Februar 2009

Joakim Eskildsen - Ad van Denderen (Presserede)
[Fotomuseum Winterthur]

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Meine Damen und Herren


Herzlich willkommen im Fotomuseum Winterthur, herzlich willkommen zu den beiden Ausstellungen von Joakim Eskildsen und Ad van Denderen. Heute haben wir einen Grosstag, mit vier Eröfffnungen insgesamt auf dem Areal. Um 11.15 wird Martin Gasser drüben in die Ausstellung zum Werk von Joel Tettamanti und Thomas Seelig in die Sammlungsausstellung Printed Matter einführen. Danach treffen wir uns wieder hier bei Brötchen, Wasser und Wein und persönlichen Gesprächen – wenn Sie das wollen. I welcome warmly Joakim Eskildsen and Ad van Denderen: Thanks a lot for the wonderful collaboration, for letting as entering in your fantastic world of images!
Wir alle wissen, dass eine der stärksten Seiten der Fotografie das Dokumentieren von Ereignissen ist, seien es visuelle Bestandesaufnahmen von Situationen oder von gesellschaftlichen Begebenheiten. Wir wissen aber auch, und sehen das auch an den Auktionen bestätigt, dass die Fotografie heute ebenfalls als autonomes Bild gelesen und verstanden wird. 3 Millionen Dollar würden kaum für ein einziges Foto ausgegeben, wenn darauf „einfach nur ein Ereignis“ abgebildet ist. Es geschieht da mehr, das Bild an sich tritt in den Vordergrund, die Kraft der visuellen Zeichen nehmen gefangen – fast so autonom, wie bei einem gemalten Bild.
Die Fotografie hängt an einer langen Leine. Auf der einen Seite der Leine dokumentiert sie die Welt, versucht mit einer Reihen, Gruppen, Blöcken von Bildern einen bestimmten Sachverhalt visuell darzustellen, vielleicht gar zu analysieren. Auf der anderen Seite der Leine hängt das reine Bild, die fotografische Ikone, die wir wegen ihren dunklen, tiefen Farben, wegen ihren ausgeklügelten Helldunkelwerten, wegen dem ergreifenden Gehalt des Bildes leben. Der Verweis auf die Realität rückt da zurück, zugunsten einer Aufmerksamkeit auf das Bild selbst, auf den Inhalt, den Gehalt, den Wert des Bildes. Diese Spannbreite macht Fotografie so besonders, und so besonders interessant in der heutigen Welt-
Ab heute ist diese Leine wieder streng gespannt: Sie erleben hier zwei starke dokumentarische Positionen mit hohem Bildbewusstsein (Joel Tettamanti eingeschlossen), und drüben in der Sammlungsausstellung Printed Matter erleben sie bildautonome, bildkritische, medienkritische künstlerische Positionen. Das Fadenkreuz wird geschärft durch zwei Eckpfeiler in unserem jüngeren Programm: die Ausstellung des grossen französischen Dokumentaristen Eugène Atget im vergangenen Jahr und diejenige des grossen amerikanischen Dokumentaristen Walker Evans, den wir im Sommer dieses Jahres zeigen werden. Vor diesem Hintergrund und im Fadenkreuz dieser beiden wohl bedeutendsten Wegbereiter der dokumentarischen Fotografie, zeigen wir den dänischen Fotografen Joakim Eskildsen und den holländischen Fotografen Ad van Denderen.
Vor zwei Tagen war bei der taz online der Titel zu lesen:

Roma regelrecht hingerichtet. „Es war eine regelrechte Hinrichtung in dem kleinen ungarischen Dorf Tatárszentgyörgy. Die Täter hatten alles gründlich geplant. Sie setzten das kleine Haus am äußersten Rand der Gemeinde, in dem die Familie Csorba mit drei kleinen Kindern lebte, in Brand. Als der Vater sich mit seinem fünfjährigen Sohn retten wollte, wurden beide mit einer Schrotflinte erschossen.

Für die Polizei war die Sache schnell klar: Ein Kurzschluss habe das Feuer verursacht, die Toten seien Opfer des Unfalls. Wie bei solchen Fällen üblich, war die Spurensicherung schnell abgeschlossen. Erst die Minderheitenvertretung der Roma teilte kurz darauf mit, dass im Dorf ein Doppelmord geschehen sei. Es gebe Augenzeugen. So habe die Polizei die großen Blutlachen 12 Meter vom Haus entfernt übersehen und auch den Benzingeruch ignoriert. Eine Obduktion brachte dann Gewissheit: Schusswunden führten zum Tod des Vaters und des Sohnes.“

Günther Grass, der sich seit langen Jahren für die Romas einsetzt, beginnt sein Vorwort im Buch mit den Zeilen. „Die Roma sind wie kein anderes Volk, ausser dem der Juden, anhaltender Verfolgung, Benachteiligung und der planmässigen Vernichtung ausgesetzt gewesen. Dieses Unrecht hält bis heute an. Selbst als Opfer der verbrecherischen Rassenpolitik während der Zeit des Nationalsozialismus werden die Roma und mit ihnen die Sinti nur zögerlich anerkannt; während der Völkermord an den Juden, wenn auch gegen Widerstände, sich unserem Bewusstsein eingeprägt hat, wird die Vernichtung von mehreren hunderttausend, was heisst, ungezählten, „nichtlebenswerten Zigeunern“ in den Vernichtungslagern Auschwitz-Birkenau, Sobibor, Treblinka und an vielen anderen Orten des Schreckens allenfalls beiläufig erwähnt. Es ist, als stünde das Volk der Roma und ihre Opfer noch immer unter dem Verdikt, einer minderwertigen Rasse anzugehören.“

Roma ist der Oberbegriff für eine Reihe ethnisch miteinander verwandter, ursprünglich aus Indien stammender Bevölkerungsgruppen, die ab dem 14. Jahrhundert in mehreren Migrationsschüben über Vorderasien nach Nordafrika und Europa sowie in der Moderne auch nach Amerika und Australien gelangten. Roma leben als ethnisch-kulturelle Minderheit auf allen Kontinenten, in ihrer grossen Mehrheit jedoch in Europa und dort vor allem in den südosteuropäischen und einigen mitteleuropäischen Staaten. Sehr viele Angehörige der Minderheit werden sowohl aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit als auch aufgrund ihrer sozialen Situation marginalisiert und stehen so im Schnittpunkt zweier Formen gesellschaftlicher Ausgrenzung. Ihre Sprache ist das Romani, aufgefächert in viele Dialekte.

Joakim Eskildsen und Cia Rinne, seine Lebens- und Projektpartnerin, waren während sechs, sieben Jahren immer wieder unterwegs, um Vertreter dieses geschüttelten, verachteten und reichen Volks kennenzulernen, sie lebten jeweils drei, vier Monate am Stück bei ihnen und fotografierten aus einer nahen Teilnahme heraus das heutige Leben der Romas in Indien, Russland, Rumänien, Ungarn, Griechenland, Frankreich und Finnland. Dabei entstand ein sehr intensives, dichtes, erzählerisches Porträt der Romas, jener Romas jedenfalls, die ihre Eigenart noch leben, die sich nicht vollständig in anderen Gesellschaften assimiliert haben. Ein Porträt, das aus Empathie, aus Zuneigung, entsteht, das zeigen und verstehen will, das diese skeptische Distanz, die wir den Romas gegenüber spüren, überwinden will. Entstanden ist ein farbiger, prächtiger visueller Report aus einem Feld, das sonst mit unendlich vielen Vorurteilen übersät ist, entstanden sind Porträts, Innenräume, Landschaften, dörflliche Einheiten, die spüren lassen, dass auf Zeit Joakim und Cia Teil der Romas geworden, ihr Vertrauen gewonnen haben, so dass ein Blick in Leben möglich ist, das sonst von heftigem Rassismus, manchmal auch gegenseitigem verstellt ist.


Ad van Denderen seinerseits interessiert sich nicht, wie Nicolas Sarkozy, nur aus strategischen Gründen für eine Mittelmeer-Union, er umkreiste den Mittelmeerraum mehrfach und fotografierte entlang der Wassergrenze das Verbindende, das Trennende, die noch lebenden Traditionen ebenso wie den schrillen Mittelmeertourismus und fügte alles in eine Ausstellung, ein Buch, eine Webseite, die sein gesamtes Projekt umfasst, um ein dichtes, vernetztes, befragendes Bild dieser Region zu geben. Einen Fundus an Bilder, in dem wir selbst als Betrachter und Betrachterinnen gefragt werden, aktiv zu werden, zu forschen, zu erkunden.
Europa, Afrika und der Nahe Osten treffen im Mittelmeerraum aufeinander. Die Gegensätze zwischen Kulturen, Religionen, Idealen und Ideologien sind ebenso krass wie der Gegensatz zwischen arm und reich. Für die meisten Europäer besteht dieser Raum nur aus attraktiven Ferienzielen, die sich am nördlichen Rand eines azurblauen Meeres von Gibraltar bis zur südlichen Türkei (von bestimmten Teilen Marokkos und Tunesiens einmal abgesehen) angesiedelt haben. Die ganze Küstenlinie hat sich zu einer einzigen, langen Aquapolis entwickelt, in der in den nächsten zwanzig Jahren weitere Dutzende von Millionen Zweitwohnungen entstehen werden.

Dieser Raum leidet unter unterschiedlichen Wahrnehmungsprozessen. Für einen durchschnittlichen Touristen – der, wie regelmässig im Fernsehen durchgeführte Untersuchungen zeigen, nicht in der Lage ist, seinen Ferienort auch nur ungefähr auf der Landkarte Europas zu lokalisieren – gibt es keine Konflikte, keine Kulturschocks. Die Sonnenanbeter sollen so wenig wie möglich von dem unablässigen Strom der Flüchtlinge auf die Insel Lampedusa mitbe­kommen. Das Mittelmeer ist eine Idylle, ist auch ein Mythos – durch die lange Geschichte und die aktuelle geopolitische Situation gestaltet sich der Prozess, ein Bild von diesem Raum zu formen, komplex und verworren. Die Grösse und die Komplexität des Raums erschweren es, ihn als Einheit zu sehen. So Blue, So Blue – Ränder des Mittelmeeres ist der Versuch des holländischen Fotografen Ad van Denderen, den Mittelmeerraum als ein zusammenhängendes Gebiet zu sehen, das trotz seiner unübersehbaren Kontraste und Paradoxien einen inneren Zusammenhalt besitzt, die sich durch den Begriff „Globalisierung“ nur ungenügend erklären lassen. Van Denderens fünfjährige Odyssee folgt nicht nur einer politischen Notwendigkeit, sondern entwickelt auch fotojournalistisch eine völlig neue Form.

Er arbeitete beinahe zwanzig Jahre lang für die links gerichtete, seit Mitte der siebziger Jahre für ihren engagierten Fotojournalismus bekannte Wochenzeitschrift Vrij Nederland. Er hat sich in seinen Bildreportagen mit den unterschiedlichsten aktuellen Themen beschäftigt. Welkom in South Africa, sein 1991 erschienenes Buch über eine kleine Gemeinde in Südafrika nach der Apartheid, verhalf ihm zu einer gewissen Autorität im Hinblick auf das, was sich in der früheren niederländischen Kolonie abspielte. Sein ausgeprägtes Interesse für Konfliktzonen liess ihn den Nahen Osten aufsuchen und konfrontierte ihn mit dem nie enden wollenden Krieg zwischen Israelis und Palästinensern.
Der Fokus auf konkrete Ereignisse bewirkt, dass die grösseren Zusammenhänge und Beziehungen zwischen unvereinbar erscheinenden, aber grundlegend vernetzten Konstellationen unberücksichtigt bleiben. Er beschloss, dass es eine andere Methode brauchte, das zu visualisieren, deshalb tauschte er für dieses Projekt seine mit einem Schwarzweissfilm geladene 35mm Kamera gegen eine Mittelformatkamera mit einem Farbfilm. Der Übergang von einem 24x36mm-Aufnahmeformat zu einem von 6x7cm-Format erforderte eine völlig neue Arbeitsweise. Die Mittelformatkamera ist nicht nur rein äusserlich ein völlig anderer Gegenstand, sondern erfordert auch eine ganz andere Handhabung. Das Format zwingt den Fotografen, ein Bild anders zu sehen und zu komponieren und die Geschwindigkeit und Nervosität, die mit einer 35mm Kamera einhergehen, zugunsten einer langsameren, konzentrierteren Beobachtungsweise hinter sich zu lassen. Der Wechsel war gewissermassen ein Abschied von der Rolle des Nachrichtenreporters, dem „entscheidenden Augenblick.“ Van Denderen bemerkte, dass er plötzlich Dinge wahrnahm, die er früher nicht gesehen hatte. Seine Aufmerksamkeit galt in verstärktem Masse seiner Umgebung und dem allgemeinen Kontext, den „unschlüssigen Augenblicken“, sowie den Zeichen – Dingen oder Situationen, die offensichtlich auf ein Netz von Ursachen und Wirkungen, von Entwicklungen und Ergebnissen, von Verbindungen und Parallelen hinweisen – und auf Aspekte, die auf den ersten Blick bedeutungslos erscheinen, die einfach nur da sind.
Bei Fotografen. Ad van Denderen und Joakim Ekildsen,  sind im Unterschied zu den kurzen Meldungen in den Tageszeitungen oder in den News der Fernsehstationen lange und langsam unterwegs. Sie lassen sich Zeit, lassen sich ein, distanzlos, lassen sich treiben und mitziehen, mitschwimmen, begleiten das die vielen Schichten der besuchten Wirklichkeiten für eine gewisse Zeit. Sie betreiben einen visuellen Langzeitjournalismus, einen „Slow Journalism“, sie werden zu Essayisten, die uns einen reichen Fundus an Bildmaterial anbieten, für unsere Schau- und Denklust, ohne dass sie uns gängeln, aber mit dem Auftrag neugierig, genau und langsam zu schauen.
Das spürt man in jedem Bild hier und natürlich vor allem im Gesamtblock der Bilder. Das vereint diese beiden Arbeiten, obwohl die Blickweise und Bildästhetik des stillen analytischen Beobachters Ad van Denderen und des eintretenden, teilnehmenden, umarmenden Joakim Eskildsen sichtbar verschieden sind.
Ich jedenfalls wünsche mir, mit ihnen zusammen weitere Wirklichkeitsschichten zu entdecken. Und Ihnen wünsche ich nun viel Schaulust und Schauruhe beim Erkunden dieser reichen Bildwelten.


Vielen Dank