenn es eine Weile dauerte, bis ich ihn gefällt habe. 


MJ: In anderen Worten: Das Fotomuseum ist dir zu groß geworden.

US: Das ist zu kurz gegriffen. Es ist groß geworden, aber ich war auch zwanzig Jahre dabei. Das ist ein riesiger Lebensabschnitt, bei dem man sich irgendwann die Frage stellt: War's das in meinem Leben? Oder wage ich, mit sechzig nochmals neu anzufangen? 


MJ: Wie hat sich in den zwanzig Jahren, in denen du das Fotomuseum geleitet hast, die Fotografie verändert?

US: Enorm, glaube ich. Als wir 1993 das Fotomuseum eröffneten, fragten uns viele Leute, was das denn überhaupt sei, ein Fotomuseum. Die Leute hatten Gefühl, wir würden Fotoapparate ausstellen und hätten vielleicht eine Dunkelkammer im Keller, wo man in Workshops vergrößern lernen könnte. Die Vorstellung, dass man Fotografie in einem Museum ausstellen könnte, war anfänglich befremdlich, sicher wenig verbreitet. Mit der Eröffnungsausstellung, meine Wahl von Paul Graham war programmatisch angedacht als Plädoyer für eine stärker konzeptualisierte Form des Fotografierens draußen in der Welt, kann ich Dir eine zweite Antwort geben. Schon an der Vernissage wurde ich von Leute angemacht, was das für eine Schnapsidee sei, diesen Fotografen auszustellen. Als an einem Samstagnachmittag die gewerblichen Fotografen aus Zürich, nach einem ausgiebigen Mittagessen mit Weißwein leicht angeheitert, durch die Ausstellung gingen, haben sie nur moniert, daß hier der Kodakfarbkeil nicht berücksichtigt worden sei, daß die Schärfe nicht stimme, all diese technischen Vorbehalte. Es gab es in der Deutschschweiz, in Zürich damals nur ein sehr spärlich entwickeltes Bewußtsein für ein erweitertes Verständnis von Fotografie, die große Liebe zur reportierenden Schwarzweißfotografie herrschte weiterhin vor – mir wurde gesagt: «Aber sie zeigen doch sicher keine Farbfotografien?!» Wir kennen den Skandal, den die Eggleston-Ausstellung in den 1970er Jahren am MoMA auslöste, zwanzig Jahre später war das in Zürich immer noch ein Thema. 

1990 kuratierte ich zusammen mit Martin Heller die Ausstellung Wichtige Bilder im Museum für Gestaltung in Zürich, die überlappte mit einer Ausstellung der Fotoagentur Magnum im Kunsthaus Zürich. Ein Journalist und Kritiker veröffentlichte dann in der Weltwoche einen Artikel über die beiden Ausstellungen unter dem Titel Größer als Magnum ist keine Fotografie. Drei der vier Spalten, die er zur Verfügung hatte, füllte eine Abrechnung mit Wichtige Bilder, eine weitere Spalte widmete er einer Apotheose von Magnum, den Abenteuerfotografen, die in die unzugänglichsten Ecken der Welt reisen, die er nur unter Führung von Einheimischen, unter Einsatz all seiner mentalen, psychischen und körperlichen Kräfte, erreichen kann – und dies alles nur, um das aufregende Bild der fremden Welt in unsere Stube zu bringen. Obwohl das Fernsehen diese Aufgabe seit den siebziger Jahren übernommen hatte, war dies um 1990 immer noch die am weitesten verbreitete Idee von Fotografie. In den vergangenen zwanzig Jahre später hat sich dies ziemlich stark verändert.


MJ: Bist du sicher? Ich sehe hier durchaus eine gewisse Resistenz ...

US: Dein ketzerischer Einwurf ist berechtigt. Es hat sich vieles verändert. Es gibt aber weiterhin die schwarzweiß-produzierenden Fotografen, die, heute manchmal auch in Farbe, eine recht einfache Vorstellung des Verhältnisses von Bild und Welt hegen. Gleichwohl ist die Produktion anderer Arten von Bildern, auch im Schnittbereich mit der Kunst, sehr stark weitergetrieben worden. Eines kann man sicher sagen: Es gibt heute sehr viel mehr interessante Arbeiten, die sich auch mit der Bildproduktion selbst beschäftigen, der Frage nach der Wirkung von und dem Umgang mit Bildern. Das gab es um 1990 nur in Anfängen. 

Zudem gibt es hat sich das allgemeine Verständnis für Fotografie entwickelt. Wenn ich früher historische en im Fotomuseum zeigte, war das Publikum zwischen 40 und 100 Jahre alt, wenn ich zeitgenössische Ausstellung zeigte, war es zwischen 20 und 45 Jahre alt. Heute mischt sich dies. Auch alte Menschen haben inzwischen ein Interesse für zeitgenössischer Fotografie entwickelt, und einige junge Menschen erkennen, daß historische Fotografie, unter neuen Blickwinkeln betrachtet, durchaus interessant sein kann, gerade vor dem Hintergrund der Re-enactments der letzten Jahre. Dies heißt aber nicht, daß die schwierigen Formen des Umgangs mit Fotografie komplett verschwunden sind. 


MJ: Für die große Maße ist der Magnum-Fotografenheld immer noch der absolute Inbegriff der Fotografie.

US: Ja, leider stimmt das so. Und zwar die alte Form des Magnumbildes, inzwischen gibt es ja bei Magnum durchaus Leute, die wir beide respektieren. Die alte Form lebt trotzdem weiter, vielleicht gerade besonders jetzt, da wir in einer Welt leben, in der der die Sehnsucht nach der starken Figur stark zunimmt. Je komplexer die Welt, desto größer wird der Hang zu einfachen Lösungen, die freilich gar nicht existieren. Wenn wir die politische Situation in der Schweiz und international ansehen, dann stößt man auf die Sehnsucht nach der starken Figur, nach einem Helden, der uns retten wird. Dazu paßt dieses Bild des klassischen Magnumfotografen, der unter Einsatz all seiner Reserven für uns, für die Menschheit, für die Welt, für den Humanismus in der Welt herumreist. Vielleicht wird sich diese Haltung auch gar nie ausrotten lassen.


MJ: Fotografen sind vielleicht bis zu einem gewissen Grad immer terrible simplificateurs. Die Welt wird jedoch zusehends komplexer. Du scheinst aber, beispielsweise auch in der 7P-Ausstellung, zu glauben, daß Fotografie dieser Komplexität immer noch gerecht werden kann. 

US: Eine leicht hingeworfene Frage, die nicht so leicht zu beantworten ist. Ich habe nie geglaubt, daß man mit einem Einzelbild etwas Wesentliches über die Welt sagen kann. Ein Einzelbild kann Emotionen wecken, Schönheit liefern, aber man kann nichts aussagen damit. Wenn man aber das Einzelbild als Taste in einer Klaviatur mit anderen Bildern eingesetzt wird, dann kann man erstaunlicherweise mit dem Medium Fotografie durchaus komplexe Sachverhalte eindrücklich darstellen, in einer Weise, die sich dem Wort nicht erschließt. Eine Debatte kann durch das fotografische Bild veranschaulicht werden. Dies hat den Vorteil (der natürlich zugleich auch ein Nachteil ist), daß dadurch die Betrachtung entschleunigt wird. Bei Fernsehbildern, Bewegtbildern im allgemeinen, zieht alles in einer unglaublichen Geschwindigkeit an mir vorbei. Wenn ich aber in einem Ausstellungsraum mit durchdacht installierten fotografischen Bildern trete, kann ich mir Zeit nehmen, diese Bilder eingehend zu betrachten und meine eigenen Weg durch die Ausstellung zu finden. Hier, glaube ich, kann die Fotografie weiterhin etwas leisten. Der Nachteil liegt darin, um auch dies auch zu erwähnen, daß diese Entschleunigung Gefahr läuft, einen sentimentalen Aspekt zu haben. Es reicht nicht, einfach einen Ausschnitt der Welt in zwei, drei Bildern stillgestellt zu fassen, daran glaube ich in keiner Weise. 


MJ: Wenn es durch die Konstruktion einer reichen Bildtastatur immer noch möglich ist, relevante Aussagen über die Welt zu treffen, dann ist es nun doch der Kurator und nicht der Fotograf, der diese Aussagen trifft. 

US: Ich nehme das Beispiel eines nicht sehr bekannten Fotografen, Lukas Einsele, der in einer von Thomas Selig kuratierten Ausstellung eine Wandinstallation aufbaute unter dem Titel Die wirtschaftlichen Wege der M85-Bombe. Die Wand war hochinteressant, weil sie fotografische, historische und kuratorische Ansätze mischte, um bei jedem Bild zu fragen: Wie kommt es zu diesem Bild, wie kommt es zu dieser Situation? Ich glaube, daß sich die Rollen heute sehr stark vermischen. Wenn ich als Kurator mit einem klassischen Fotografen umgehe, dann bringe möglicherweise ich die Komplexität in die Ausstellung. Aber heute gibt es immer mehr Künstler und Fotografen, die selbst so arbeiten. 


MJ: Die Ausstellungen, die du heute machst, setzen die Ansätze von Fotomuseum-Ausstellungen wie Trade, Im Rausch der Dinge oder Industriebild fort. Du kuratierst kaum noch monographischen Ausstellungen.

US: Das ist aber kein Programm. Es hat sich so ergeben durch die Aufträge, die ich erhielt. Ich habe im Moment in Bologna eine monographische Ausstellung am Laufen über Emil Otto Hoppé, einen verlorenen und vergessenen Fotografen, von dem ich in einem Archiv Industriefotografien aus den Jahren von 1912 bis 1937 entdeckte. Und wenn alles klappt, werde ich im nächsten Herbst in Madrid eine Ausstellung über Lewis Baltz kuratieren. Es ist also nicht so, daß das Monografische völlig verschwunden wäre, aber vielleicht sind thematische Ausstellungen herausfordender, weil sie eine größere Dichte und Vielschichtigkeit zulassen, die wiederum interessantere Spiegelbilder der Weltsituation ermöglichen. 


MJ: Dieser Typus von Ausstellungen hat das Fotomuseum Winterthur sehr stark geprägt.

US: Ich möchte dies am Beispiel der Einladungskarten und Plakate des Fotomuseums aufzeigen. Als wir 1990 zu dritt – Walter Keller, George Reinhart und ich – das Projekt des Fotomuseums in Angriff nahmen, untersuchte ich, wie draußen in der Welt mit Fotografie umgegangen wurde. Schon bevor wir zu den Grafikern gingen, wußte ich, daß ich im Erscheinungsbild ganz stark eine Gleichwertigkeit von Text und Bild wollte. Fotoplakate bestanden damals häufig aus einer plakatfüllenden Schwarzweißfotografie und links oder rechts unten wurde der Name des Fotografen, der Ausstellung und der Institution aufgeführt. Ich gab den Grafikern den Auftrag, eine Art Spiel oder Kampf zwischen Text und Bild zu inszenieren, und daraus resultierten die Plakate und Einladungskarten mit je einer Bild- und Texthälfte. Es war ganz stark mein Bestreben, einen Ort zu gründen, wo alle möglichen Arten von Fotografie verführerisch, erotisierend ausgestellt, aber gleichzeitig auch Debatten über das fotografische Bild und die Welt entfacht werden. Dadurch entwickelte sich als Spezialität des Fotomuseums der Typus von Ausstellungen wie  Industriebild, Trade, Im Rausch der Dinge oder Darkside I und II.


MJ: Zu diesem Interesse am Zusammenspiel von Text und Bild gehört auch ganz wesentlich, daß du im Fotomuseum einen großen Wert darauf gelegt hast, sehr aufwendige Kataloge zu machen. Du bist nicht nur ein Ausstellungsmacher, sondern auch ein passionierter Büchermacher. 

US: Ja, stimmt, das macht mir riesig Spaß, obwohl ich mir damit das Leben schwer mache, weil es automatisch die Arbeit verdoppelt. In den meisten Fotomuseen machte man damals eine Ausstellung, schrieb ein einseitiges Vorwort, klebte es an die Wand und hatte damit man seine Arbeit getan. Ich wollte aber immer zwei Blickwinkel. In den 1980er Jahren gab es einige wirklich schlimme Fotoausstellungen mit Bildern im 40 x 50-Format, in endlosen Reihen aneinandergehängt, beispielsweise die Cartier-Bresson-Retrospektive im Musée d'art moderne de la ville de Paris. Ich wollte beweisen, daß man mit dieser flachen, unhaptischen Ware, die in ungenügenden Licht sofort tot wirkt, richtige Ausstellungen machen. Ich wollte, daß der Besucher Fotografien im Volumen des Raumes wahrnimmt und nicht in diesen endlosen Reihen mit einer mittlerer Bildhöhe von 1.50 Metern. Auf der anderen Seite interessierte mich das Buch, das ganz andere Erzählformen ermöglicht. Ich habe immer gesagt: Ich will keine Kataloge machen, ich will Bücher machen, die eine eigene Erzählweise, ein eigenes Recht und eine eigene Laufzeit haben. Bücher tragen die Ausstellung in die Welt hinaus, erlauben ein vertiefte theoretische Auseinandersetzung, eine ganz andere Leseweise der Bilder. Eine Ausstellung ist nach zwei bis drei Monaten vorüber, ein Buch verfügt über eine viel längere Halbwertszeit, da es die Leute immer wieder gerne in die Hand nehmen und anschauen können. Ich wollte Buch-Objekte herstellen, die für die nächsten fünf Jahre eine Existenzberechtigung haben. Die Kombination von Ausstellung und Buch als je eigene Form der räumlichen Inszenierung finde ich nach wie vor wichtig und spannend. 


MJ: Du hast deine zwanzig Jahre Fotomuseum immer auch textlich begleitet und oft lange Essays über die Ausstellungen verfaßt. Welchen Stellenwert hatte das Schreiben in deiner Arbeit als Museumsdirektor?

US: Bevor ich das Museum leitete, habe ich geschrieben, unterrichtetet und als freier Kurator Ausstellungen ausgerichtet. Ich war öfters zerrissen zwischen diesen drei Aufgaben. Als ich das Museum aufgebaute, war mich sehr klar, daß diese drei Stränge nun zusammenkommen würden, daß ich dies alles nun an einem Ort machen würde – daß ich Ausstellungen machen, schreiben und bilden würde und daß dahinter letztlich eine leicht aufklärerischer, missionarischer Zug steckte. Ausstellen und Veröffentlichen hat für mich etwas mit Bildung zu tun – ich versuche, tolle Bilder auszustellen, die sich aber zugleich durch eine Haltung auszeichnen und uns für irgendein Phänomen in der Welt die Augen öffnen. Das war eigentlich immer mein Antrieb. 

Martin Schaub, der damals als Kritiker für den Tages-Anzeiger schrieb, sagte einmal in einem fast schon kritischen Ton: Der Urs Stahel fährt da ein Realismusprogramm. Ich habe mich dafür bedankt, weil mich tatsächlich immer Fotografie interessiert hat, die sich hart an der Realität reibt. Die Erotik des Ausstellungmachens ist mir sehr wichtig. Es ist toll, wenn man in einen Raum kommt, der einem gefangen nimmt, aber ich finde es gleichzeitig entscheidend, daß man im Laufe der Ausstellungsbesuches einen diskursiven Zug entdeckt und anfängt, sich damit auseinanderzusetzen. Ich glaube an die Verführung und zugleich an die Enttäuschung dieser Verführung. Das Wechselspiel der Sinne und des Verstandes. 


MJ: Du würdest also sagen, daß du eine gewisse Form des fotografischen Realismus propagierst? Das zeigte sich auch daran, daß das Fotomuseum beispielsweise nur wenige Ausstellung zu Modefotografie zeigte. 

US: Eine engagierte, künstlerische, diskursive Auseinandersetzung mit der Realität ist das, was mich interessiert, wenn ich auf deine Frage hin programmatisch antworten soll. Da fällt mir natürlich sofort Hans Danuser mit seinem Eindringen in Tabuzonen der Gesellschaft ein oder Lewis Baltz, um ein internationales Beispiel zu nennen. Solche Arbeiten machen mir Lust, eine Ausstellung zu machen, auch heute und weiterhin. Einzelfiguren auszustellen interessiert mich nur, wenn sie mich gewissermaßen selbst erleuchten, in der Beschäftigung mit Hans Danuser oder Lewis Baltz habe ich so viel gelernt, daß ich fand, es lohne sich diese als Einzelpositionen zu zeigen. 

Mich interessiert auch die Modefotografie, heute ein bißchen weniger als früher. Damals kaufte ich an Bahnhofskiosken, vor allem in Italien, sehr oft Modezeitschriften. Aber ich könnte nicht eine Ausstellung über Mario Testino machen, das würde mich langweilen. Eine Ausstellung über die Rolle der Mode und Modefotografie im Kontext der zeitgenössischen Gesellschaft hingegen würde ich jedoch sofort machen. 

Unter diesem soziologischen Aspekt interessieren mich alle Arten der Fotografie. Ich könnte mir beispielsweise auch vorstellen, eine Ausstellung über Selfies zu machen, auch wenn uns da vielleicht die Distanz noch fehlt. Die Frage, weshalb heute Selfies in so grosser Fülle gemacht werden, interessiert mich stark. 


MJ: Das Selfie bringt mich zu einem anderen Punkt. Die Fotografie hat sich in dem letzten 20 Jahren, wie ich meine, wesenhaft verändert – durch das Aufkommen der Digitalfotografie, durch das Internet, durch den Umstand, daß heute jedes Telefon auch ein Fotoapparat ist. Heute werden unablässig Bilder durch die Welt gejagt. Jeder kann Bilder veröffentlichen oder in Umlauf bringen. Die Fotografie ist zu etwas sehr alltäglichem geworden, sie in anderer Weise Teil des Alltags als vor zwanzig Jahren. Verändert dies deine Arbeit mit Fotografie?

US: Es ist schwierig zu sagen, wie stark dies meine eigene Arbeit beeinflußt. Fotografie war seit längerem Teil des Alltags, das hat sich einfach noch verschärft. Sie hat sich schon über die Kleinbildkamera in die Haushalte des Mittelstandes eingeschlichen und wurde so Teil des Alltags. Was sich jetzt entwickelt, ist eine andere Form der Alltäglichkeit. Dabei gibt es drei zentrale Punkte. Erstens gibt es nicht mehr Fotografen und Nichtfotografen, heute sind alle Fotografen. Jeder trägt eine Kamera mit sich herum, zumindest in weiten Teilen der Welt. Das ist eine ganz neue Situation. Auf der anderen Seite gibt die Möglichkeit, diese Bilder mit einer unglaublichen Geschwindigkeit von hier nach überall in der Welt zu schicken, auf das Netz zu stellen, potentiell sichtbar für Tausende von Menschen. Vorher war dies sehr aufwendig, nur für wenige möglich, heute brauchen wir dafür nur ein paar Knöpfe zu drücken. Das Dritte ist die Einflußnahme, die auf das Bild möglich ist. 

Zuerst begrüße ich dies nur, denn das digitale Bild bricht mit der Aura der Spur in der Fotografie. Es unterstreicht etwas, das mir sehr wichtig ist: Daß die Fotografie immer nur einen subjektiven Blickwinkel auf die Welt zeigt, eine persönliche Sicht. Der Anspruch der objektiven, indexikalischen Widergabe der Ereignisse wird durch das digitale Bild radikal gebrochen, allein schon technisch. Es gibt keine Spur mehr, nur noch einen Code, der re-naturalisiert wird beim Ausdrucken. Die Möglichkeiten der Einflußnahme auf dieses Bild sind riesig und auch kaum wahrzunehmen, wenn man dabei geschmackvoll vorgeht. Nun ist es definitiv, daß man mit Fotografie einfach Bilder macht, keine Abbilder. Sie sehen zwar verdammt ähnlich aus wie die Realität, deshalb ist auch der Glaube an sie so groß, aber letztlich sind es einfach Bilder. Diese drei Elemente haben die Fotografie sehr verändert und werden dies auch weiter tun.

Doch all dies hat auch Kehrseiten. Ich formulierte einmal in einem Text die Furcht vor der Masse dieser Bilder. In jeder Sekunde werden auf der Welt Millionen von Bildern gemacht. Man sagt, daß heute jedes Jahr so viele Bilder gemacht werden, wie in den 180 Jahren Fotografieproduktion zuvor aufaddiert. Wenn dieser exponentielle Anstieg weitergeht, muß man sich die Frage der Bildverschmutzung stellen. Wenn die Abgase steigen, stellen wir  Messgeräte auf, um festzustellen, ob dies gesundheitsgefährdend ist. Man kann sich analog dazu fragen, ob die Menge der Bilder bildaufmerksamkeits-schädigend ist. Wenn ich geflutet werde mit Bildern, wird mein Vermögen, sie wahrzunehmen, beschädigt. Ich fürchte, daß das Sensorium für gute Bilder, spannende Bilder, komplexe Bilder geschwächt wird, weil wir umgeben sind von einer Flut gleichartiger Bilder: Das Motiv, das Subjekt ist im Zentrum, die Bildgestaltung ist unwichtig, denn es geht nicht mehr um Ästhetik, vielmehr hat das Bild mittlerweile einen Eventcharakter. Wir trinken einen Gin Tonic, lachen alle und machen dann ein Bild davon und stellen es online. Der Rest verrottet irgendwo in den wachsenden Speicherkapazitäten der Welt, in denen Milliarden, Billionen von Bildern lagern, über die kein Überblick mehr möglich ist. Bei massiver Zunahme der Menge kommt ein Grundgesetz in der Geschichte zum Tragen: Die Implosion ist irgendwann unvermeidlich. Irgendwann einmal wird man keine Lust mehr haben auf diese Fotografien, weil es zu viele gibt. Vielleicht werden dann Regierungsvertreter aller Staaten zusammenkommen und die Fotografie offiziell begraben oder ein Subventionsprogramm für die „anspruchsvolle Fotografie“ starten. 


MJ: Wie kann man als Kurator dieser möglichen Entwertung des fotografischen Bildes entgegenwirken?

US: Der Ausstellungsraum ist eine Art säkulärer Kontemplationsraum. Die Welt bewegt sich immer schneller, und keiner kann ernsthaft behaupten, daß er mitkommt. Der interessant begriffene Ausstellungsraum der letzten zwanzig Jahre – ich rede noch nicht von der Zukunft – stellt einen Gegenpol dazu dar, in dem man sich aufmerksam erkundend bewegen und etwas über die Welt begreifen kann, wenn die Ausstellung als Forschungsfeld konzipiert wurde. Ich finde es sehr wichtig, solche Kontemplationszellen zu schaffen. 

Die ist allerdings die Sicht eines 61-jährigen Menschen. Die Frage ist nun, ob dieser Raum noch genug attraktiv ist für einen Zwanzigjährigen, der in in einer Welt aufgewachsen ist, in der er passive Kontemplation nicht mehr kennenlernt. Wenn er dazu gezwungen wird, döst er auch sofort weg. Er ist nur noch konzentriert, wenn er aktiv ist, wenn er auf irgendeinem Gerät irgend etwas tippen kann. Er schaut kein Fernsehen mehr, denn auch dies ist eine Form der passiven Kontemplation, die ihn einschlafen läßt. Wie kriege ich ihn in eine Ausstellung, ohne einen Disneypark der elektronischen Möglichkeiten zu schaffen? Ich muß gestehen, daß ich keine ausgestaltete Antwort darauf habe. Ich glaube zwar, daß sich dieser immobile Raum stärker mit den elektronischen Möglichkeiten vernetzen muß. Gleichzeitig gibt es aber schon genügend Unterhaltung. Wir dürfen also das Museum, wenn wir es ernst meinen, nicht in eine Art neuen Technopark verwandeln, dann darin werden andere Orte immer besser und fortschrittlicher sein. 


MJ. Wenn du zurückblickst auf die Zeit im Fotomuseum Winterthur, welches sind die Ausstellungen, die dir immer noch am Herzen liegen, und welches sind Ausstellungen, die du im Rückblick auch ein wenig kritisch siehst?

US: Das zweite ist fast einfacher zu beantworten. Wenn ich zurückschaue, sehe ich keine Ausstellung, die ich eine Katastrophe finde. Es gibt natürlich Ausstellungen, die ich heute anders machen würde, weil wir in einer anderen Zeit leben. Aber es gibt keine, für die ich mich schämen müsste. Die Antwort macht mich ein klein wenig stolz, läßt mich aber auch fragen: Habe ich Mainstream geliefert? Bin ich ich zuwenig Risiko eingegangen? Diese Frage muß man sich immer wieder stellen. 

Es gab, aus meiner Sicht, viele wichtige Ausstellungen, entsprechend schwierig ist es, einige herauszugreifen. Ich habe Paul Graham erwähnt, eine für mich sehr programmatische erste Ausstellung. Im Jahr darauf kam Industriebild, eine radikal andere Form der Ausstellung, die mir sehr wichtig ist, nämlich das Arbeiten in Archiven, das Thematisieren eines Gebrauchs der Fotografie. Deshalb ist es bis heute eine sehr entscheidende Ausstellung für mich, die ich in Zusammenarbeit mit Giorgio Wolfensberger erarbeitete. Dazwischen lag eine Ausstellung mit Lewis Baltz, eine Begegnung mit einem Künstler, von dem ich sehr viel gelernt habe über Fotografie. 

Dann gab es großartige Begegnungen mit Fotografen wie Hans Danuser, Roni Horn, Ai Wei Wei, Shirana Shabazi, um schweizerische und internationale Beispiele zu nennen. Aber als Einzelfigur hat mich gegen Ende meiner Zeit im Fotomuseum am allermeisten Stefan Burger herausgefordert. Die Ausstellung mit ihm war ein wunderbarer Weckruf für einen Kurator, der seit mehr als zwanzig Jahren Ausstellungen macht, dabei auch mit der Zeit das Gefühl hat, er könne das ja ganz ordentlich, auch gute Reaktionen erhält und eigentlich einfach so weitermachen könnte. Und dann kommt jemand, der sich so ziemlich querstellt gegen diese Art des Ausstellungsmachens. Das war für mich eine am Anfang vielleicht harzige, aber letztlich großartige Erfahrung, denn ich weiß nicht, ob nicht ich mehr von dieser Ausstellung gelernt habe als Stefan Burger. Ich arbeitete zum ersten Mal mit einem Künstler zusammen, der zwar eine Ausstellung machen will, aber auch zugleich die Verweigerung dieser Ausstellung inszeniert. Ich wünschte mir, das mir diese Ausstellung früher geschehen wäre. Denn wenn ich heute über Fotografien und Ausstellungen nachdenke, dann sehe ich den Ausstellungsraum in seiner vollen Dreidimensionalität und seiner zeitlichen Dehnung. Ich kann mir jetzt problemlos vorstellen, daß ein Bild in der Ecke oben links auf vier Meter Höhe plaziert wird. Ich sehe die Ausstellung noch viel radikaler in 3D, und die Bilder bleichen beispielsweise im Laufe der Zeit aus. 

Am Schluß sind mir aber vielleicht doch diese großen Aufarbeitungsausstellungen wie Trade und Im Rausch der Dinge am nächsten, wo man zwei bis drei Jahre in ein Projekt investiert, ganz viele Leute ausströmen und Material sammeln. Ich liebe die Wechselwirkung zwischen der Manifestation von Einzelpersonen und der Bearbeitung von Fotografie im Kontext der Gesellschaft, da tauchen auch immer wieder neue Felder auf, die noch nicht bearbeitet wurden. Es gibt noch viel zu entdecken, es mir also auch in Zukunft nicht langweilig werden mit der Fotografie. Eigentlich erstaunlich nach all diesen Jahren.