2012  /  U. Domröse: Geschlossene Gesellschaft. Künstlerische Fotografie in der DDR 1949–1989

Kontrastreich, grobkörnig und rußig
Ein persönlicher Streifzug durch die Siebzigerjahre

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Drei Merkmale haben die Fotografie der 1970er-Jahre geprägt: Der schwarze Negativrand, der weitwinklige Blick und die Grobkörnigkeit. Wie Vanillestangen drehte sich der schwarze Strich um das sozialdokumentarische Bild, sich manchmal verdickend, manchmal verjüngend. Die Ecken waren meist weich und abgerundet. Wer protzte, vergrößerte zudem Negativnummer und Perforation für den Filmtransport mit und bettete das Bild in ein fettes dunkles Rechteck. Innerhalb des Gevierts breitete sich ein Teppich von hellgrauen, grauen und schwarzen Punkten aus. Der Tri-X-Film von Kodak mit seinen lichtempfindlichen 400 ASA wurde beim Entwickeln oft weiter auf 800, 1200 oder 1600 ASA hochgepusht, um auch bei schlechten Bedingungen mit dem vorhandenen Licht und ohne Blitz fotografieren zu können – mit dem Resultat, dass sich über schöne Gesichter, wunderbare Landschaften, monochrome Architekturflächen unterschiedslos ein gleichgültiges Raster von feineren und gröberen Filmkörnern spannte, das alles Abgebildete wie ein Netz einzuhüllen schien. Der Blick schließlich: Er musste in den 1970er-Jahren weitwinklig sein, mit sich verjüngenden Körpern und Gesichtern, fliehenden Linien und Horizonten, die sich zunehmend zur Seite neigten. Ein seltsamer Blick, der Nähe suggerierte und Weite brachte, der das Ikonische mit dem Komplexen verbinden wollte.

Alle drei Merkmale waren weit verbreitet, der Rand hingegen, der jedes schwarz-weiße Foto in eine Art von ‚tödlich‘-ernstem Tatbestand verwandelte, war universell. Die Fotografie stand in den 1970er-Jahren erstmals unter Druck. Gegen außen war sie dabei, ihre Vorreiterrolle im Berichten über die Welt an das Live-Fernsehen zu verlieren. Gegen innen stand sie zunehmend im Schatten der ersten großen Welle farbiger Werbefotografie, und die Kunst begann, sich der Fotografie zu bemächtigen. Zudem war der Begriff der ‚fotografischen Wahrheit‘ allmählich unter die Räder geraten. In diesem Licht erscheinen die drei Merkmale wie Teile einer starken Reaktion, Teile einer bildnerischen Gegenstrategie. Die Fotografie hatte möglichst authentisch und real zu wirken. Nah, direkt, schnörkellos und ohne eine die ursprüngliche Absicht verzerrende Nachbearbeitung in der Dunkelkammer: Das wurde zum Credo der bildnerischen Gegenreformation, das war der neue Ausdruck einer als zunehmend komplexer verstandenen Welt. Realität und Authentizität wurden durch das Sichtbarmachen des Mediums, durch das ‚Aufreißen‘ des Bildes, der Brillanz suggeriert. Hingegen wurde die Abstrahierung durch das Schwarz-weiß der Fotografie vorläufig noch kommentarlos zur Kenntnis genommen. Sie galt im Dokumentarischen weiterhin als Richtschnur, als Maß aller Dinge, als Haltungsadelung sogar. Die Erinnerung an die heftigen Diskussionen und Verwerfungen über den Einzug der Farbe ins Museum, aufgebraucht durch die Ausstellung von William Eggleston 1976 im New Yorker Museum of Modern Art, klingt nach.

Die drei Merkmale fanden Verbreitung und Einsatz rund um die Welt. Das, was schließlich mit ihnen aufgenommen, versehen und vorgezeigt wurde, unterschied sich aber je nach Land, je nach Weltregion deutlich. Sie waren offensichtlich mehr Stil- denn Haltungsmerkmale, mehr Attitüde denn Gehalt. Die Fotogeschichte der 1970er-Jahre verlief in der Schweiz, in der DDR oder in den USA, um drei sehr unterschiedliche Kontexte zu nennen, denn auch erstaunlich verschieden, obwohl wir in allen drei Kulturen auf schwarzumrandete, dunkle, körnige ‚Wahrheiten‘ schauten.

Der generelle Blick auf die praktisch ausschließlich in Schwarz-Weiß realisierte Reportage- oder sozialdokumentarische Fotografie in der Schweiz fällt für die 1970er-Jahre ernüchternd aus. Nach der Blütezeit der Schweizer Fotografie von 1930 bis 1960 waren schon die 1960er-Jahre auffallend konventionell. Dieser Trend setzte sich erstaunlicherweise auch in den 1970er-Jahren fort, obwohl in dieser Dekade die (jugend-)politischen Ereignisse, die gesellschaftskritische Stimmung, die Diskussionen um den Vietnamkrieg eigentlich das Aufgreifen neuer, aktueller Themen und das Wagnis neuer Zugriffsformen verlangt hätten. Ein großer Fotopreis der Schweiz zu jener Zeit, der sogenannte SBG-Preis (Preis der Schweizerischen Bankgesellschaft), gab Jahr für Jahr Themen wie ‚Typisch Schweizerisch‘, ‚Volk und Armee‘, ‚Jugend und Gesellschaft‘, ‚Der Alltag in der Schweiz‘ als Rubriken vor, und es wurden meist harmlose, innige, idyllische Bilder eingereicht und ausgezeichnet. Eine große Mehrheit von Fotografen pflegte eine rührige, pittoreske, aber oft auch lähmend unzeitgemäße Sicht auf aussterbende Berufe und Landstriche, auf schweizerisches Brauchtum und Landleben: Marcel Imsand fotografierte einen Hirten, der vierzig Jahre auf der Alp gelebt hatte; Herbert Maeder porträtierte den letzten Appenzeller Seidenweber; Karl Schill widmete sich der Wanderschäferei bei Niederbipp und im Verzasca-Tal; Siegfried Kuhn fotografierte bei Schneegestöber den Viehmarkt von Lauenen, Simone Oppliger eine Alp im Pays d’Enhaut, Hugo Jaeggi die beschwerliche Arbeit von alten Bäuerinnen bei Münster. Die Themenliste könnte weitergeführt werden. Die 1970er-Jahre gehen mit Bildalben voller volkskundlich-visueller Ehrenbezeugungen, mit einer Art Archäologie der Gegenwart, des visuellen Nachrufs auf das Aussterben von Traditionen in die Schweizer Geschichte ein – außer die Geschichte verziehe all dies, indem sie es allmählich vergäße. Dann stächen plötzlich die Industriefotografien von Roland Schneider, die Gesellschaftskritik von Luc Chessex, die Zürcher-Krawall-Bilder von Willy Spiller, die Porträtserie aus einer Textilfabrik von Barbara Davatz oder Jean Mohrs Zusammenarbeit mit John Berger in The Seventh Man und später in Eine andere Art zu erzählen als engagierte Türme hervor – nicht als Leuchttürme in neblig-düsterer Umgebung, sondern als Sand im wohllaufenden Getriebe einer scheinbar heilen bürgerlichen Welt. In diesen Werken stimmten Bildform und Bildinhalt überein, in vielen anderen liefen sie auseinander. Und die düstere Erscheinung der Bilder kollidierte zu oft mit Themen und Mentalitäten der Hochkonjunktur.

In der DDR waren die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen in dieser Zeit gänzlich andere. Einer florierenden Hochkonjunktur in der Schweiz stand der tuckernde Motor der Planwirtschaft gegenüber, einer durch den Krieg wenig versehrten Gesellschaft eine Gemeinschaft, die weiterhin sichtbare und unsichtbare Spuren des Zweiten Weltkrieges zu verarbeiten hatte. Die trotz Schwierigkeiten im Wesentlichen funktionstüchtige direkte Demokratie in der Schweiz fand in der ostdeutschen Version der Diktatur des Proletariats wenig Entsprechung. Glaubhaftigkeit des Systems und Selbstbestimmung auf Schweizer Seite standen wachsendem Misstrauen und Kontrolle in der DDR gegenüber. Die gesellschaftlichen Mentalitäten hätten verschiedener nicht sein können (und die privaten Mentalitäten sind hier nicht das Thema), dennoch wurden oft die gleichen formalen Mittel genutzt, um die Wirklichkeit fotografisch zu fassen. Die knappen, skizzenhaften Gegenüberstellungen stützen das Argument, dass die beschriebene Bildform dokumentierender Fotografie vermutlich weit besser in die ostdeutsche Gesellschaft der 1970er-Jahre passte. Der pragmatische, etwas langsame, wenig aufregende und nicht künstlich stimulierte DDR-Alltag fand in den Bildern seine entsprechende Form. Aber auch hier passte nicht alles zusammen. Die Bilder der DDR, die in diesem Buch versammelt sind, erzeugen eine von den Themen der Bilder fast unabhängige Stimmung. Sie wirken auffällig ruhig, gelassen, leicht melancholisch, selten belastend schwer. Von außen gewinnt man den Eindruck, dass die Fotografen es hier zwar wagten, Dinge zu zeigen, Verhältnisse zu dokumentieren, Menschen zu porträtieren, aber mit einer auffallenden Zurückhaltung, und mit Vorsicht. Ist es der Respekt vor dem Abgebildeten? Ist es die Ruhe des Alltags, der nicht wie im Westen durch Werbung und Medien angereizt und überdreht ist? Ist es die Angst, mit dem Finger zu direkt auf Dinge zu verweisen, und dafür bestraft zu werden? Es genau und deshalb auch kritisch zu sehen – und nicht wie vorgeschrieben euphorisch, das gesellschaftliche Gefüge visuell bekräftigend? Die Melancholie brach überall durch, bei Ursula Arnold, Evelyn Richter, Roger Melis, Ulrich Wüst, bei den Graulandbildern von Peter Oehlmann, selbst bei den vier herausragenden Fotografen, Arno Fischer, Helga Paris, Sibylle Bergemann und Gundula Schulze Eldowy. Die Bilder lesen sich, als sei der Entzug von Energie, das Lahmlegen von Aufwärts- und Vorwärtsbewegung, von Hurra-Geschrei, hier als ‚passive‘ Oppositionsstrategie angelegt worden. Nur in den privaten Familienporträts von Christian Borchert ist ein feiner Hauch von Zufriedenheit, von Heiterkeit zu spüren – ein Anflug von kleinem Glück, das seine Bilder durchzieht.

Arno Fischer war ein Meister der Verwandlung. In seinen Fotografien wurden die Teilnehmer zu Beobachtern, die mit ernster Miene, aber auch mit Schmunzeln verfolgen, was geschieht. Man ist versucht das beobachtende Teilnahme zu nennen, in Umkehrung des bekannten Begriffs. Oder sie rückten den Menschen und seine Umgebung leicht voneinander weg, als passten sie nicht zueinander, als seien sie sich gegenseitig etwas fremd. Helga Paris fotografierte sich selbst, spiegelte streng nüchtern ihre Stimmungen, Veränderungen, Verletzungen, ihre Befindlichkeiten – so als stünde sie täglich real vor dem Spiegel der Wahrheit. Hier wie in den Bildern nackter Menschen von Gundula Schulze Eldowy herrscht Ehrlichkeit, Direktheit und Ungeschminktheit: Das Leben zeigt sich, einfach, ungeschönt. Es wird nicht für uns interpretiert. Nackte, unaufgeregte Normalität bietet sich zur Betrachtung. Sybille Bergemann, eine der bekanntesten Modefotografinnen der DDR und Frau von Arno Fischer, verwischte Realität und Fiktion, Allgemeines und Privates, Offensichtliches und Verborgenes. Sie impfte der Wirklichkeit einen Hauch von Surrealität ein, der die klare Fixierung, Benennung zugunsten eines Durchstreifens, Suchens, Ahnens verschiebt.

Zeitgleich wurden in der Schweiz und der DDR gleiche oder doch ähnliche Formen der visuellen Gestaltung genutzt, aber unterschiedlichste Inhalte bearbeitet. Die erstaunliche Gemeinsamkeit: In den beiden so verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten dominiert eine sichtbare Zurückhaltung, die neuen gestalterischen Parameter, das Raue, Direkte, Rohe der Bildsprache werden selten ausgereizt. Genügsamkeit im gerade erstmals Reichtum erprobenden Land auf der einen Seite, Vorsicht als Leitfaden im ausgesteckten Feld zunehmender Kontrolle im anderen Land.

In den USA der 1970er-Jahre hingegen, und auch in Teilen Westeuropas, spiegelte sich die Verschärfung der Form auch im Inhalt wider. Das Jahrzehnt begann mit Blumenhemden und Haschischpfeifen und wandelte sich in ‚New Wave‘, ‚Punk‘ und ‚No Future‘. Eine schrittweise Radikalisierung der Authentizität, die sich am Weg Bob Dylans vom Bänkelsänger zum New Waver, der seine eigenen Songs 1980 schärfer, härter, schneller spielte, beobachten lässt. Larry Clarks hochschwangere Frau, die sich im glühenden Gegenlicht einen Schuss setzt, lässt noch heute das Blut des Betrachters gefrieren. André Gelpke wirft schrille Blicke in das Sextheater in Sankt Pauli, die eingebaute Außenwelt des bürgerlichen Hamburg. Anders Petersens schwarz-weiße Raufaserfotografie choreographierte Szenen, in denen das Abgründige, das Verletzte, das Verlorene des Daseins, in denen Depressionen und übersteigerte Höhenflüge zu sehen sind. Kein Bild aus der Mitte der Gesellschaft, der Normalität des Bürgertums, aus der ausbalancierten abgesicherten Schonzone, dafür Bilder von Rissen, von Zwängen, von Sehnsüchten und vom Gelächter der Verzweiflung, vom Ernst des nahenden Todes. Nan Goldin schließlich als viertes Beispiel transferierte die Härte in ihre farbige Kleinbildfotografie, in die Ballade der sexuellen Abhängigkeit und realisierte das, was seither ‚teilnehmende‘, ‚teilhabende‘ Fotografie genannt wird, diesen Schritt aus der Distanz mitten hinein, das Fotografieren dessen, was man selbst lebt, liebt und hasst, das direkte Fotografieren der ‚ungeschönten Realität‘. (Nicht zu vergessen die Vertreter der New Topographics, Lewis Baltz, Robert Adams, Joe Deal, Henry Wessel, Frank Gohlke, die feinkörnig zwar, aber kühl, scharf und präzise die Gesellschaft sezierten.)

In diesen Bildern manifestieren sich Radikalisierungen in der Gesellschaft und Radikalisierungen des Blicks. Die Welt wirkt respektloser, schamloser, und somit auch die Sicht darauf. Die offene Gesellschaft der USA mit ihren großen gesellschaftlichen Gegensätzen, mit der radikalen scharfen Kommerzialisierung des Lebens förderte geradezu den direkten, präzisen, kühlen oder harten Blick. Und sie erforderte ihn auch. Hier war diese Bildform nicht mehr bloß Stil, sondern auch Haltung, und wenn schon Attitüde, dann mit Sex und Gewalt. Die Messer waren geschliffen.

Doch wie wir im Rückblick wissen: Das nachfolgende Jahrzehnt wollte es anders. Groß mussten die Fotografien sein, sie sollten mit der Wahrnehmung von Billboards in den Straßen und mit der Großmalerei in den Museen konkurrieren können. Fotografie als Bild war nun angesagt. Fürs Erste schien die Kraft der Werbung, des Kommerzes das Widerständige, Raue besiegt zu haben.