Januar 2019  /  republik.ch

Jules Spinatsch - Das Aufsplittern der Bilder

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«Semiautomatic Photography (2003 – 2020)» heisst die Ausstellung, die das Genfer Centre de la Photographie unter Joerg Bader zurzeit für Jules Spinatsch auslobt. Wieso es «– 2020» heisst, ist mir zu Schreibbeginn nicht bekannt. Den Begriff halbautomatisch assoziieren wir in der Regel schnell mit einer Waffe. Ein Foto schiessen, shooting a photograph, ist eine alte Redewendung, die kaum wegzukriegen ist. Der Welt mechanisch-elektronisch ein Bild abringen, sie in einem bestimmten Zustand festhalten und möglicherweise mit Bedeutung behaften, wird sprachlich mit dem Schiessen verbunden. Beim Gebrauch von Digitalkameras, von Smartphones hingegen wirkt unsere Körperhaltung eher so, als seien wir Landvermesser, als würden wir eine Karte, einen Prospekt studieren, obwohl das Tempo des Fotografierens auch hier laufend zunimmt.
Dieser persönliche Akt des Fotografierens, des visuellen Schiessens ist bei Jules Spinatsch stark reduziert. Vor ein paar Jahren setzte er zuerst eine computergesteuerte Webcam ein, deren Programm er zusammen mit einem Ingenieur entwickelt hatte, seit 2012 benützt er eine weit schärfere, dichtere, digital gesteuerte Spiegelreflexkamera ab Stange, die es ihm erlaubt, die Sequenz der Aufnahmen selbst zu steuern. Der eigentliche Aufnahmeakt besteht darin, dass Spinatsch die Kamera an einem von ihm gewählten Ort aufstellt – zum Beispiel in einem Fussballstadion, im Eingangsbereich von SAP, dem Softwarehersteller, im Überwachungszentrum einer Jugendvollzugsanstalt, beim Bau von Traktoren oder an einem Rave. Dort bestimmt er den bildlichen Ausschnitt und erteilt anschliessend dem Computer zwei Befehle: Wie lange das Aufnahmeset insgesamt dauern soll, und wie viele Aufnahmen in diesem Zeitraum gemacht werden. Die Aufnahme eines Fussballspiels dauert 90 Minuten plus Pause, die Schicht in der Fabrik acht Stunden, ein Rave vielleicht 12 oder auch 24 Stunden. Im gewählten Zeitraum schiesst die Kamera alle ein, zwei, drei Minuten ein Bild und tastet den eingestellten Bildraum wie ein Tintenstrahldrucker von links oben nach links unten und dann allmählich linienweise nach rechts oben und rechts unten ab. Frame um Frame, Bild um Bild, in hoher Qualität. Zum Schluss fügt die Kamera dieses geometrische Puzzle wieder zu einem einzigen Grossbild zusammen.
Ein Bild besteht dann aus 300, 600, 2000 oder gar 10‘000 Einzelaufnahmen wie bei seinem riesigen Werk vom Wiener Opernball, je unterschiedlich lang über einen Zeitraum von 2, 4, 6 oder mehr Stunden aufgenommen. Wir müssen uns beim Betrachten dieser Bilder von der Einheit von Raum und Zeit einer Fotografie, die an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit, mit der Dauer von 1/60, 1/125, 1/250 Sekunden aufgenommen worden ist, verabschieden. Je länger die Aufnahme dauert und je geringer die Anzahl von Klicks ist, desto disruptiver wird das Verhältnis von Ort und Zeit. Je kürzer die Aufnahme und je grösser die Anzahl der Klicks, desto fliessender wirkt ihr Zusammenspiel. Ein Bild, erzeugt mittels 60 Einzelaufnahmen in total 60 Sekunden, wird bei den Betrachtenden vielleicht sogar das Gefühl eines Kontinuums auslösen, falls sich vor der Linse nicht allzuviel bewegt. Stellen wir uns dieses Bild dreidimensional vor, wobei die dritte Dimension der Visualisierung der Zeit entspricht, dann bäumt sich vor uns ein Viertel einer Pyramide, eines geometrischen Hügels auf. Das älteste Bild links oben ist am weitesten weg, das letzte Bild unten rechts steht zuoberst oder uns am nächsten. Die Kombination von zeitlichen und räumlichen Brüchen verhalf der Aufnahme, die Jules Spinatsch im Stade de Suisse in Bern beim Fussballspiel zwischen der Schweiz und Frankreich machte, zur Pointe, dass der Ball im gesamten Bild überhaupt nie auftaucht. Titel dieser Arbeit: «Heisenbergs Offside – 3003 still shots recorded with interactive network camera from 20:20 – 23:05”.
Jules Spinatsch zeigt in der Genfer Ausstellung Bilder, in denen alle Einzelteile wieder zu einem Ganzen zusammengeführt und gerahmt werden, er verteilt aber die Einzelteile auch auf den Wänden, versplittert so die Aufnahmen in der gesamten Ausstellung oder spult sie als Video hintereinander, Bild für Bild, auf einem Screen ab. Er wird zum fotodigitalen Zauberlehrling, der mit Hilfe des Computers ein Spiel mit Ort und Zeit spielt – ein halbautomatisches Spiel -, das die Rolle des Subjekts in der Fotografie diskutiert, und ebenso des Subjekts der Betrachtung, der Wahrnehmung einer sich ebenfalls aufsplitternden Welt. Als Künstler macht er dabei laufend transparent, wie er vorgeht und wie er mit der Vorstellung des Dokumentarischen in neuer, quasi digi-kubistischer Weise operiert.
Formen des Auflösens und Formen des automatisierten Dokumentierens erleben wir zurzeit zuhauf. Nehmen wir zum Beispiel folgende Situation: Auf einem Platz explodiert eine Autobombe, danach wildes Geschrei, 3 oder 4 Tote, eine Reihe von Verletzten, Absperrung des Tatorts. Solche Szenarien sind uns über die Medien ja gewissermassen vertraut (letzten Donnerstag ereignete sich ein solcher Vorfall in Kolumbien). Üblicherweise wird die Nachricht in den Printmedien von einem einzigen Bild begleitet, das ein zugereister Fotograf nach der Tat, eine Stunde, ein paar Stunden später aufgenommen hat. Ein Bild, ein Subjekt, ein Objekt, after the fact, online noch drei, vier mehr.
Aber auf dem Platz standen viele Menschen herum, an jeder Ecke, auch mitten drin, 27 davon zückten ihr Smartphone und fotografierten oder filmten die Szene. Real wäre so möglich, was vor ein paar Jahrzehnten der Nouveau Roman in Frankreich lediglich imaginieren konnte: dass wir das Ereignis aus 27 verschiedenen Blickpunkten dokumentiert sehen, nicht mehr nur aus einem und dass die Aufnahmen nicht mehr nur nach, sondern auch während der Tat entstanden sind. Denkbar wird nicht nur eine zeitliche Vielschichtigkeit wie bei Jules Spinatsch, sondern auch eine räumliche, die der Verdeutlichung der Tat und ihrer Aufklärung dient. Allenfalls wäre dies auch eine gesellschaftlich wichtige und positive Entwicklung. Es würde eine Art von visueller Gemeindeversammlung entstehen, insofern Anwesende jeweils gebeten würden, aktiv und freiwillig ihre Bilder zum Ereignis der untersuchenden Behörde einzureichen.
Leider nimmt der Weg des Dokumentierens und seiner Verwertung zurzeit aber eine andere Richtung. Alle visuellen und nichtvisuellen Daten der Handys und des Internets insgesamt können vollautomatisch von «Grössen», von westlichen Tech-Giganten und östlichen Polit-Gewalten oder umgekehrt von Tencent und NSA elektronisch abgezogen und gesammelt werden, und zwar ohne dass der Einzelne etwas bemerkt. Anschliessend werden sie natürlich auch ausgewertet, ohne dass die Kriterien des Auswertens transparent sind. Wir sind wie Getreide, das abgestrichen und geerntet wird, sagt Shoshana Zuboff in ihrem Buch «Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus». Es ist leicht sich vorzustellen, wie auf diese Weise aus einem Instrument der Aufklärung und der Erkenntnis ein Mittel der wirtschaftlichen Manipulation und der politischen Kontrolle wird, wie aus dem aufrichtigen Dokumentieren schnell ein geldhungriges Herrschen, aus der Öffnung, Vielfalt und Aufsplitterung wieder ein  geschlossener, manipulativer Kreis generiert wird.
Darüber nachzudenken lohnt sich, denke ich, besonders anhand des eindrücklichen Werks von Jules Spinatsch. «-2020» meint übrigens, dass weitere Auswertungen seines umfangreichen Datenbestands folgen werden, falls Sie es diesmal nicht nach Genf schaffen sollten.

Centre de la Photographie, Genf, bis 2. Februar 2019