April 2013  /  Du 835

Körper und Bild: Architektur (In eigener Sache)

<p>Michael Wesely: <em>Kanadische Botschaft, Leipziger Platz, Berlin</em> (5. 2. 2003–28. 4. 2005) C-Print, 125 × 175 cm</p>

Michael Wesely: Kanadische Botschaft, Leipziger Platz, Berlin (5. 2. 2003–28. 4. 2005) C-Print, 125 × 175 cm

Die Architektur ist ein Augenspiel. Wir schauen sie an. Gleichwohl erfahren wir sie ebenso, vielleicht sogar direkter, auch wesentlicher mit dem Körper. «In diesem Raum ist mir eng» oder «Hier kann ich gut atmen»: Diese Urteile fällen wir, nachdem wir einen Raum erfahren, nachdem die Rückmeldungen von allen unseren Sinnen ein Gesamtgefühl vermittelt haben. Der «stumpfe» Tastsinn (Goethe) ist dabei genauso wichtig wie der Sehsinn. Wir meinen mit dem Auge zu sehen, doch wir «sehen» mit dem Körper, wir streunen durch Räume, Gänge, Häuser, nehmen den Geruch auf, spüren die Ausstrahlung der Materialien und Grössenverhältnisse. Erleben, ob man in einem Raum atmen kann oder förmlich erstickt, ob die Proportionen harmonisch wirken oder irritieren, als würde an unserem Körper gezogen, als würde es uns hier strecken oder dort beugen. Unsere Sinne reagieren wie kommunizierende Röhren direkt und unmittelbar auf das, was gebauter Raum, was Architektur an Atmosphäre aussendet. Wir hören gar ihren Klang.

Architekturen sind Körper, in die wir eintreten, eingehen, die wir für die unterschiedlichsten Zwecke begehen, bewohnen, behausen. Wir denken und arbeiten darin, wir wohnen und schlafen in ihnen. Die Geschichte der Baukörper ging in der westlichen Welt den Weg vom gedrungenen, rauen, dickwandigen Volumen zum hauchdünnen, glatten, lang- oder hochgestreckten, jedenfalls stark ausgedehnten Körper. Alte Häuser im Engadin haben oft Mauern mit der unglaublichen Stärke von ein bis zwei Metern, als müssten sie Erdrutschen, als wollten sie Bergrutschen Widerstand leisten. Stahl-Glasbauten hingegen sind oft so filigran, dass sich Innen und Aussen kaum mehr unterscheiden lassen, dass die Bewohner im Drinnen ein Gefühl vom Draussen haben und die Wohligkeit des Eingebettetseins gegen das Gefühl des Ausgesetztseins eintauschen. 

Baukörper wurden über die Jahrzehnte immer filigraner, bis sie hauchdünn, bis sie transparent waren. Doch erst die Bilder entmaterialisieren die Architekturen gänzlich, entziehen ihnen die Stofflichkeit und reduzieren sie auf Form und Zeichen. Der voluminösen Materialität stehen die ultraflachen Bilder derselben Architekturen entgegen. Architekturen sind gedacht, gezeichnet, fantasiert und seit der Erfindung des Mediums endlos fotografiert worden. Die ersten Fotografien waren allesamt Architekturbilder. Architekturen leben ein zweites, ein paralleles Leben durch Bilder. Vor, während und nach ihrer Existenz sprechen Bilder über sie, überformen sie mit Gedanken, Fantasien und Ideologien. Oliver Wendell Holmes’ euphorische Forderung zu Beginn der Fotogeschichte, die Welt zu fotografieren, damit wir sie materielos erfahren können, und die Welt danach abzubrennen, wird schon schrittweise in der analogen, jedoch besonders in der digitalen, virtuellen, in der medialen Welt zu einer Form von «Realität»: Der lange Weg von der Substanz zur Oberfläche, von der Materie zum Zeichen, ist beschritten – 3D-Drucker starten bereits in umgekehrter  Richtung. 

Bilder sprechen eine eigene Sprache, sie regen andere Diskurse an als die körperliche Erfahrung von Architektur. Sie verwandeln Volumen in Fläche, sie destillieren Materie zu Form und Zeichen. Fotografie formt das Bild der Architektur, akzentuiert sie, verformt sie, vergrössert, verkleinert, erhöht oder erniedrigt sie, aber kaum je wird die Architektur von ihr in Ruhe gelassen. Wohl deshalb versuchen viele Architekten, das Bild ihrer Gebäude mitzubestimmen. Der klassische Architekturfotograf ist ihr Werkzeug, der ihren Anweisungen zu folgen hat, der in der Stunde Null – sobald das Gebäude fertiggestellt, gereinigt und bereitgestellt ist – fotografiert, bevor das Gebäude in Besitz genommen und verwandelt wird. Der Idealzustand in der Stunde Null ist der Augenblick der klassischen Architekturfotografie. In dieser kurzen Zeitspanne stellt sich das Gebäude genau so dar, wie die Architekten es sich vorgestellt, wie sie es gedacht haben, als luzide Struktur oder mächtige Ikone. Ein Augenblick der Entrückung, bevor die Architektur in «Gebrauch» genommen wird, bevor sie, wie Roland Barthes es zum Thema der Hose formuliert hat, durch den Gebrauch erst zur eigentlichen Architektur, zum funktionierenden Gebäude wird. 

Gebäude gehorchen einer Vielzahl von Zwecken, von Haupt- und Nebenzwecken. Ein Teil davon besteht ausschliesslich im Fotografiertwerden. Bilder demonstrieren ihr Prestige, den damit verbundenen Statusanspruch, Bilder verwandeln Architekturen zu brands, verschaffen ihnen eine ungeahnte Lebenszeit, die weit über ihre ursprüngliche Bestimmung hinausreicht, die auch ihre absichtliche oder unabsichtliche Zerstörung überdauert, die Gebäude und Städte auch nach ihrer Vernichtung in Erinnerung rufen. Bilder verwandeln die Architekturen in Denkmodelle, in fluide Ströme der Zeit, in Apps ihrer eigentlichen Realität.

Das Fotomuseum Winterthur feiert diesen Frühling: 20 Jahre Fotomuseum Winterthur. Wir feiern mit der Ausstellung «Concrete» und thematisierten eben «Fotografie und Architektur».