2003

Ja, was ist sie denn, die Fotografie?
Eine Rede über Fotografie zum 10-Jahres-Jubiläum des Fotomuseums Winterthur

English Version: Well, What is Photography? →

Ein Museum für Fotografie. Als wir am 29. Januar 1993 das Fotomuseum Winterthur eröffneten, waren wir mit verschiedenen Reaktionen konfrontiert:

Die ersten kritischen Stimmen bemängelten, weshalb wir die Institution «Fotomuseum» nennen würden, das sei doch antiquiert und suggeriere einen Ort, der verstaubt sei, und in dem vor allem Geräte, Apparate und fotografische Prozesse zu betrachten seien. Andere wiederum fragten uns, nach Bestätigung heischend, wir würden doch sicher keine Farbfotografie im Museum ausstellen wollen. Diese Bemerkung erinnert an die Reaktionen, welche die Ausstellung von William Eggleston 1976 im Museum of Modern Art, New York, provoziert hatte. Sie waren heftig ablehnend, und die Ablehnung bezog sich in erster Linie auf die «Museumsuntauglichkeit» der Farbfotografie, die bis dahin vor allem ein Medium der Werbung gewesen war.

Wir eröffneten das Fotomuseum Winterthur mit der Ausstellung New Europe von Paul Graham. Als eine Gruppe von Zürcher Werbe- und Gewerbefotografen die Ausstellung besuchte, mussten wir um die Bilder bangen, so verärgert zeigten sich diese Fotografen: Ungenügende Schärfe und farbstichige Vergrösserungen wurden bemängelt und damit gleich das Werk als Gesamtes, das heisst auch alle Inhaltlichkeit, abgelehnt. Umgekehrt wurden oft die Fragen gestellt: «Wieso eröffnet ihr ein Fotomuseum, jetzt, wo so viele Kunstmuseen Fotografie ausstellen?» Oder: Ich solle doch mein Schwergewicht weg von Realo-Langzeit-Dokumentationen und hin zur konzeptualisierten Fotografie verschieben. Und: «Wieso habt ihr nicht gleich ein Medienmuseum eröffnet?»

Die Erwartungen an die Fotografie. Diese verschiedenen Reaktionen erstaunten uns. Sie zeigten, wie unterschiedlich selbst Anfang der neunziger Jahre die Erwartungen an die Fotografie und das Verständnis von Fotografie noch waren. Dabei ist die Antwort auf die Frage, was denn Fotografie sei, zuerst einmal einfach zu geben: Die Fotografie ist ein Lichtaufzeichnungsapparat, nach dem heutigen Stand des Wissens im 19. Jahrhundert erfunden, der es erlaubt, die perspektivische Wahrnehmung der Welt, wie sie seit der Renaissance konstruiert wird, zu fixieren. Optik und Chemie gehen hier Hand in Hand, um ein Wahrnehmungsmittel mit grosser Wirkung zu erzeugen.

Trotz der Einfachheit dieser ersten Definition finden sich nur wenige vergleichbare Fälle, in denen ein scheinbar einfach und klar abgestecktes Feld – hier der Betrachter, da die Welt, hier der Apparat, dort das Bild der Welt –, so viele Missverständnisse erzeugt hat wie bei der Fotografie. Es gibt offenbar viele unterschiedliche Verständnisse der Fotografie, die jeweils mit grosser Emphase vorgetragen werden. Ansatzlos wird Luft geholt und laut verkündet: «Das ist Fotografie!» «Nein, das ist Fotografie!» «Das ist keine Fotografie mehr!» «Doch, das ist Fotografie!» Je lauter die Behauptung ausfällt, desto näher steht wohl jemand, der die gleichen drei Wörter ebenso akzentuiert in eine andere Bedeutungsrichtung zu verkünden bereit ist. Dabei kann dieser Ausruf bis heute ziemlich vieles meinen, kann zum Beispiel versteckte Aussagen enthalten wie: «Das ist Fotografie, weil alles scharf abgebildet ist.» «Das ist Fotografie, weil die Vergrösserung perfekt und in den vorgesehenen Marken- Farben – Kodak-Rot oder Fuji-Grün –, daherkommt.» «Das ist Fotografie, weil darauf klar erkennbare, lesbare, erzählerische Szenen aus dem Leben abgebildet sind.» «Das ist Fotografie, weil sie politisch engagiert ist.» «Das ist Fotografie, weil sie die Schönheiten der Welt zeigt.» «Das ist Fotografie, weil sie sich in den gegenwärtigen Kunstdiskurs einfügt.» Und so weiter. Und in diesen Bemerkungen ist jeweils die Ausgrenzung des Gegenteils, des Unscharfen, Falschfarbenen, Nackten oder Angezogenen mit enthalten, all dessen, was aus dieser einen persönlichen Sicht keine wahre, keine richtige Fotografie ist. Das Absolute des jeweiligen Ausrufs lässt darauf schliessen, dass damit gleichzeitig eine Seins- und Solldefinition von Fotografie vollzogen werden soll, das Resolute im Tonfall der Ausgrenzung hingegen lässt erahnen, dass offenbar einiges auf dem Spiel steht – vielleicht gar Dinge, die nicht immer direkt und ausschliesslich mit Fotografie zu tun haben.

Das ist Fotografie! In der Behauptung «Das ist Fotografie!» verbirgt sich auch die Frage: «Ja, was ist sie denn, die Fotografie?» Die erste Antwort auf diese Frage war in ihrer Kürze so klar und einfach, dass Missverständnisse eigentlich ausgeräumt sein sollten. Doch im Bereich des Allgemeinen sind wir uns oft einig, denken wir nur an die Präambeln in Verfassungen, während die Meinungen in der Anwendung, im Konkreten weit und unvereinbar auseinander laufen. Deshalb will ich diese erste knappe Definition der Fotografie um weitere Definitionen ergänzen, die das Sein und Wirken dieses Lichtaufzeichnungsapparats und seiner Bilder umkreisen:

Die Fotografien sind – räumlich gesprochen – ein kleiner Ausschnitt aus der Welt, eine Abstraktion auf die Fläche, ins Rechteck oder Quadrat, konstruiert nach den Regeln der einäugigen Zentralperspektive, die im Nahbereich aufgenommen nicht unserer natürlichen Wahrnehmung entspricht, nach einer gewissen Distanz aber verblüffend ähnlich wirkt.

Sie sind – zeitlich gesprochen – die fixierte Licht- und Schattenspur von etwas real vor der Kamera Dagewesenem, ob das Foto nun in der Welt draussen oder im Studio realisiert worden ist. Beim Klick des Auslösers springt die Uhr auf Vorgegenwart. Die Zukunft ist in diesem Medium ausgeschlossen.

Die Fotografien sind – semiotisch gesprochen – Bilder mit einer schwachen Codierung. Im Gegensatz zur Sprache, welche Buchstaben durch Regeln zu komplexen, aber verhältnismässig exakt bedeutenden Gebilden vernetzt – und doch wissen wir schon da um die vielen Missverständnisse, die nicht die Ausnahme, sondern der Regelfall sind: Ausnahme ist die geglückte Kommunikation –, funktioniert die Fotografie in einer Art Subtraktion von der Welt, die selbst wiederum ein nur schwach codiertes Gebilde ist. Eine Fotografie kommt deshalb selten allein. Nicht nur Reportage-, auch Amateur- und Familienfotografen haben den Wunsch nach Serien, nach einer Erzählung in verschiedenen Bildern, denn die Einzelfotografie gleicht einem verstockten, stummen, rätselhaften Kind.

Die Fotografien funktionieren – nun wahrnehmungs- und erkenntnistheoretisch gesprochen – als Stärkung des Augensinns. Mit der Fotografie beginnen wir, ein Stück weit aus der Welt zurückzutreten; wir orientieren uns weniger an der greifbaren, riechbaren, hörbaren, erlebbaren Welt als an all den optischen Signalen und visuellen Informationen, manchmal ohne grosse Unterscheidung, ob Blickkontakt mit der unmittelbaren Wirklichkeit oder mit in Bildern vermittelten Welten aufgenommen wird. Wenn wir am Sandstrand stehen und den Sonnenuntergang mit den Worten begleiten: «Das ist fast so kitschig wie auf einer Postkarte», dann ist das ein gutes Beispiel für die Vermischung unserer Erfahrungswelten. Wir meinen, der Welt näher zu treten und entfernen uns gleichzeitig. Die Fotografie begleitet den Siegeszug des Augensinns und hilft mit, den Weg für Abstraktionen von der konkreten Welt zu ebnen.

Schliesslich begünstigen die Fotografien – weltanschaulich gesprochen – eine positivistische Haltung zur Welt. Sie sind die visuelle Bekräftigung der Wende zum Diesseitigen und Vordergründigen: Die Oberfläche der Welt wird optisch abgetastet, fotografisch untersucht, im Glauben, in der Überzeugung, mittels der Zeichen an der Oberfläche etwas über das Dahinterliegende aussagen zu können. «Fotografische Indizienforschung» könnte man dieses Verfahren nennen, in Anlehnung an die Indizienforschung, die im 19. Jahrhundert parallel zur Fotografie entwickelt wurde: das Sammeln, Addieren und Kombinieren von äusseren Merkmalen, um in der Summe der Einzelteile der Wahrheit – des Gemäldes in der Kunstgeschichte, des Verbrechers in der Kriminologie, der Psyche bei Freud, der Welt in der Fotografie –, auf die Spur zu kommen.

Und zuletzt, aber sehr zentral – und nun medientheoretisch gesprochen –, ist zu betonen: Die Fotografie dokumentiert nicht nur Ereignisse und Geschehnisse, gestaltet sie nicht nur, sondern erzeugt sie geradezu. In einer mediatisierten Welt gilt nur als wichtig, worüber «gesprochen», was gezeigt wird, anderes existiert nicht, ist nicht da, nicht vorhanden. Die Fotografie schafft durch ihr Bild die Welt, an die wir uns erinnern wollen und werden.

Die Fotografie als Zeige-Instrument. Und die Fotografie ist vielleicht zuallererst ein Zeigeinstrument, ein Vorzeigeinstrument. Kaum war ihr Prinzip entdeckt, ihr Verfahren erfunden, wurde hier etwas fotografiert, um es dort zu zeigen: Draussen in der Welt, in der «Fremde» wird fotografiert, um es zu Hause vorzuführen, um es der eigenen sozialen Klasse zu präsentieren. Damit war von Anfang an ein grosses Mass an gesellschaftlicher Unterscheidung inbegriffen. Die ersten Fotografien (im 19. Jahrhundert) zeigen die Welt weitgehend ruhig und ganz, aus gebührender Distanz. Der Einsatz von kleineren Kameras, von Rollfilm, von Blitzgeräten (im 20. Jahrhundert) stört diese Ruhe, greift ein erstes Mal die Intaktheit der Figur an. Die Fotografie «entdeckt» jetzt das Versunkene, Verborgene, entdeckt den Schnappschuss, der Unverhofftes zeigt: den Bettler am Strassenrand, das Liebespaar beim Kuss, den Milchtropfen beim Aufprall, eine Frau treppensteigend, ein Körper, der sich zerdehnend offenbart. Neue Filmmaterialien, grosse Teleobjektive, elektronische Nachtsichtgeräte stören bald sowohl die Intimität von Filmstars als auch die Unberührtheit des Weltalls (Hubble). Mit den elektronischen Möglichkeiten wird nun der Zeigegestus total, und zugleich offenbart sich hier erstmals in aller Schärfe, dass das Forschen und Entdecken – von Dingen, von Verhältnissen –, das dem fotografischen Tun edel um den Hals gelegt wird, nur die geringere, matte Seite der Medaille ist, die glänzende hingegen ist das Zeigen und Vorzeigen, das Präsentieren und Enthüllen: «Hier, hier, schaut her, was ich Euch zeige, was wir Euch zu bieten haben.» Das war immer so, nur haben wir die gebührende, «anständige» Distanz zur Welt, zum Gegenüber schrittweise verschoben bis hin zur schamlosen, ätzenden Nähe, die uns auch weit von uns selbst entfernt.

Die Geschichte der Foto-, Video- und Digitaltechnik ist nur ein Strang dieses gierigen Strudelns von Distanz zu Nähe, des Hervorzerrens von Privatem an die Öffentlichkeit, des Privatisierens der Öffentlichkeit; sie ist aber sein sichtbarer Teil, an dem sich ablesen lässt, wie eine Gesellschaft sich zunehmend pornographisiert. Laurel und Hardy haben sich gegenseitig Torten ins Gesicht geschmissen, heute sind es Geschlechtsteile, die fast an den Bildschirm klatschen, so nah werden sie gezeigt. Also nichts mehr von der Ruhe, Intaktheit und Distanz des fotografischen Blicks im 19. Jahrhundert. Der pornographische Blick überschreitet alle Grenzen, stückelt auf, preist an, ist hektisch, schnell. Der totale Zeigegestus bedeutet immer eine unendliche Fülle an Zeichen und Bedeutungen, wie ein gigantisches Buffet, das immer da steht, morgens, abends, nachts, und laufend aufgefrischt und neu aufgedeckt wird. Er bedeutet aber auch ermüdende Redundanz.

Die Fotografie bezieht ihre Darstellungskraft aus einer paradoxen Verschränkung. Auf der einen Seite ist ihr Realismus so stark, dass sie als räumliche und zeitliche Tatsache erscheint, und wir glauben können, über sie die Welt zu be-greifen. Als stünden wir auf einem leicht erhöhten Standpunkt, einer Feldherrenposition, von der aus wir sehend teilnehmen an der Welt, aber ohne direkte Folgen, ohne wirklich darin stecken zu müssen – berührungslos und abtastend in einem. Wir dürfen hier von einer Kolonisierung der Welt durch den fotografischen Blick sprechen, weil wir die Welt zu kennen, zu greifen, zu besitzen meinen, ohne je drinnen gewesen zu sein. Wir werden zu Kennern und Händlern der Bilder der Welt. Auf der anderen Seite hingegen ist die Fotografie, weil sie schwach codiert, aus dem räumlichen und zeitlichen Verlauf der Welt ausgeschnitten, also diskontinuierlich ist, offen für alle möglichen Projektionen der Betrachter. Sie ist eine Art von schweigender Erzählung, die ansetzt, andeutet, anbietet und gleich wieder verstummt, und alles Folgende offen lässt. Klar und unklar in einem. Diese Verschränkung von Begreifen und Staunen, als sei sie abbildende Information und offenes Bildfeld, sprechendes Zeugnis und Adventskalender zugleich, addiert sich zu einer ungewöhnlichen Kraft, verleiht der Fotografie moderne magische Eigenschaften. Und diese attraktive, kraftvolle Mischung von Dokument und Bild ist auch die Ursache für das Missverstehen von Fotografien. Untersuchungen haben wiederholt gezeigt, dass zehn Leute ein- und dasselbe Foto zehnmal sehr verschieden lesen, verstehen – vor allem dann, wenn es alleine daherkommt, wenn es keine Legende hat, wenn es nicht Teil einer Reportage, einer Narration oder einer fotokünstlerischen Arbeit ist, die nach bestimmten nachvollziehbaren Regeln einer «lesbaren» visuellen Sprache zusammengestellt werden.

Und die Frage nach der Wahrheit der Fotografie. Da eine Fotografie sowohl ein eigenständiges Bild als auch ein Abbild von etwas ist, sind wir immer wieder gezwungen, auch über das Abgebildete reden zu müssen. In diesem Abgebildeten wiederum manifestieren sich zwei Dinge: Einerseits die Sicht des fotografierenden Subjektes auf die Welt und andererseits das Motiv, die Welt vor dem Objektiv. Im ersten Fall fühle ich mich als eine Art Parallelsubjekt einigermassen kompetent, wir alle sind uns gewohnt, auf die Welt zu schauen. Im zweiten Fall hingegen geraten wir notgedrungen in ganz verschiedene Bereiche, zum Beispiel in den Fachbereich der Landschaft, der Stadtlandschaft, ins Thema der Stadt, der urbanen Organisation hinein. Das Reden über Fotografie zwingt immer zum Reden über viele Welten. Es ist eine Art destabilisierendes Reden mit Generalistenanspruch.

Damit berühre ich ein grundsätzliches Problem: Die Frage nach dem, was fotografische Wahrheit, was Wahrheit in der Fotografie ist. Ich spreche die «ewige» Verwechslung von Da-gewesen und So-gewesen an. Die analoge, herkömmliche Fotografie ist tatsächlich eine Spur eines Geschehens: Da hat sich zu einer bestimmten Zeit etwas vor der Kamera ereignet, es ist dagewesen, wie Roland Barthes es genannt hat. Und dieses Dagewesene hat einen optisch-chemischen Niederschlag verursacht, den wir nun in der Fotografie betrachten. Auf einem alten Foto, das Napoleon den Dritten zeigt, ist eine Spur von Napoleon dem Dritten anwesend. Napoleon der Dritte ist dagewesen (Fälschungen ausgenommen). Diese Existenz- oder Zeitspur erzählt eine Wahrheit, nämlich die, dass etwas geschehen ist, aber sie erzählt nicht, oder nur sehr ungenau, einseitig, aus einer einzigen und erst noch einäugigen Perspektive: Wie, wo, warum, in welchem Kontext etwas geschehen ist. Die Fotografie spricht die reine, fast bedeutungslose Faktizität, dass da etwas war, gewesen ist. Das ist in der Fotografie, im Medium selbst enthalten. Alles andere, was darüber hinausgeht, ist nicht der reine, fast automatische Niederschlag des Wirklichen auf den Film, sondern entspringt dem Verhältnis des Fotografen, des Künstlers zur Welt, entspricht dem Kontext, in dem er sich bewegt. Dieses Verhältnis schlägt sich bedeutungsvoll im Bild nieder. Und dieses Verhältnis ist nie neutral, nie statisch, nie umfassend, nie demokratisch, nie Wahrheit in einem absoluten Sinn, vielmehr entspringt es einem dynamischen, performativen Prozess, einem grösseren räumlich-zeitlichen Zusammenhang und einer Konstruktion von Welt als Bildwelt.

Die Industriefotografie – Das Theater der Sachlichkeit

Nach diesen allgemeinen, generalisierenden Bemerkungen zur Fotografie greife ich drei konkrete Gebiete des Fotografischen auf.

Eine Fotografie, der wir allergrösste Realitätsnähe zuschreiben, ist diejenige Fotografie, die wir mit Begriffen wie «dokumentarisch», «sachlich», «neutral» oder «objektivierend» bezeichnen. Eine solche sachliche Fotografie ist die Industriefotografie: Einst war die Ausbildung zum Fotografen in einem grossen Industriebetrieb eine der interessantesten und umfassendsten.

Der Industriefotograf musste Porträts machen, beim Eintritt des Arbeiters oder Angestellten und beim Austritt, bei der Pensionierung. Er hatte Laufspuren und Gussfehler zu dokumentieren, also Material fotografisch zu prüfen. Er sollte einen einfachen, kleinen Gegenstand so perfekt ausgeleuchtet aufnehmen können, dass erkennbar war, aus welchem Material er geschaffen und wie er modelliert war. Das Gleiche musste ihm im Grossen gelingen, wenn er ein Zahnrad von 10 bis 14 Metern Durchmesser aufzunehmen hatte. Er wurde zum Architekturfotografen, wenn es galt, die riesigen Fabrikhallen von innen und aussen zu fotografieren. Er machte kleine Reportagen bei Betriebsbesichtigungen und Betriebsausflügen. Der Industriefotograf registrierte, prüfte Material, übte Abläufe ein, dokumentierte Personen- und Wareneingang, half der Patentabteilung, kommunizierte in den Werkmitteilungen nach innen und in den «Propaganda»-Broschüren nach aussen, machte dabei mit Neuem und Fremdem vertraut, repräsentierte die Errungenschaften der Firma, die Produkte als eine Art vom Himmel gefallene Objekte, vor weissem Hintergrund, losgelöst aus dem Produktionszusammenhang.

Meistens blieb er im Resultat anonym, war einfach der Werksfotograf – ob er sich im Mikro-, Makro- oder Normalbereich bewegte, lange Zeit immer mit der Fachkamera, früher im 18 x 24 cm-Aufnahmeformat, später im kleineren 13 x 18 cm-Format, mit dem Stativ, was eine Ruhe und Konzentration erforderte, die an den Maler und seine Staffelei erinnert.

Was immer er auch fotografierte, der Industriefotograf hatte sich, wie vielleicht in keinem anderen Feld der Fotografie, strikt an ganz bestimmte Richtlinien zu halten: Feinkörnig sollte die Fotografie sein; das Licht sollte so modulieren, dass die Tonwerte ausgeglichen, nachvollziehbar waren; Schärfe sollte das Bild dominieren; und alle Objekte waren möglichst unverzerrt wiederzugeben! Diese vier Elemente wurden zum Credo des Industriefotografen. Um das zu erreichen, wusste er genauestens Bescheid über alles Filmmaterial, setzte Scheinwerfer, Spiegel, weisses Papier ein, um die Werkstücke ins richtige Licht zu setzen, und mit der Anwendung des Scheinpflugschen Gesetzes wurde die Schärfeebene so gelegt, dass die entscheidenden Teile scharf erschienen. Störten Glanzlichter – in Maschinenhallen blinkte es von allen Seiten –, wurden die Metallteile mit verschiedenen Mitteln abmattiert. Beim Entwickeln des Films, beim allfälligen Umkopieren wurde ausgeglichen, abgeschwächt oder verstärkt, später mit dem Schabemesser oder mit sehr weichem Bleistift das Negativ retuschiert («Um ein Negativ mit Bleistift retuschieren zu können, muss die Schicht mit Mattoleïn, einer Auflösung von Dammarharz in Terpentinöl, eingerieben werden ...»). Es wurde so lange retuschiert, bis die gewünschte Brillanz, Dichte, die Durchzeichnung der hellen wie der dunklen Partien erreicht waren. Musste eine Maschine isoliert werden, wurde zuerst mit dem Pinsel, später mit der Spritzpistole Abdeckfarbe, rote Temperafarbe, direkt auf das Positiv aufgetragen, so dass das Unwichtige diffus, das Wichtige aber glasklar und präsent erschien.

Wir stehen also vor einem Paradox: Um die gewünschte Sachlichkeit, eine gut durchzeichnende, scharfe, unverzerrte und materialgerechte Wiedergabe zu erreichen, wurden sämtliche Tricks der Fototechnik angewandt, einschliesslich beinahe malerischer Mittel. Um diese Neutralität der Objektwiedergabe zu erzeugen, wurde am Foto nach allen Regeln «herumgedoktert». Es handelt sich also nicht um einfache, dokumentarische Wiedergaben, sondern um aufwendige Bild-Konstruktionen, welche die Industriefotografie kennzeichneten. Ob ein Gegenstand in der Art eines magischen Dingrealismus vor weissem Hintergrund fotografiert wird, ob eine Werkhalle mit glänzenden Maschinenteilen, mit Arbeitenden für eine Foto arrangiert, aufgenommen wird, oder ob wir in das Foto eines sich nach hinten ausdehnenden Raumes eintauchen, in dem eine Reihe von Arbeitern an Werkteilen schweissen, als stünden sie im Theaterstück Autogenschweissen im Dreivierteltakt auf der Bühne: Immer wurde inszeniert, arrangiert und dann nach langer Vorbereitung ausgelöst. Die Dunkelheit und die niedrige Empfindlichkeit des Filmmaterials liessen es zuerst rein technisch nicht zu, dass alle Männer scharf abgebildet waren. Sie mussten sich also hinstellen, mit Schweissen beginnen, auf «eins-zwei-drei» den Atemanhalten und sich zwei, drei, vier Minuten überhaupt nicht mehr bewegen. Nur so war es möglich, ein Foto zu realisieren.

Spricht man mit einem Industriefotografen, jüngeren oder älteren Jahrgangs, macht man eine merkwürdige Erfahrung: Sofort setzt er zu einer Geschichte an und erzählt, wie aufwendig, mit wie vielen Blitzen – «Ja, sechzig, und dann musste ich erst noch das Weitwinkelobjektiv umbauen lassen» –, er sein Foto realisiert habe, als sei er Mechaniker, als sei er Bilderingenieur und nicht Fotograf. Von der Ästhetik der Aufnahme, von den möglichen Bedeutungen, die sich eingestellt haben, ist nicht die Rede. Das Foto ist nicht ästhetisches Ergebnis, sondern Ereignis, Produktion, Inszenierung. Mit dieser Haltung wird der Industriefotograf zum Regisseur, und das Foto wird zum «Industrie-Standbild», zum Stilleben, dem Produktionsablauf entzogen, ähnlich wie das Standbild eines Filmes.

Ziel bleibt aber immer die Sachlichkeit. Sie ist auch fest im Selbstverständnis des Fotografen verankert. Doch man merkt mit der Zeit, wie die Sachlichkeit ihre scheinbare Wertfreiheit verliert und zu einer Art «corporate identity» der gesamten Industrie wird. Das ist das Bild, das die Industrie von sich geben will. Es deckt sich perfekt mit der Vorstellung des Technischen, Mechanischen, Präzisen und Sauberen in der Industrie. Es vermeidet das Düstere, Russige einer Giesserei zum Beispiel – die Bilder wirken immer heller, als die Fabrikhalle in Realität gewesen ist –, es eliminiert das Schmutzige, Schweissige und dadurch ein Stück weit die Handarbeit: Maschinen schwitzen nicht. Die Industriefotografie vermeidet jedes expressive Moment – die Produktionsabläufe sollen geordnet und effizient erscheinen.

Nun stellt sich die Frage: Ist denn in dieser inszenierten Sachlichkeit überhaupt etwas Wahres oder Authentisches zu finden? Oder haben wir nun auch noch die sachliche Industriefotografie als Machwerk, als Propaganda, als blosse Werbung entlarvt? Die Industriefotografie betrachten wir hier exemplarisch als Vertreterin jener Fotografie, die aufgrund ihrer Feinkörnigkeit, ihrer durchgehenden Schärfe und ihrer perfekten Durchzeichnung und Tonwiedergabe eine hohe Realitätsillusion erzeugt. Diese Art von Fotografien sind beinahe perfekte trompe-l'oeils und nähren die Illusion, dass hier Wirklichkeit pur wiedergegeben ist, dass die Fotografie wirklich eine finestra aperta, ein offenes Fenster, darstellt. Die «Indexikalität», das Verweisen auf die Wirklichkeit, ist so stark ausgeprägt, dass Fragen, wie jene nach dem Träger der Information, nach dem Standpunkt usw. vergessen werden. Die realnahe Darstellung ist täuschend echt, und zusätzlich wird sie durch den lange vorherrschenden Empirismus und Positivismus genährt, so dass nur an das Verhältnis von Welt und Abbild der Welt gedacht wird, das Verhältnis vom Fotografen zur Welt und zum Bild sich aber im Schein gläubiger Objektivität auflöst. In dieser Hinsicht haben wir soeben die Industriefotografie entlarvt, sind wir von ihr ent-täuscht worden. Das Industriefoto ist kein neutrales Dokument mit hohem Abbildquellenwert, sondern vielmehr eine Konkretisierung sozialer Werte, wie David Nye und Allan Sekula dargestellt haben. Nicht mehr, aber auch nicht weniger ist in den Industriefotografien enthalten.

Exkurs: An dieser Situation ändert auch die Digitalisierung vorerst nichts weiter: Auch ein digitales Bild erzählt vom Verhältnis eines Autoren zur Welt. Nur macht das digitale Bild diesen Umstand wirklich deutlich, und wir können uns nicht mehr selbst belügen. Insofern öffnet das digitale Bild unsere Augen für ein 160-jähriges Missverständnis. Die Änderung geschieht also bei uns. Was sich hingegen draussen, am Objekt ändert ist das «Dagewesene». Diese Spur, dieser Niederschlag wird gekappt, da wir digital in die Struktur des Bildes eingreifen und sie grundlegend verändern können. Die Fotografie verliert ihren ununterbrochenen Zeit-Weltbezug. Die Wahrheit des Sichtbaren wird durch die Konstruktion der Wahrnehmung ersetzt.

In der fotografischen Qualität des Dagewesenen steckt eine Selbst- und Weltvergewisserung. Heute ist das Medium Fotografie nicht mehr die radikal neue Form wie im 19. Jahrhundert, nicht mehr das neue Medium, mit dem wir die Welt in Form fassen können und dafür die Materie abschaffen, ja verbrennen können, wie Oliver Wendel Holmes in den 1850er Jahren begeistert forderte, vielmehr ist die Fotografie inzwischen ein vertrautes Medium, mit dem wir glauben, der Welt habhaft zu werden, vielleicht radikaler noch, ihrer noch ein allerletztes Mal habhaft zu werden: «Da, die Welt, schau hin, bevor sie vergeht, bevor sie sich definitiv in undurchschaubaren Formeln und Codierungen auflöst.» Codierungen, die jeder Anschaulichkeit, jeder Be-Greifbarkeit entbehren. Wenn die Fotografien plötzlich verschwommen sind, wenn sie die Wirklichkeit nicht mehr scharf und verlässlich abbilden, wenn sie digitalisiert und nachträglich bearbeitet sind, verlieren sie den so geschätzten Bewahrungscharakter, die Gefühlsgarantie und damit ihre Überzeugungskraft, dass die Welt noch existiert. Und damit verlieren wir einen ontologischen Pflock mehr im Sicherheitsdispositiv unseres heutigen Daseins – und das ertragen wir alle eher schlecht. Das erklärt nun, zumindest teilweise, das Resolute der Ab- und Ausgrenzungen, das ich am Anfang geschildert habe. Es steht hier mehr auf dem Spiel als nur die Fotografie, es steht die Selbstvergewisserung, Selbstsicherheit auf dem Spiel.

Das Spiel mit den Bildern, das Forschen durch Bilder – konzeptuelle und inszenierte Fotografie

Ein ähnliches Verhalten, wie oben beschrieben, ist im Umgang mit dem Bild ganz allgemein zu bemerken: Das Bild wurde im 20. Jahrhundert sehr ernst genommen, und es kam mit solcher Wucht daher, als sei es der wahre Prospekt der Welt, als sei es eine Gesetzestafel oder ein Plan, mit dem man die Welt zu dirigieren vermöge. Als entspräche der weissen Leinwand die hohe, reine, absolute Zeit, der schwarzen die leere, die aufgehobene Zeit, das Nichts, der roten Leinwand die aktive, blutige Zeit, die Handlung. Abstrakte Leinwände, die jedoch höchst bedeutungsgeladen waren. Inbrünstig ernst, innig-poetischernst bisweilen, gedanklich ernst auch und dampfend-erhaben ernst waren Bilder und Haltungen. Selbst die grössten Bild-Ketzer des 20. Jahrhunderts schienen dagegen nicht immer gefeit.

Was hat das zu bedeuten? Was hat dieser heilige Ernst, der Avantgarde auf Avantgarde prallen liess, zu bedeuten? Und Avantgarde prallte auf Avantgarde, das meint auch: Absolutheit prallte auf Absolutheit. Drei Feststellungen sind hier im Spiel, die zum Nachdenken anregen. Erstens: Der Ernst, der an den Tag gelegt wurde, die Absolutheit, die damit verbunden war, steht eigentlich im Widerspruch zur Urbotschaft «Du sollst dir kein (Gottes-) Bild machen». Im 2. Buch Moses steht: «Du sollst dir kein Gottesbild machen, keinerlei Abbild, weder dessen, was oben im Himmel, noch dessen, was unten auf Erden, noch dessen, was in den Wassern unter der Erde ist.» (2. Buch Moses, 20,4) Der Widerspruch ist nicht so sehr im Thematischen zu suchen, als in der Haltung, im Ernst der Bilderproduktion und Bilderrezeption, im Erstarren wie vor einer Gottheit, in der Absolutheitssetzung, als wäre die Bild-Setzung eine von aussen – von aussen und deshalb als absolute in die Welt gesetzt. Zweitens: Der utopische Anspruch, ja Glaube, der mit dieser Setzung verbunden ist: «Nach diesem Bild wird die Welt eine andere sein. Die Kunst hat die Kraft, die Welt zu verändern.» Und drittens: die Geschehnisse in der Welt des 20. Jahrhunderts, die beiden Weltkriege, Auschwitz, die Atombombe und die Frage, ob man in dieser Welt, das heisst nach Auschwitz, nach der Atombombe und anderen Schreckensereignissen noch dichten könne, wie Adorno sich fragte – noch nach dem Wahren suchen, in Sprache, Musik, Bild?

In jedem Fall war da ein gehöriger Ernst. Ein Ernst, der zwei Vermutungen hervorruft: Wurden die Bilder vielleicht zum wichtigen militärischen Nebenschauplatz und zur notwendigen psychischen Fixierung angesichts des Fanals der Geschichte, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts politisch und menschlich nicht schrecklicher und wirtschaftlich nicht heftiger sein konnte? Wurde das Bild nicht nur als solches ernstgenommen, auch nicht nur als Metapher, sondern vielmehr in seiner Funktion als Refugium und als Surrogat der Welt? Wurde das Bild als Realitäts-Stellvertreter genommen, begriffen und vorgetragen mit dem vollen Ernst der «Wirklichkeit», mit der ganzen Kraft utopischer Projektion und im Rhythmus der gesellschaftlichen Zeit? Das Bild verstanden als eine säkularisierte Gesetzestafel, als eine säkularisierte Ikone in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und die Fotografie als Selbstvergewisserung in einer schwindenden Zeit am Ende des 20. Jahrhunderts? Die Vermutung liegt nahe. Sie ist ausführlich zu prüfen, als Frage nach der Produktions- und Rezeptionspsychologie von Werken.

Die Absolutheitssetzung, dieses Aufeinanderfolgen, Aufeinanderprallen von Avantgarden und Manifesten hat in den 60er und 70er Jahren ein überraschend schnelles, jähes Ende gefunden. Ernsthaft sind auch die Künstler der 60er und 70er Jahre, aber dem beschriebenen heiligen Ernst rücken sie zu Leibe. Und zwar auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Hätte es noch Manifeste gegeben, so hätten sie wohl proklamiert: «Der Schein trügt, und das wollen wir zeigen. Der Stil ist am Ende, Gott sei Dank. Es geht um die Idee. Die Welt mutiert, splittert sich auf, schauen wir genau hin, was sich da tut.» Für die einen wird die Kunst zum ernsten Spiel – Beat Wyss formulierte: «Im Ausklang der Moderne lernte die Kunst das Lachen wieder» –, für die anderen zum Untersuchungsfeld und Untersuchungsinstrument: der Wahrnehmung, des Bildes, des Selbst, der Welt. Die Aura, das Erhabene, das Absolute wird aufgelöst, abgelöst, hinterfragt. Das Erhebende einer lichtdurchfluteten Kuppel, eines Sternenhimmels wird lachend als Salatsieb aus Plastik, fotografiert mit Polaroidfilm vor Neonlicht, entlarvt. Das Bild und die Vorherrschaft der Form, des Stils stehen immer öfter auf dem Spiel und mit ihnen unsere Wahrnehmung, unser Ernst, unsere Suche nach dem eingefassten, gerahmten Weg, unsere Sucht nach dem formalisierten, entrückten Werk.

Seit Ende der 50er Jahre, mit Schwerpunkt in den 60er und 70er Jahren, wurden Wahrnehmung und Bild einer breit angelegten, andauernden, ernsthaften Prüfung unterzogen. Einerseits wurde das Sehen und Erkennen befragt und analysiert, andererseits wurde der Glaube an das Bild und die Realität des Bildes in Frage gestellt: auf der Fotoebene in Form der Absage an das Einzelbild, hin zu Reihen, Serien, Sequenzen von Fotos; in der Malerei als Sprengung des Gevierts, der Begrenzung des Bildes, als Auslaufen des Bildes an der Wand, in den Raum, ins Leben hinein. In beiden Fällen geht es um Entmystifizierung, um Entschlacken von Bedeutung, von Gefühlsschwere. Von nun an reichen Träger – Chassis, Leinwand oder Fotopapier –, und eine Oberfläche – Grundierung, Farbauftrag oder Fotoemulsion –, sowie ein paar Gedanken, Ideen, Versuche, Aspekte. Oder die Handlung ersetzt das Resultat, die Handlung im Fluss wird Zentrum der Betrachtung, löst das Kunstwerk als Objekt auf und ab.

Die Fotografie hatte bis in die 60er Jahre ein meist klar abgestecktes Aufgabengebiet: Sie war das visuell-berichtende Medium, das uns die fremde Welt nach Hause brachte. Und als solches war sie vor allem einsatzbereit, in der Praxis überzeugend, aber für die theoretische Betrachtung nicht sehr interessant. Mit Ausnahme von Walther Benjamin, Siegfried Kracauer und Roland Barthes haben sich bis dahin nur wenige Theoretiker ausführlich mit dem Medium befasst. In den 60er Jahren hingegen erfährt die Fotografie einen Paradigmawechsel der grösseren Art, der ihr Selbstbewusstsein erschüttert – und bekanntlich sind wir vor allem dann fähig zur Selbstbetrachtung.

Die 60er Jahre setzen der Fotografie in vielerlei Hinsicht zu: Sie verliert die Rolle des ersten und einzigen und omnipotenten visuell berichtenden Mediums an das Fernsehen, besonders als die ersten tragbaren Videokameras Ende der 60er Jahre eingesetzt werden. Dieser Wechsel ist nicht bedeutend genug einzustufen, denn nun wird das Fernsehen immer schneller sein und einen überzeugenderen Anschein von «wirklich», von «nahe dran»erzeugen als die Fotografie. Die Fotografie wird hier gewissermassen ein erstes Mal entfunktionalisiert, aus ihrem eigentlichen Arbeitsgebiet herausgerissen. Alles was entfunktionalisiert wird, landet früher oder später, so scheint es unsere Kultur zu wollen, im Museum. In den 60er Jahren wandelt sich die Fotografie erstmals zu einem Sammelgut mit Handelswert. Galerien werden eröffnet, Museen in Europa beginnen allmählich das Medium Fotografie ernst zu nehmen.

In dieser Zeit hält die Fotografie mehrfach Einzug in die Kunst. Als fotografiertes Realzeichen, so wie sie Robert Rauschenberg in seinen Malereien und Siebdrucken handhabte. Dann, mit Verzögerung, auch als Artefakt, als Kunstobjekt an sich. Und drittens in eher unverhoffter Art und Weise: Die Kunst beginnt sich zunehmend fotografischer, fotorealer zu zeigen, unter anderem im Aufgeben von Utopien zugunsten eines Festhaltens, Kommentierens der Welt und ihrer Verhältnisse; im Aufgeben der Totalisierung als Gestaltungsziel zugunsten des Spiels mit dem Fragment; im fotografischen Erkunden der Welt als Zeichenwelt; im fotografischen Erforschen der Wahrnehmung in Raum und Zeit, in der fotografischen Aneignung und Dekontextualisierung von vorgefundenen Bildern in der Medienwelt und schliesslich im Spiel mit den unzähligen Fragmenten eines aufgelösten performativen Selbst.

Damit sind wir mitten in der Konzeptualisierung der Kunst und der Fotografie: John Szarkowski, der damalige Direktor des Fotodepartments am Museum of Modern Art in New York, schrieb 1975 unter dem Titel «Eine andere Art von Kunst» einen Artikel in der New York Times: «Einige zeitgenössische Künstler, die wenigstens nominal, also theoretisch als Maler begannen, und die in der Zwischenzeit ihren Weg durch nichtpiktorale Kunstformen gegangen sind (Happenings, Konzeptkunst, Land Art, Systems Art etc.) haben eine schnelle Wertschätzung demonstriert, eine Wertschätzung der Fotografie als einer Technik, welche die Wege der menschlichen Erfahrung dokumentieren kann. Solche Künstler, die von Duchamp und Tinguely gelernt haben, dass der Kunstakt nicht mit der Geschicklichkeit der edlen Herstellung einhergehen muss, haben schnell gelernt, dass die Fotografie ein Kunstwerk sein kann, ohne ein offensichtlich schönes Objekt zu sein.»

In seinem Statement ist etwas leicht Abschätziges zu spüren, weil Szarkowski einer der letzten grossen Modernisten ist und somit den perfekten Print liebt, aber er beschreibt den Wechsel genau. Der Konzeptkünstler liebt die Idee und nicht das Objekt, er konzentriert sich auf das visuelle Denken und nicht auf das Ausarbeiten eines edlen Objekts, Bildidee und nicht Bild-Artefakt sind wichtig. Und die Fotografie wird eingesetzt wie die Sprache: als Träger einer kulturellen Botschaft.

Sol Le Witt schrieb in seinen Anmerkungen zur konzeptuellen Kunst: «Bei konzeptueller Kunst ist die Idee oder die Konzeption der wichtigste Aspekt der Arbeit. Wenn ein Künstler eine konzeptuelle Form von Kunst benutzt, heisst das, dass alle Pläne und Entscheidungen im voraus erledigt werden, und die Ausführung eine rein mechanische Angelegenheit ist. Die Idee wird zu einer Maschine, die die Kunst macht. Diese Art von Kunst ist nicht theoretisch und keine Illustration von Theorien; sie ist intuitiv, schliesst alle Typen geistiger Prozesse mit ein und ist ohne Zweck. Sie ist normalerweise unabhängig von der handwerklichen Geschicklichkeit des Künstlers.»

Nun, was heisst das aus der Sicht der Fotografie? Aus der Sicht jener Fotografen, die gelernt hatten, den Regeln der modernen Fotografie, der Neuen Sachlichkeit oder derstraight photography, den Regeln von Albert Renger-Patzsch oder Hans Finsler im deutschsprachigen Raum und den Regeln von Alfred Stieglitz in den USA zu folgen? Fotografen, die sich darauf konzentrierten, das Fotografische aus der Fotografie selbst herauszuarbeiten und theoretisch zu begründen, aus der Optik und der Chemie: direkte Fotografie, keine Beschneidungen nach dem Fotografieren, einen normalen, ausgewogenen Verlauf der Halbtöne von Schwarz zu Weiss, keine besonderen Hervorhebungen durch die Arbeit im Labor, sondern ein direktes Sehen auf die Welt, das aber visuell, fotografisch gut gestaltet und gedruckt ist. Dieser Kanon – er galt in den 60er Jahren noch immer, war geradezu sakrosankt – sah sich mit der grössten Herausforderung in der Geschichte der Fotografie konfrontiert, mit verschiedensten Regelverletzungen wie: mangelnde Wertschätzung des Einzelbildes, dafür Reihungen, sequenzielle Anordnungen von Fotografien; nachlässige Abzüge, erste Plastikabzüge, und direktes Kopieren aus Zeitungen; spröde Fotografien, beschnittene, zusammenmontierte Fotografien, eigentliche Montagen oder Assemblagen, eine auffällige Tonlosigkeit in der Farbfotografie usw.

Die Fotografie wurde nicht mehr als ein aufregendes singuläres Ereignis verstanden, sondern als ein Zeichen mit bestimmten Gegebenheiten, Gesetzmässigkeiten, ein Zeichen, das hinterfragt worden ist und eingesetzt wurde, um unsere Wahrnehmung zu erforschen. Über all diesen Veränderungen könnte der Titel einer Ausstellung im Folkwang Museum, Essen, von 1980 stehen: Absage an das Einzelbild. Dahinter steht das Verständnis, dass eine einzelne Fotografie, gerade weil sie schwach codiert ist, wenig aussagt, dass im Gegenteil Sequenzen, Serien, Blöcke, Anordnungen von Fotografien nötig sind, weil erst dadurch eine Art von visueller Sprache, von visueller Erzählung, Erforschung entstehen kann. Gleichzeitig wird damit die Aura, das Emblematische der Fotografie, das Gefühls- und Wertelastige der fünfziger Jahre aufgehoben. Fotografie wurde im Lauf dieser Entwicklung richtiggehend (von Gefühlen) entschlackt, in diesem Sinne «vergegenwärtigt» und in den Kontext der zunehmenden Mediatisierung der Welt gestellt. Mit der allgemeinen Konzeptualisierung teilt die Fotografie die Schritte: Weg vom auratischen Objekt, weg vom Kanon der Moderne – hin zu mehr Realismus in der Beschäftigung mit der Welt, hin zur Kunst als Untersuchungsinstrument, hin zur Idee, zum Gedanken als zentrales Element des künstlerischen Tuns.

Exkurs: Diese Entwicklung nahm in den 80er Jahren eine erstaunliche Wende. Einerseits wurde sie radikalisiert: In den achtziger Jahren war alles Zeichen. Es herrschte ein wahrer Semiotikboom vor, alles konnte als Zeichen gelesen werden, das wiederum auf andere Zeichen verwies. Alles war «Text» im Sinne der französischen Philosophie – die Arbeit, die Liebe, die Welt –, und konnte so als Text miteinander in Verbindung gebracht werden. Die Semiotik wurde zunehmend absoluter: Zeichen verweisen nur noch auf andere Zeichen. Es gibt nur noch Zeichen, keine Referenten mehr. Die radikalste Semiotik behauptet: Repräsentation und Sprache kann nichts über die Realität aussagen, sondern nur über die Codes, durch die die Welt wahrgenommen und bestimmt wird.

Dadurch eröffnete sich eine neue Freiheit für die Fotografen: Wenn es kein Reales gibt, das entscheidend ist, dann muss man es auch nicht mehr abfotografieren, man kann genauso gut im Studio Bilder inszenieren, die dann ebenso wahr sind, ebenso Anspruch auf Aussage, auf Wahrheit oder Wahrhaftigkeit erheben können. Das war neu in dieser Klarheit. So wurde denn inszenierte Fotografie auch zum grossen Boom der zweiten Hälfte der 80er Jahre. Inszenierte Fotografie, table top-Fotografie, wie sie im angewandten Bereich heisst, mit ihrer totalen Kontrolle des Bildes verweist einerseits auf die Malerei und den Maler, der sein Bild total kontrolliert, oder den Bildhauer, Installateur, der seine Installationen kontrolliert. «Am schönsten ist das Gleichgewicht, kurz bevor es zusammenbricht», so der Untertitel der Arbeit Stiller Nachmittag von Peter Fischli und David Weiss, die mit Früchten, Gemüse, Küchengeräten, Schuhen, Gummireifen eine lustvolle, spielerische Gleichgewichtsarbeit vorlegten. Dieser Untertitel benennt Wesentliches der inszenierten Fotografie: das Inszenieren für die Fotografie, für die Dauer-des-Fotografiert-Werdens. Die inszenierte Fotografie verweist aber auch auf den Film und die Werbung, die zu ihrem Modell werden. Wenn die Fotografie Zeichen ist, bzw. eine Kombination verschiedener Zeichen, so ist eine möglichst totale Kontrolle über ihre Zeichenhaftigkeit anstrebenswert. Der Film, insbesondere der Hollywoodfilm, ist hierfür ein Vorbild. Der Hollywoodfilm (und die Werbung) hat keinen dogmatischen Wahrheitsanspruch, er gehorcht voll und ganz Genre-Gesetzen, der Perfektion der Inszenierung. Er inszeniert Irrealität und gibt lächelnd den Wahrheitsanspruch, auch den Authentizitätsanspruch westlicher Kunst auf.

Dem strebt unzählige inszenierte Fotografie nach, die sich in der zweiten Hälfte der 80er Jahre über die Welt verbreitet. Fotografie als Abfotografieren von Installationen. Fotografie als Nachfolgerin vormoderner figurativer Malerei. Fotografie als inszeniertes Filmstandbild. Fotografie als Erzählung, fast wie eine Kinderbuchillustration. Fotografie als Spiel von verschiedenen Medienebenen. Nicht mehr Interpretationen von Wirklichkeit, sondern Konstruktionen von Bildwirklichkeiten waren angesagt. Die Fixierung aufs Reale, die der Modernismus als Wesen der Fotografie festgemacht hatte, löste sich auf. Stattdessen wurden Welten im Studio, im Zimmer aufgebaut, inszeniert, staged, nur um sie zu fotografieren. Bildfragmente der Aussenwelt wurden nur mehr als Rohmaterial eingesetzt und darauf in der Dunkelkammer überarbeitet. Der Originalitätsanspruch löste sich vom Erzeugen eines fotografischen Bildes der Welt und ging über in das Zusammenstellen eines Tableaus aus vorhandenem, privatem oder massenproduziertem Bildmaterial. Vor der Kamera, wie im Film oder im Theater, wurden fiktive, illusionäre Welten aufgebaut, Stilleben als postmoderne Allegorien, «narrative Tableaus», in denen das lange Zeit verpönte Erzählerische, Fabulierende wieder auftauchte.

Diese neue Freiheit hat aber auch ihre Kehrseite: Die Kunstwelt springt auf die inszenierte Fotografie an, zum einen, weil sie einen Ausweg aus der Abstraktion anbietet, aus dem auslaufenden Modernismus, und zum andern, weil sie durch traditionelle kunstgeschichtliche Kriterien zu erfassen ist. Hierin ist sie einem wertkonservativen Kunstbegriff verhaftet: Inszenierte Fotografie ist Kunst, weil der Künstler etwas herstellt, über das er totale Kontrolle hat. Das blosse Knipsen beim Fotografieren war ja immer suspekt, aufgrund seiner Abhängigkeit von der Umwelt, vom Zufall. Inszenierte Fotografie ist nicht kontingent, somit «richtige Kunst». Ausserdem ist sie hochgradig codiert im Gegensatz zu herkömmlicher Fotografie, also intentional, beabsichtigt und somit lesbar. Diese Fotografie befreite und liess in Zukunft alles möglich werden – auch wenn sie manchmal zur neuen Salonbildnerei mit edler Rahmung mutierte.

Fotojournalismus in der Krise

Die Reportagefotografie erfuhr durch diese Entwicklungen eine radikale Infragestellung. «Ist der Fotojournalismus tot?» Diese Frage stellte die Zeitschrift American Photo 1996 in ihrer September/Oktober-Ausgabe und widmete sich damit einem Problem, das schon länger Anlass heftiger Kontroversen ist. Bisher gewann man den Eindruck, dass die Antwort darauf stereotyp entweder Ja oder Nein lautete, je nachdem, welche Gruppe – die eher homogene Gruppe der Macher (die Fotografen, Bildredaktoren, Agenturen) oder die heterogene Gruppe der Kritiker, Medientheoretiker und Fotokünstler –, darauf antwortete. Es scheint gar, als seien die Ansichten darüber von zwei sehr verschiedenen Sprachregelungen abhängig, verbunden mit zwei verschiedenen Vorstellungen über das Reportieren der Welt und über die zu reportierende Welt.

In dieser Ausgabe von American Photo gewann man zum ersten Mal den Eindruck, als begriffen die Macher selbst die Krise. Sie wird nicht mehr nur als von aussen herbeigeredet verstanden und abgetan. Eine Umfrage unter rund 40 bekannten Fotografen, Agenturen und Bildredaktoren aus aller Welt hinterliess den Eindruck eines fragilen, erschütterten Berufsstandes der Reportagefotografen. Viele glauben, dass sich jetzt und in Zukunft einiges ändern und klären muss, will die Reportagefotografie weiterhin existieren und eine Rolle spielen. Drei der vielen Statements will ich herausgreifen:

Der Magnum-Fotograf Luc Delahaye hält fest: «Fotografie spielt heute in den Medien eine kleinere Rolle. Das Fernsehen mit seiner Möglichkeit, die Massen zu erreichen, ist der Leader.» Susan Meiselas, die bekannte Reportagefotografin aus New York, klagt schon ausführlicher: «Ich bin pessimistisch, ob die neuen Medien tiefschürfende (fotografische) Arbeiten seriös mittragen werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Multimedia-Welt die Fotografen als die grossen Geschichtenerzähler akzeptiert. Die suchen doch nur Bilder für ihre Archive und betrachten uns als die Lieferanten – was mich besonders verletzt.» Robert Pledge, Besitzer von Contact Press Images, fasst zusammen: «In der jetzigen Form hilft der Fotojournalismus nicht mehr viel weiter, wie hart das auch klingen mag. Während der vergangenen sechzig Jahre, von Erich Salomon bis zum Golfkrieg, war seine bevorzugte Funktion, die Öffentlichkeit bedeutsam zu informieren. Aber heutzutage hat das Fernsehen diese Funktion übernommen und tut das manchmal sogar gut. Zweifellos werden ein paar Individualisten weiterhin erfolgreich in der Tradition des Fotojournalismus arbeiten. Aber für ihre Projekte werden Bücher und Ausstellungen die Medien sein. Das werden Langzeitreportagen sein – häufig unterstützt von Stipendien –, die uns ein anderes Verstehen der Welt erlauben werden als das, was wir am Fernsehen sehen.»

Die drei Statements sprechen zusammengenommen von einer vierfachen Krise der Reportagefotografie: Erstens als einem Verlust an Platz in den Zeitschriften (zumindest für seriöse Reportagefotografie), zweitens als einem Verlieren gegen die Zeit, weil das Fernsehen schneller informieren kann, drittens als einem Verlust an Autorschaft, weil viele Zeitschriften und die neuen Medien immer weniger die vertiefende Sicht eines Autors wollen; und sie sprechen viertens von einem Strukturwandel, der seriöse Reportagefotografie zwingt, neue Medien und neue Geldgeber zu finden. Es fällt bei diesen Statements auf, dass sie merklich von einer Malaise der Umstände reden, unter denen die Reportagefotografie entsteht und publiziert werden kann, doch sie reden weit weniger oder gar nicht von einer Krise des Reportierens selbst. Eigentlich ein klassischer Verdrängungsmechanismus, und vielleicht liegt gerade darin die zentrale Krise, dass das Reportieren und Dokumentieren nicht oder nur von wenigen oder nur von jenen aus dem anderen Diskurs hinterfragt wird.

Das reportierende Bild ist jedoch keineswegs tot, aber es hat eine Verlagerung stattgefunden: Dem quantitativ merkbaren Verschwinden der Reportagefotografie aus den Publikumszeitschriften steht auffallend ihr Einzug in andere Felder, in Werbung, Mode und Kunst entgegen:

Benettons Einsatz von Reportagefotos eines ölverseuchten Wasservogels, eines von Kreuzen übersäten Soldatenfriedhofs, eines blutbefleckten T-Shirts, eines brennenden Autos, eines neugeborenen Kindes, eines sterbenden Aids-Kranken oder eines überladenen Flüchtlingsschiffs war in den neunziger Jahren nur die auffallendste, weil provokativste Form des Benutzens von Reportagebildern in der Werbung. Was geschieht da? In der Werbewelt, die zwar real in ihrer marktstrategischen Wirkung, aber fiktional in ihren Botschaften ist, wird das Realzeichen, das Reportagebild und der Dokumentarfilm, zum notwendigen Träger der Fiktion. Anders gesagt: Je mehr Sorten Waschmittel immer weisser waschen –weisserdennweissdennweiss, wie die Werbung uns weismachen will –, je fiktionaler also die Botschaft, desto grösser die Notwendigkeit realer Einbettung, glaubhafter Verankerung in der alltäglichen Wirklichkeit: Wir können die Werbewelt als einen «Fiktionalienmarkt» mit «fotorealen» oder «filmrealen» Bausteinen bezeichnen, eine Welt voller Luftschlösser, die reale Verankerungen braucht, um überhaupt wahrgenommen zu werden, um glaubhaft zu wirken. Benetton hängte sich das Mäntelchen der Sozialberichterstatter um, gerierte sich wie Greenpeace auf der Ebene der Bildsprache, um real zu wirken.

Die Mode wiederum verlässt den Laufsteg, das Herausgehobene, Entrückte, Inszeniert-Theatralische und sinkt ein ins Alltägliche, wird street fashion. Mode- und Dokumentarfotografie nähern sich dabei einander an, die Grenzen zwischen dem Dokument einer vorgefundenen Situation und der Inszenierung einer realen Situation verwischen sich. In dieser Überlagerung von Dokumentarischem und modischer Fabrikation lösen sich einstige Fixpunkte auf, das Reale und das Theatralische vermischen sich: Die Modefotografie als fabrizierte Fiktion erscheint real, und das einst homogene, geschlossene, greifbare Reale wird in diesen Bildern in viele mögliche Realien, in Hybride, die sich laufend neu erzeugen und bestimmen, aufgelöst: Die Mode wird zu einem «Realienhandel» mit bunten, farbigen textilen Zutaten.

Den Einzug der Fotografie als Realzeichen in die Kunst habe ich weiter oben beschrieben. Entgegen dem Verschwinden der Reportagefotografie aus ihrem traditionellen Feld hält nun am Ende dieses Jahrhunderts das wiedergegebene «Wirkliche» als Partikel, als Daseins-Versicherung, als Wegmarke in der Unsicherheit Einzug in verschiedene Lebensbereiche. Früher war es die Reliquie, der körperliche Überrest, und heute ist es das fotografische Dokument, das die Funktion einer «reliquiae», eines «Zurückgelassenen» wahrnimmt, eines greifbaren Überrests einer im Fluge vergehenden, sich verändernden Wirklichkeit.

Wir haben es mit scheinbar paradoxen Bewegungen zu tun: Hier – in ihrem angestammten Berufsbereich – mit dem Verschwinden der Reportagefotografie, dort – in der Mode, Werbung, Kunst, in den Bilderbanken, im Dokumentieren unseres alltäglichen, privaten Lebens –, mit einer Anhäufung von reportierenden, Wirklichkeitspartikel vermittelnden Fotografien, eine Anhäufung, die davon zeugt, wie sehr wir nach Wirklichkeit dürsten, wie abstrahiert sie auch immer sein mag. Doch wenn wir genauer hinschauen, dann sind diese Bewegungen nur scheinbar gegenläufig, unvereinbar, weil es nicht um die gleichen Fotografien oder nicht um gleiche Erwartungen, die an dieselben Fotografien gestellt werden, geht. In der ernsthaften Dokumentarfotografie geht es um die Auseinandersetzung mit der Welt, um den Versuch, Inhalte fotografisch zu generieren und zu vermitteln. In der Werbung und Mode wird gerne das Rauhe dieser Fotografie eingesetzt, aber nicht als Aufforderung zu einer ernsthaften Auseinandersetzung, sondern als blosse baudrillardsche Hülse, als Geschenkpapier. Also nicht die Inhalte, sondern ihr Schein, nicht das Ganze, sondern nur seine Erscheinung und sein Rauschen. Douglas Crimp spricht vom Übergang von «Information» zu «Ausdrucksstil», und Rosalind Krauss spricht vom Wechsel von «view» der Welt zum ästhetischen Begriff der «Landschaft». Wirklichkeits-Landschaft wird in die Werbung eingewebt, wie wenn man ein Essen würzt, einen Duft beifügt. Ein Hauch von Wirklichkeit.

Reportagefotografie und Zeitschrift, ewig verbündet in Freund- und Feindschaft, reiben sich in dieser Entwicklung noch mehr aneinander. Erstens auf der alltäglichen, pragmatischen Ausführungsebene: Wenn Fotografien seitenverkehrt wiedergegeben werden, aus einem Quer- ein Hochformat wird, die Legende das «Lesen» des Bildes in eine falsche Richtung lenkt, wenn Bilder und Inserate sich durch ungeschickte Platzierung ungewollt gegenseitig ironisieren oder zynisch kommentieren, wenn Fotografien digital in die Länge verzogen oder in eine Richtung gestaucht, gedrungen werden – dann wird, nebst dem Faktum einer simplen oder beabsichtigten Fehlleistung, eines Vorranges der Gestaltung vor dem Bild, immer die Vorstellung des Fotografen oder der Fotografin als Autor oder Autorin in Frage gestellt. Umgekehrt verhindert die Stilisierung der Autorschaft bisweilen, dass statt einer blossen, «banalen» Wiedergabe der Fotografien eine spannende, dichte Verschränkung von Text, Fotografie und Grafik erzeugt werden kann. Der schwarze Bildrand vieler Reportagefotografien dient nicht nur als Beweis – ich war da, so habe ich es gesehen, aufgenommen und im Labor unverändert vergrössert –, sondern auch als Schutz vor Eingriffen seitens des Bildredaktors oder der Layouterin.

Zweitens reiben sich Reportage und Zeitschrift auf einer strukturellen und inhaltlichen Ebene: Das Gerangel um Aufmerksamkeit, um Marktanteile, das «Auflage- Bolzen», der interne Kampf zwischen Redaktion und Anzeigenabteilung und das Schritthalten mit dem Rhythmus von MTV und CNN, mit den schnellen Schnitten der Videoclips, hat die Struktur der Reportage total verändert. Kaum noch wird einer Erzählung oder dem komplexen Aufgliedern einer Bildgeschichte Platz gewährt. Die Fotografien hatten in den 70er und 80er Jahren an bildnerischer Eindringlichkeit und an Grösse zuzulegen. Zwei, drei attraktive doppelseitige Fotografien «reissen» zusammen mit dem Titel die Geschichte an, dann folgen noch ein paar kleine Textillustrationen – und fertig ist der Beitrag. Direkt, eindringlich, nah und sofort lesbar soll die Botschaft sein.

Diesen Weg gingen die Bilder in den Zeitschriften. Die Fotografien hatten näher, direkter und ähnlich schnell lesbar zu sein wie die Werbebotschaften auf der Seite gegenüber. Im Aufrüsten der Medien, im Gerangel um Marktanteile, hatten sie möglichst schockierend zu sein: schockierend nahe am Ereignis, an der Front, an der Wunde, am Sex, am Tod. Im Zuge des Infotainment der 90er Jahre, der Mischung aus Information und Unterhaltung, wird der Erfolg dann nicht mehr so sehr in einer Schocktaktik gesucht, sondern im attraktiven, überraschenden und unterhaltenden Eventbild. Alles muss Eventcharakter haben, also nicht zu ernst, zu grässlich, aber auch nicht zu bedächtig und besinnlich sollten die Themen und die Bilder sein: So lauten die Rahmenbedingungen für das, was einst «Fotoreportage» hiess.

Fotografie und Zeitschrift kämpfen auch auf einer finanziellen und ideologischen Ebene miteinander: Zeitschriften sind immer weniger bereit, aufwendige Recherche- Geschichten zu finanzieren. Aus Spargründen sicher, aber ebenso sehr aus ideologischen Gründen. Viele Zeitschriften streben nicht länger eine Vertiefung des Themas an; vielmehr soll auch hier, wie in der Mode, in der Werbung, zusehends ein blosser Hauch des Themas reichen: nicht «die Sache selbst» in ihrer Härte, ihrer Komplexität, ihrer Tragweite, sondern der blosse Geschmack von Afghanistan, Kenia, Kurdistan, Zaire, Libanon; nicht die Information und die Vertiefung eines Sachverhaltes, eines Konfliktes, sondern nur dessen attraktiver Schein. Drei Tage hier, drei Tage dort, das meiste in Form von set-up shots, von gestellten, inszenierten Porträts, das muss reichen. Der New Yorker Fotograf Harry Benson nannte diese Form des Bildjournalismus in American Photo den «ValuJet of photojournalism– stuck in the mud», in Anlehnung an den Absturz eines Flugzeuges der Billigfluglinie ValuJet in den Sümpfen Floridas.

Diese Entwicklung zeitigt verschiedene Folgen: Es beginnen sich, wie in der Musik, U- und E-Reportagen zu trennen. U-Reportagen, sogenannte Eventfotografie, Featurefotografie, Illustrationsfotografie, funktionieren im bestehenden Rahmen weiter und sind im Vergleich zum Arbeitsaufwand gut bezahlt. Sie können aber im strengen Sinne nicht als Journalismus bezeichnet werden, sind eher der Kategorie «attraktive fotografische Seitendekoration» zuzuordnen. E-Reportagen, sorgfältig recherchierte, zeitlich aufwendig produzierte Bilderserien, müssen neue Wege gehen. Für sie müssen sowohl neue Finanzierungsmodelle als auch neue Formen der Veröffentlichung gefunden werden.

Die Reportagefotografie läuft heute also Gefahr, ausrangiert zu werden, wenn sie sich nicht grundsätzlichen Fragen stellt. Was will, soll die Reportagefotografie uns überhaupt noch zeigen? Wir haben doch alles gesehen? Welche Reportagefotografie brauchen wir heute? Brauchen wir sie wirklich? Was stellen wir uns unter zeitgemässen Reportagefotografen und -fotografinnen vor? Und in welchen Medien werden sie in Zukunft präsent sein? Sind wir als Betrachter mit der Reportagefotografie zufrieden? Sind wir an der Sicht interessiert, die sie re-präsentiert? Haben ihre Bilder mit der heutigen Zeit und ihrer Problematik zu tun oder geraten sie in Gefahr, komplexe Sachverhalte von der «falschen» Warte aus zu betrachten, an der Unmöglichkeit der Darstellung zu scheitern?

Problematisierung des Begriffs «Autor». Die zunehmende «Autorisierung» der Reportagefotografie hatte eine Weile lang ihre Richtigkeit in verschiedener Hinsicht, vor allem auch bezüglich der Veröffentlichungs-Industrie und ihren Gesetzmässigkeiten. Auf inhaltlicher Ebene sind jedoch einige Bedenken anzuführen. Als 1990 im Kunsthaus Zürich eine grosse Magnum-Ausstellung zu sehen war, rezensierte sie Niklaus Flüeler in derWeltwoche unter dem Titel: «Grösser als Magnum ist keine Photographie». Am Schluss des Artikels beschrieb er in fast hymnischen Worten, wie der Fotograf bis an die Grenzen seiner psychischen und physischen Kräfte geht, um uns, den Betrachtern, Bilder von Freud und Leid in der Welt nach Hause zu bringen: «Diese Wirklichkeit ungekünstelt und ungeschminkt, aber mit höchstem handwerklichem Können, persönlichem Engagement und Einsatz bis an die Grenzen des physisch und psychisch gerade noch Ertragbaren unerschütterlich zu dokumentieren – das gelingt am Ende nur einer Photographie, die von Magnum zwar nicht erfunden, von ihr aber zur schon fast absoluten Perfektion vorangetrieben wurde. Und die immer wieder das schier unglaubliche Kunststück fertigbringt, den richtigen Augenblick, das entscheidende Ereignis, den Menschen in seiner Schönheit und Vergänglichkeit, am Beginn seines Lebens, auf der Höhe seiner Macht oder Zeit oder am Ende seiner Tage, in ein einziges, unauslöschliches Bild von unglaublicher oder erschreckender, immer aber überwältigender Schönheit zu zwingen.»

Das ist eines von vielen Beispielen, wie der Bildautor zum modernen Helden hochstilisiert wird oder sich selbst dazu stilisiert. Die Leidensfähigkeit, die Unerschrockenheit, das persönliche Engagement, das Sich-Aussetzen – diese Eigenschaften werden, zusammen mit hohem handwerklichem Können, zu Bildwahrheitskriterien umfunktioniert und hochstilisiert. Wenn man der Reportagefotografie böse will, dann lässt sich formulieren, dass das On-the-Road-Dasein, verbunden mit Abenteuerlust und dieser männlichen Sehnsucht nach Einzelgängertum, dem Kult des Alleinseins in der Wüste oder an der Front, versteckt zu Kriterien umfunktioniert werden, an denen wir messen können, ob eine Reportage gut, echt und wahr ist. Autorenpsychologische Phänomene werden zu Wahrheits- und Authentizitätskriterien umfunktioniert.

In den vergangenen dreissig Jahren wurde in den Wissenschaften und in der Kunst aber gerade das Gegenteil versucht, nämlich die Sicht zu entpersonalisieren, sie zu relativieren, einen Sachverhalt von möglichst verschiedenen Standpunkten zu beleuchten –aus der Einsicht, dass diese eine persönliche Sicht, dieser eine und einzige Zugriff in einer immer komplexer und dichter vernetzten Welt, in der nichts mehr ist, was es zu sein scheint, nicht mehr weit trägt. Die persönliche Sicht wirkt wie eine Notiz des Flaneurs in den Städten des 19. Jahrhunderts, selbstverständlich in der zeitgemässen Variante des engagierten Beobachters von Welt. Wir leben heute aber in einer von den verschiedensten Medien überformten Welt, die andere Konzepte der Betrachtung erfordert.

Problematisierung des Weltbildes. Braucht es deshalb heute Reportagefotografen und - fotografinnen, die nicht ihre Haltung, wohl aber ihre Positionen verändern können? Fotografen, die die ganze Bandbreite auszuleben wissen: den Standpunkt des distanzierten, objektivierenden Wissenschafters auf der einen Seite, der die Dinge auslegt, die Sachlage faktisch zeigt und sich zurückhält, wie auch die Perspektive des teilnehmenden Beobachters, der mitreissend persönlich, berührend nah fotografiert? Braucht es heute nicht FotografInnen, die in einer Reportage versuchen, sich situationsgemäss zu bewegen, die verschiedenen Positionen, die sich vor der Kamera abspielen, gleichzeitig zu präsentieren und die eigene Position zu relativieren? FotografInnen, die von Nah- auf Fernsicht, von persönlichem Filter auf allgemeine Totale schalten können, die sich der Komplexität der Welt und der Abhängigkeit von wechselnden Kontexten bewusst sind, die konzeptueller denken, neue Bildsprachen entwickeln, mit denen unsere heutige Welt adäquat dargestellt werden kann? FotografInnen, die wissen, dass mit jeder neuen Darstellung die Welt immer auch gleichzeitig neu erschaffen wird, weil die Wirklichkeit nicht vor uns, nicht statisch uns gegenüber steht, sondern weil wir ihre Erzeuger sind, weil wir sie durch unser Tun – und dazu gehört auch das Berichten – ständig kreieren und verändern? FotografInnen also, die ihre Autorschaft selbstverständlich nicht verleugnen, nein, sie aber anders, offener, vielfältiger und dadurch zeitgemässer interpretieren – als ein Operieren in einem komplexen, stark mediatisierten, apparativen Umfeld? Also weniger Autoren sind als vielmehr Operatoren, die wissen, dass sie aus dem Geschehen herausgreifen, was erst zu einem lesbaren Geschehen wird?

Stil- und Haltungsfragen. An der Reportagefotografie schienen die Paradigmenwechsel im Denken, im Verstehen von Bildern und von Welt vorbeizuziehen wie ein fernes Schiff. Sie scheint bis heute verschiedenen alternden Pathosformeln verfallen zu sein und radikale Änderungen nicht wahrzunehmen. Ein Beispiel ist ihr Glaube, im Foto der Wahrheit der Wirklichkeit auf der Spur zu sein, ohne zu begreifen, dass diese Wahrheit ins Funktionale abgeglitten ist und unsichtbar wurde, oder das Unverständnis dessen, dass die Mediengesellschaft ehrlich gemeinten Bildern längst eine Funktion als «unentwegte Unterhaltung», wie es Susan Sontag sagte, zugewiesen hat, als Alibi, als Betäubung oder sie für Überwachungs-, für Kontrollzwecke missbraucht. Die Reportagefotografie behauptet immer noch die Wahrheit der Welt. Und steht damit ziemlich alleine in der Medienlandschaft. Sie begreift die neuen Denk-Bild-Formen seit der Konzeptkunst nicht als Chance, ihr gilt die Suche nach Wahrheiten, die erst durch das Bildermachen entstehen, als ausserfotografisch, als künstlerisch.

Gleichzeitig hat die Aufrüstung in den Medien dazu geführt, dass die Betrachter überfüttert sind. Das Neue, das Noch-Nähere, Noch-Schrecklichere sind das Redundante geworden. Wir kennen das Angebot. Wer lässt sich noch von Bildern hungernder Kinder, kranker Afrikaner, schiessender Soldaten, streikender Arbeiter aufrütteln? Die Bilder mögen noch so nah, noch so direkt, noch so durchdringend sein: Sie schreien vor tauben Ohren. Auf der anderen Seite klagt eine Figur in einer Erzählung von Ingeborg Bachmann: «Glaubst du, dass du mir die zerstörten Dörfer und die Leichen abfotografieren musst, damit ich mir den Krieg vorstelle, oder diese indischen Kinder, damit ich weiss, was Hunger ist? Was ist das denn für eine dumme Anmassung ... Man schaut sich doch Tote nicht zur Stimulierung für Gesinnung an.»

Die Reportagefotografie leidet insgesamt an stilistischer und gedanklicher Erschöpfung. Die Fotografen wissen zu gut, was ein gutes Reportagefoto ist, es gibt eine Art von Akademismus der Reportagefotografie. Das ist ihre hausgemachte Krise, welche die Krise der Umstände ergänzt. Und doch: Wir brauchen ihre Bilder, weil wir weiterhin auf Sichtbarkeit angewiesen sind, weil das bildliche Erzählen trotz aller Auflösungen eine mögliche Form des Erkennens und Berichtens darstellt, weil wir in diesen Bildern die Welt immer wieder – sie neuerschaffend – verstehen. Die Reportagefotografie aber ist nur dann nicht tot, wenn sie radikal subjektiv, radikal kühl und distanziert oder radikal zwischentönig ist; wenn sie ihre erstarrte Haltung aufgibt und beweglich wie ein Cursor wird.

Ein Museum, viele Arten der Fotografie

Vielleicht beantwortet gerade diese Vielzahl an Produktion und Gebrauch der Fotografie, an Sichten, die auf sie geworfen werden, die Frage, wieso es Sinn macht, ein Fotomuseum zu begründen. Stösst nämlich Fotografie, wie heute allerorten, in einem Kunstmuseen plötzlich auf grosses Interesse, dann konzentriert man sich auf 1 Prozent der gegenwärtigen und vergangenen Fotografieproduktion, man interessiert sich für die Fotografie innerhalb des Kunstdiskurses, bevorzugt diesen fotokünstlerischen Kommentar oder jene fotografische oder videoprintige Situierung einer Haltung – und stösst die anderen 99 Prozent der Fotografie abgrenzend zurück. Die Frage, weshalb Fabrikhallen in Fotografien immer so hell und sauber sind, kann im Kunstkontext nicht von Interesse sein. Das ist auch verständlich. Sonst ist sie aber sehr wohl von Interesse.

Für uns war diese Ausgangslage entscheidend, ein Fotomuseum zu gründen. Nicht dass wir allen Erwartungen genügen wollten, aber das Fotomuseum Winterthur widmet sich den beiden zentralen «Einsatzgebieten» der Fotografie: der Fotografie als Kunst, als künstlerisches Ausdrucksmittel, als Vision eines Autors, einer Autorin; und der Fotografie als begleitendes, gestaltendes und erzeugendes Dokument von gesellschaftlichen, kulturellen und zivilisatorischen Realitäten. Ich spreche hier auch von den unzähligen Fotografien, die für die verschiedensten Zwecke in Auftrag gegeben wurden, in der Industrie, dem Dienstleistungssektor, der Werbung, der Mode, der Presse, des Denkmalschutzes und der Wissenschaft. Diese Fotografiefelder bilden – gegenüber der als sammelwürdig anerkannten Bildwelt – eine Art Schattenbildwelt unserer Zivilisation. Sie liegen überall herum, in Archiven, auf dem Dachboden, im Keller, und sie werden bei der erstbesten Gelegenheit –bei Platzmangel, Finanzkrise, Umstrukturierung –, kaltblütig entsorgt. Dabei sind sie doch ein ganz wichtiger Teil des visuellen Gedächtnisses, sie waren wohl erfolgreicher in der Beeinflussung unserer Wahrnehmung als jede künstlerische Fotografie, denn sie begegnen uns jeden Tag, überall und unvorbereitet.

Das Spannungsfeld von künstlerischer Fotografie und von Gebrauchsfotografie, der inhaltliche cross over von freikünstlerischen Arbeiten und von gesellschaftlich-kulturell geprägten Aufträgen, kann eine sehr fruchtbare Wechselwirkung erzeugen. Und gerade im Aufbau dieses inhaltlich fruchtbaren Spannungsfeldes – mal ist es eine Kunsthalle, mal ein kulturhistorischer, soziologischer Ort, mal ein klassisches Fotomuseum –, sieht das Fotomuseum Winterthur seit zehn Jahren sein Profil. Es ist ein Ort und bedient wechselnde Ausstellungs- und Fotografiekategorien. Ich denke, diese Konzeption ist die grosse Tugend des Fotomuseums. Diese Schräglage macht es spannend, bietet Möglichkeiten, die an anderen Orten mit starren Rahmenbedingungen, in denen, ebenso wie in den Medien, die Losung «the medium is the message» gilt, nicht zu haben sind.

Fotografie im Museum, das bedeutet ein Medium in einem anderen Medium. Manchmal ist die Fotografie dafür konzipiert (im Falle von Kunstfotografie), manchmal fast dagegen gedacht (im Falle der Reportage zum Beispiel). Man stelle sich Industriefotografie plötzlich im white cube, an der weissen, reinen Museumswand vor. Das Einbringen von Fotografie ins Museum birgt eine Reihe von Problemen. Es ist Teil einer künstlerischen Arbeit, wenn darauf hingearbeitet wird, wenn der Weissraum, die Rahmung, die Rhythmisierung mitgedacht wird. Dann lesen sich die Werke und ihre Hängung wie eine aufeinander abgestimmte, beabsichtigte Partitur, wie eine Bild-Performance.

Ganz anders hingegen all die Fotografien, welche nicht für den Museumszweck geschaffen wurden. Im dichten Zeitungslayout zum Beispiel wirken Reportagefotos eingebunden und funktionieren, werden sie jedoch an die offene, weisse Museumswand gehängt, «schwimmen» und «flattern» sie, wirken hilflos. Reportagebilder, in einem bestimmten Auftrag für eine bestimmte Zeitschrift zu einem bestimmten Zeitpunkt gemacht und in einem bestimmten Sprachgerüst publiziert – Titel, Text, Legenden –, «stolpern» oft ohne Vorwarnung ins Museum. Sie geraten damit in einen völlig anderen Kontext, der – im klassischen Sinn – das Meisterwerk, den master print, ausstellt und feiert. Sie erhalten ein Format, das weder an ein Buch noch an ein Bild erinnert, werden in einen Rahmen mit Passepartout gepackt, in einer strengen, endlosen Einerreihe angeordnet, womöglich ohne irgendeinen Text – und sind dann nur noch auf sich selbst gestellt, das heisst ausschliesslich auf ihre ästhetische Kraft angewiesen. Sicht, Absicht und Haltung des Reportagefotografen verrutschen, lösen sich in nichts auf. Kontext und Information verschwinden.

Wenn ein fotografisches Dokument unkontrolliert die Schwelle ins Museum überschreitet, in dessen totalisierenden Kontext gerät, welcher letztlich immer wieder auf die auratische Präsenz eines Kunstgegenstandes abzielt, dann verliert dieses Dokument seinen eigenen Kontext, ringt mit Vorstellungen ästhetischer Gestaltung, die nicht a priori die seinen sind, und kämpft gegen die Ausstrahlung schlechten, gar lächerlichen Geschmackes.

Nun, allmählich ändern sich die Grundsätze der Museen. Wir verstehen das Fotomuseum Winterthur zum Beispiel ausdrücklich als einen «Ort der Auseinandersetzung mit dem Medium Fotografie» und unter diesem Vorzeichen ist es weniger ein Ort der Feier und Zeremonie von fine art of photography, als vielmehr der Diskursivität, des «Lesens», Informierens, Abwägens und kritischen Betrachtens. Dieser Kontext formt sich durch die Abfolge der Ausstellungen und durch das Rahmenprogramm immer deutlicher heraus. Innerhalb dieses neuen Museumskontextes sind die zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, innerhalb des «Ausstellungshaften» (Rosalind Krauss) ist dann ein eigener Subkontext der Arbeit aufzubauen. All dies geschieht alleine mit dem Ziel, Inhaltlichkeit und Gehalt der Arbeit angemessen zu (re-)präsentieren, ihr die grösstmögliche Chance zu bieten, wahrgenommen, korrekt wahrgenommen und allenfalls verstanden zu werden. Ganz abgesehen von der inhaltlichen Positionierung und Situierung, der Kontextualisierung in Begleitprogrammen.

Und dafür bietet ein offenes Fotomuseum vielleicht die beste Möglichkeit. Fotografie wird hier nicht den in Kunstmuseen verbreiteten Einschränkungen unterworfen, wird nicht vergraben und vernachlässigt wie oft an anderen Instituten, wird nicht fortgeworfen, wie es mit vielen grossartigen Industriearchiven in den vergangenen dreissig, vierzig Jahren geschehen ist.


Zehn Jahre sind wir nun dabei. Wir arbeiten weiter daran und öffnen nun das nächste Kapitel des Fotomuseums Winterthur.

P.S.: Die Rede zieht ihre Schlüsse aus meiner alltäglichen Beschäftigung mit Fotografie, aus der Lektüre gängiger Fotoliteratur und aus dem eigenen Schreiben und Sprechen über Fotografie während der vergangenen zehn Jahre.

Dank: Ich danke allen Fotografen und Fotografinnen, allen Künstlern und Künstlerinnen, allen Mitgliedern des Stiftungsrates und Vereinsvorstandes, allen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen und allen Mitgliedern, Gönnern, Patrons und Sponsoren, die zusammen dieses aufregende Projekt Fotomuseum Winterthur bisher möglich gemacht haben.