Ein ähnliches Verhalten, wie oben beschrieben, ist im Umgang mit dem Bild ganz allgemein zu bemerken: Das Bild wurde im 20. Jahrhundert sehr ernst genommen, und es kam mit solcher Wucht daher, als sei es der wahre Prospekt der Welt, als sei es eine Gesetzestafel oder ein Plan, mit dem man die Welt zu dirigieren vermöge. Als entspräche der weissen Leinwand die hohe, reine, absolute Zeit, der schwarzen die leere, die aufgehobene Zeit, das Nichts, der roten Leinwand die aktive, blutige Zeit, die Handlung. Abstrakte Leinwände, die jedoch höchst bedeutungsgeladen waren. Inbrünstig ernst, innig-poetischernst bisweilen, gedanklich ernst auch und dampfend-erhaben ernst waren Bilder und Haltungen. Selbst die grössten Bild-Ketzer des 20. Jahrhunderts schienen dagegen nicht immer gefeit.
Was hat das zu bedeuten? Was hat dieser heilige Ernst, der Avantgarde auf Avantgarde prallen liess, zu bedeuten? Und Avantgarde prallte auf Avantgarde, das meint auch: Absolutheit prallte auf Absolutheit. Drei Feststellungen sind hier im Spiel, die zum Nachdenken anregen. Erstens: Der Ernst, der an den Tag gelegt wurde, die Absolutheit, die damit verbunden war, steht eigentlich im Widerspruch zur Urbotschaft «Du sollst dir kein (Gottes-) Bild machen». Im 2. Buch Moses steht: «Du sollst dir kein Gottesbild machen, keinerlei Abbild, weder dessen, was oben im Himmel, noch dessen, was unten auf Erden, noch dessen, was in den Wassern unter der Erde ist.» (2. Buch Moses, 20,4) Der Widerspruch ist nicht so sehr im Thematischen zu suchen, als in der Haltung, im Ernst der Bilderproduktion und Bilderrezeption, im Erstarren wie vor einer Gottheit, in der Absolutheitssetzung, als wäre die Bild-Setzung eine von aussen – von aussen und deshalb als absolute in die Welt gesetzt. Zweitens: Der utopische Anspruch, ja Glaube, der mit dieser Setzung verbunden ist: «Nach diesem Bild wird die Welt eine andere sein. Die Kunst hat die Kraft, die Welt zu verändern.» Und drittens: die Geschehnisse in der Welt des 20. Jahrhunderts, die beiden Weltkriege, Auschwitz, die Atombombe und die Frage, ob man in dieser Welt, das heisst nach Auschwitz, nach der Atombombe und anderen Schreckensereignissen noch dichten könne, wie Adorno sich fragte – noch nach dem Wahren suchen, in Sprache, Musik, Bild?
In jedem Fall war da ein gehöriger Ernst. Ein Ernst, der zwei Vermutungen hervorruft: Wurden die Bilder vielleicht zum wichtigen militärischen Nebenschauplatz und zur notwendigen psychischen Fixierung angesichts des Fanals der Geschichte, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts politisch und menschlich nicht schrecklicher und wirtschaftlich nicht heftiger sein konnte? Wurde das Bild nicht nur als solches ernstgenommen, auch nicht nur als Metapher, sondern vielmehr in seiner Funktion als Refugium und als Surrogat der Welt? Wurde das Bild als Realitäts-Stellvertreter genommen, begriffen und vorgetragen mit dem vollen Ernst der «Wirklichkeit», mit der ganzen Kraft utopischer Projektion und im Rhythmus der gesellschaftlichen Zeit? Das Bild verstanden als eine säkularisierte Gesetzestafel, als eine säkularisierte Ikone in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und die Fotografie als Selbstvergewisserung in einer schwindenden Zeit am Ende des 20. Jahrhunderts? Die Vermutung liegt nahe. Sie ist ausführlich zu prüfen, als Frage nach der Produktions- und Rezeptionspsychologie von Werken.
Die Absolutheitssetzung, dieses Aufeinanderfolgen, Aufeinanderprallen von Avantgarden und Manifesten hat in den 60er und 70er Jahren ein überraschend schnelles, jähes Ende gefunden. Ernsthaft sind auch die Künstler der 60er und 70er Jahre, aber dem beschriebenen heiligen Ernst rücken sie zu Leibe. Und zwar auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Hätte es noch Manifeste gegeben, so hätten sie wohl proklamiert: «Der Schein trügt, und das wollen wir zeigen. Der Stil ist am Ende, Gott sei Dank. Es geht um die Idee. Die Welt mutiert, splittert sich auf, schauen wir genau hin, was sich da tut.» Für die einen wird die Kunst zum ernsten Spiel – Beat Wyss formulierte: «Im Ausklang der Moderne lernte die Kunst das Lachen wieder» –, für die anderen zum Untersuchungsfeld und Untersuchungsinstrument: der Wahrnehmung, des Bildes, des Selbst, der Welt. Die Aura, das Erhabene, das Absolute wird aufgelöst, abgelöst, hinterfragt. Das Erhebende einer lichtdurchfluteten Kuppel, eines Sternenhimmels wird lachend als Salatsieb aus Plastik, fotografiert mit Polaroidfilm vor Neonlicht, entlarvt. Das Bild und die Vorherrschaft der Form, des Stils stehen immer öfter auf dem Spiel und mit ihnen unsere Wahrnehmung, unser Ernst, unsere Suche nach dem eingefassten, gerahmten Weg, unsere Sucht nach dem formalisierten, entrückten Werk.
Seit Ende der 50er Jahre, mit Schwerpunkt in den 60er und 70er Jahren, wurden Wahrnehmung und Bild einer breit angelegten, andauernden, ernsthaften Prüfung unterzogen. Einerseits wurde das Sehen und Erkennen befragt und analysiert, andererseits wurde der Glaube an das Bild und die Realität des Bildes in Frage gestellt: auf der Fotoebene in Form der Absage an das Einzelbild, hin zu Reihen, Serien, Sequenzen von Fotos; in der Malerei als Sprengung des Gevierts, der Begrenzung des Bildes, als Auslaufen des Bildes an der Wand, in den Raum, ins Leben hinein. In beiden Fällen geht es um Entmystifizierung, um Entschlacken von Bedeutung, von Gefühlsschwere. Von nun an reichen Träger – Chassis, Leinwand oder Fotopapier –, und eine Oberfläche – Grundierung, Farbauftrag oder Fotoemulsion –, sowie ein paar Gedanken, Ideen, Versuche, Aspekte. Oder die Handlung ersetzt das Resultat, die Handlung im Fluss wird Zentrum der Betrachtung, löst das Kunstwerk als Objekt auf und ab.
Die Fotografie hatte bis in die 60er Jahre ein meist klar abgestecktes Aufgabengebiet: Sie war das visuell-berichtende Medium, das uns die fremde Welt nach Hause brachte. Und als solches war sie vor allem einsatzbereit, in der Praxis überzeugend, aber für die theoretische Betrachtung nicht sehr interessant. Mit Ausnahme von Walther Benjamin, Siegfried Kracauer und Roland Barthes haben sich bis dahin nur wenige Theoretiker ausführlich mit dem Medium befasst. In den 60er Jahren hingegen erfährt die Fotografie einen Paradigmawechsel der grösseren Art, der ihr Selbstbewusstsein erschüttert – und bekanntlich sind wir vor allem dann fähig zur Selbstbetrachtung.
Die 60er Jahre setzen der Fotografie in vielerlei Hinsicht zu: Sie verliert die Rolle des ersten und einzigen und omnipotenten visuell berichtenden Mediums an das Fernsehen, besonders als die ersten tragbaren Videokameras Ende der 60er Jahre eingesetzt werden. Dieser Wechsel ist nicht bedeutend genug einzustufen, denn nun wird das Fernsehen immer schneller sein und einen überzeugenderen Anschein von «wirklich», von «nahe dran»erzeugen als die Fotografie. Die Fotografie wird hier gewissermassen ein erstes Mal entfunktionalisiert, aus ihrem eigentlichen Arbeitsgebiet herausgerissen. Alles was entfunktionalisiert wird, landet früher oder später, so scheint es unsere Kultur zu wollen, im Museum. In den 60er Jahren wandelt sich die Fotografie erstmals zu einem Sammelgut mit Handelswert. Galerien werden eröffnet, Museen in Europa beginnen allmählich das Medium Fotografie ernst zu nehmen.
In dieser Zeit hält die Fotografie mehrfach Einzug in die Kunst. Als fotografiertes Realzeichen, so wie sie Robert Rauschenberg in seinen Malereien und Siebdrucken handhabte. Dann, mit Verzögerung, auch als Artefakt, als Kunstobjekt an sich. Und drittens in eher unverhoffter Art und Weise: Die Kunst beginnt sich zunehmend fotografischer, fotorealer zu zeigen, unter anderem im Aufgeben von Utopien zugunsten eines Festhaltens, Kommentierens der Welt und ihrer Verhältnisse; im Aufgeben der Totalisierung als Gestaltungsziel zugunsten des Spiels mit dem Fragment; im fotografischen Erkunden der Welt als Zeichenwelt; im fotografischen Erforschen der Wahrnehmung in Raum und Zeit, in der fotografischen Aneignung und Dekontextualisierung von vorgefundenen Bildern in der Medienwelt und schliesslich im Spiel mit den unzähligen Fragmenten eines aufgelösten performativen Selbst.
Damit sind wir mitten in der Konzeptualisierung der Kunst und der Fotografie: John Szarkowski, der damalige Direktor des Fotodepartments am Museum of Modern Art in New York, schrieb 1975 unter dem Titel «Eine andere Art von Kunst» einen Artikel in der New York Times: «Einige zeitgenössische Künstler, die wenigstens nominal, also theoretisch als Maler begannen, und die in der Zwischenzeit ihren Weg durch nichtpiktorale Kunstformen gegangen sind (Happenings, Konzeptkunst, Land Art, Systems Art etc.) haben eine schnelle Wertschätzung demonstriert, eine Wertschätzung der Fotografie als einer Technik, welche die Wege der menschlichen Erfahrung dokumentieren kann. Solche Künstler, die von Duchamp und Tinguely gelernt haben, dass der Kunstakt nicht mit der Geschicklichkeit der edlen Herstellung einhergehen muss, haben schnell gelernt, dass die Fotografie ein Kunstwerk sein kann, ohne ein offensichtlich schönes Objekt zu sein.»
In seinem Statement ist etwas leicht Abschätziges zu spüren, weil Szarkowski einer der letzten grossen Modernisten ist und somit den perfekten Print liebt, aber er beschreibt den Wechsel genau. Der Konzeptkünstler liebt die Idee und nicht das Objekt, er konzentriert sich auf das visuelle Denken und nicht auf das Ausarbeiten eines edlen Objekts, Bildidee und nicht Bild-Artefakt sind wichtig. Und die Fotografie wird eingesetzt wie die Sprache: als Träger einer kulturellen Botschaft.
Sol Le Witt schrieb in seinen Anmerkungen zur konzeptuellen Kunst: «Bei konzeptueller Kunst ist die Idee oder die Konzeption der wichtigste Aspekt der Arbeit. Wenn ein Künstler eine konzeptuelle Form von Kunst benutzt, heisst das, dass alle Pläne und Entscheidungen im voraus erledigt werden, und die Ausführung eine rein mechanische Angelegenheit ist. Die Idee wird zu einer Maschine, die die Kunst macht. Diese Art von Kunst ist nicht theoretisch und keine Illustration von Theorien; sie ist intuitiv, schliesst alle Typen geistiger Prozesse mit ein und ist ohne Zweck. Sie ist normalerweise unabhängig von der handwerklichen Geschicklichkeit des Künstlers.»
Nun, was heisst das aus der Sicht der Fotografie? Aus der Sicht jener Fotografen, die gelernt hatten, den Regeln der modernen Fotografie, der Neuen Sachlichkeit oder derstraight photography, den Regeln von Albert Renger-Patzsch oder Hans Finsler im deutschsprachigen Raum und den Regeln von Alfred Stieglitz in den USA zu folgen? Fotografen, die sich darauf konzentrierten, das Fotografische aus der Fotografie selbst herauszuarbeiten und theoretisch zu begründen, aus der Optik und der Chemie: direkte Fotografie, keine Beschneidungen nach dem Fotografieren, einen normalen, ausgewogenen Verlauf der Halbtöne von Schwarz zu Weiss, keine besonderen Hervorhebungen durch die Arbeit im Labor, sondern ein direktes Sehen auf die Welt, das aber visuell, fotografisch gut gestaltet und gedruckt ist. Dieser Kanon – er galt in den 60er Jahren noch immer, war geradezu sakrosankt – sah sich mit der grössten Herausforderung in der Geschichte der Fotografie konfrontiert, mit verschiedensten Regelverletzungen wie: mangelnde Wertschätzung des Einzelbildes, dafür Reihungen, sequenzielle Anordnungen von Fotografien; nachlässige Abzüge, erste Plastikabzüge, und direktes Kopieren aus Zeitungen; spröde Fotografien, beschnittene, zusammenmontierte Fotografien, eigentliche Montagen oder Assemblagen, eine auffällige Tonlosigkeit in der Farbfotografie usw.
Die Fotografie wurde nicht mehr als ein aufregendes singuläres Ereignis verstanden, sondern als ein Zeichen mit bestimmten Gegebenheiten, Gesetzmässigkeiten, ein Zeichen, das hinterfragt worden ist und eingesetzt wurde, um unsere Wahrnehmung zu erforschen. Über all diesen Veränderungen könnte der Titel einer Ausstellung im Folkwang Museum, Essen, von 1980 stehen: Absage an das Einzelbild. Dahinter steht das Verständnis, dass eine einzelne Fotografie, gerade weil sie schwach codiert ist, wenig aussagt, dass im Gegenteil Sequenzen, Serien, Blöcke, Anordnungen von Fotografien nötig sind, weil erst dadurch eine Art von visueller Sprache, von visueller Erzählung, Erforschung entstehen kann. Gleichzeitig wird damit die Aura, das Emblematische der Fotografie, das Gefühls- und Wertelastige der fünfziger Jahre aufgehoben. Fotografie wurde im Lauf dieser Entwicklung richtiggehend (von Gefühlen) entschlackt, in diesem Sinne «vergegenwärtigt» und in den Kontext der zunehmenden Mediatisierung der Welt gestellt. Mit der allgemeinen Konzeptualisierung teilt die Fotografie die Schritte: Weg vom auratischen Objekt, weg vom Kanon der Moderne – hin zu mehr Realismus in der Beschäftigung mit der Welt, hin zur Kunst als Untersuchungsinstrument, hin zur Idee, zum Gedanken als zentrales Element des künstlerischen Tuns.
Exkurs: Diese Entwicklung nahm in den 80er Jahren eine erstaunliche Wende. Einerseits wurde sie radikalisiert: In den achtziger Jahren war alles Zeichen. Es herrschte ein wahrer Semiotikboom vor, alles konnte als Zeichen gelesen werden, das wiederum auf andere Zeichen verwies. Alles war «Text» im Sinne der französischen Philosophie – die Arbeit, die Liebe, die Welt –, und konnte so als Text miteinander in Verbindung gebracht werden. Die Semiotik wurde zunehmend absoluter: Zeichen verweisen nur noch auf andere Zeichen. Es gibt nur noch Zeichen, keine Referenten mehr. Die radikalste Semiotik behauptet: Repräsentation und Sprache kann nichts über die Realität aussagen, sondern nur über die Codes, durch die die Welt wahrgenommen und bestimmt wird.
Dadurch eröffnete sich eine neue Freiheit für die Fotografen: Wenn es kein Reales gibt, das entscheidend ist, dann muss man es auch nicht mehr abfotografieren, man kann genauso gut im Studio Bilder inszenieren, die dann ebenso wahr sind, ebenso Anspruch auf Aussage, auf Wahrheit oder Wahrhaftigkeit erheben können. Das war neu in dieser Klarheit. So wurde denn inszenierte Fotografie auch zum grossen Boom der zweiten Hälfte der 80er Jahre. Inszenierte Fotografie, table top-Fotografie, wie sie im angewandten Bereich heisst, mit ihrer totalen Kontrolle des Bildes verweist einerseits auf die Malerei und den Maler, der sein Bild total kontrolliert, oder den Bildhauer, Installateur, der seine Installationen kontrolliert. «Am schönsten ist das Gleichgewicht, kurz bevor es zusammenbricht», so der Untertitel der Arbeit Stiller Nachmittag von Peter Fischli und David Weiss, die mit Früchten, Gemüse, Küchengeräten, Schuhen, Gummireifen eine lustvolle, spielerische Gleichgewichtsarbeit vorlegten. Dieser Untertitel benennt Wesentliches der inszenierten Fotografie: das Inszenieren für die Fotografie, für die Dauer-des-Fotografiert-Werdens. Die inszenierte Fotografie verweist aber auch auf den Film und die Werbung, die zu ihrem Modell werden. Wenn die Fotografie Zeichen ist, bzw. eine Kombination verschiedener Zeichen, so ist eine möglichst totale Kontrolle über ihre Zeichenhaftigkeit anstrebenswert. Der Film, insbesondere der Hollywoodfilm, ist hierfür ein Vorbild. Der Hollywoodfilm (und die Werbung) hat keinen dogmatischen Wahrheitsanspruch, er gehorcht voll und ganz Genre-Gesetzen, der Perfektion der Inszenierung. Er inszeniert Irrealität und gibt lächelnd den Wahrheitsanspruch, auch den Authentizitätsanspruch westlicher Kunst auf.
Dem strebt unzählige inszenierte Fotografie nach, die sich in der zweiten Hälfte der 80er Jahre über die Welt verbreitet. Fotografie als Abfotografieren von Installationen. Fotografie als Nachfolgerin vormoderner figurativer Malerei. Fotografie als inszeniertes Filmstandbild. Fotografie als Erzählung, fast wie eine Kinderbuchillustration. Fotografie als Spiel von verschiedenen Medienebenen. Nicht mehr Interpretationen von Wirklichkeit, sondern Konstruktionen von Bildwirklichkeiten waren angesagt. Die Fixierung aufs Reale, die der Modernismus als Wesen der Fotografie festgemacht hatte, löste sich auf. Stattdessen wurden Welten im Studio, im Zimmer aufgebaut, inszeniert, staged, nur um sie zu fotografieren. Bildfragmente der Aussenwelt wurden nur mehr als Rohmaterial eingesetzt und darauf in der Dunkelkammer überarbeitet. Der Originalitätsanspruch löste sich vom Erzeugen eines fotografischen Bildes der Welt und ging über in das Zusammenstellen eines Tableaus aus vorhandenem, privatem oder massenproduziertem Bildmaterial. Vor der Kamera, wie im Film oder im Theater, wurden fiktive, illusionäre Welten aufgebaut, Stilleben als postmoderne Allegorien, «narrative Tableaus», in denen das lange Zeit verpönte Erzählerische, Fabulierende wieder auftauchte.
Diese neue Freiheit hat aber auch ihre Kehrseite: Die Kunstwelt springt auf die inszenierte Fotografie an, zum einen, weil sie einen Ausweg aus der Abstraktion anbietet, aus dem auslaufenden Modernismus, und zum andern, weil sie durch traditionelle kunstgeschichtliche Kriterien zu erfassen ist. Hierin ist sie einem wertkonservativen Kunstbegriff verhaftet: Inszenierte Fotografie ist Kunst, weil der Künstler etwas herstellt, über das er totale Kontrolle hat. Das blosse Knipsen beim Fotografieren war ja immer suspekt, aufgrund seiner Abhängigkeit von der Umwelt, vom Zufall. Inszenierte Fotografie ist nicht kontingent, somit «richtige Kunst». Ausserdem ist sie hochgradig codiert im Gegensatz zu herkömmlicher Fotografie, also intentional, beabsichtigt und somit lesbar. Diese Fotografie befreite und liess in Zukunft alles möglich werden – auch wenn sie manchmal zur neuen Salonbildnerei mit edler Rahmung mutierte.