2014

Landschaft als Metapher, Landschaft als Labor
Gedanken beim Betrachten der Bilder von Scott McFarland

English Version: Landscape as Metaphor, Landscape as Laboratory →

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Als Petrarca den Mont Ventoux in der Provence bestieg, sich damit aus dem bisherigen Raum der zugesprochenen Existenz gelöst hat und mit Ausblick in die Ebene zum ersten Mal die Natur als Landschaft bewunderte, war zweierlei geboren: Das autonome Subjekt einerseits und die vor ihm liegende, von ihm getrennt wahrgenommene Landschaft andererseits. In dieser Handlung und der damit verbundenen Erfahrung versinnbildlicht sich ein Werte- und Orientierungswandel (auch wenn Petrarcas Brief vom 26. April 1336 heute nicht mehr verbürgt ist). Die bis dahin geltende vertikale Orientierung und die absolute Einheit der Existenz unter Gott wurde aufgebrochen in die horizontal ausgerichtete Dualität Subjekt-Objekt, in ein sehendes, erfahrendes, denkendes Subjekt, das auf eine vor ihm, zu seinen Füssen liegende Welt trifft und sie sehend als Gegenüber erfährt. Und in eine vertikale Ausrichtung, die in den Bereich des Glaubens verlegt wurde.

In der Vollendung dieser Auftrennung, in der Romantik, machte sich, parallel zur beginnenden Industrialisierung, eine tiefe Unsicherheit breit, ein Gefühl des Alleinseins, des Verlorenseins, des Getrenntseins vom grossen Sinn-Zusammenhang, der grossen, alles einbettenden Erzählung. Gleichzeitig sorgte das neue Subjekt-Objekt-Verhältnis – ich hier, dort die Welt – aber auch für eine neue stabile Ordnung, für die notwendige Festigung des erobernden, forschenden und produzierenden (bürgerlichen) Ichs. Erste Orientierung und Ordnung des Menschen im Diesseitigen ist fortan die Welt, die Landschaft, die er vor sich erblickt, die ländliche Landschaft ebenso wie die Stadtlandschaft, die häuslich-private Umgebung wie die Öffentlichkeit. Zweite Orientierung ist der andere, der erblickte Mensch, die Erfahrung, nicht alleine auf der Welt zu sein. Und schliesslich die dritte Orientierung, die gleichzeitig erste Verunsicherung ist: Der Augenblick, wenn der erblickte Mensch zurückschaut, uns anschaut. Ein Augenblick des Selbstbewusstwerdens, aber zugleich der Verunsicherung, von aussen betrachtet zu werden, ein Objekt der Betrachtung zu sein. 

Zwei, drei Veranschaulichungen dazu: Der Blick in die klar strukturierte, auf ein Zentrum hin ausgerichtete Stadt, in die heute Leon Battista Alberti zugeschriebene «Città Ideale» (15. Jhd.) im Palazzo Ducale von Urbino stärkte Verstand und Ordnungssinn des Menschen, während etwa der schweifende Blick über die Landschaft in Poussins arkadischen Malereien («Die vier Jahreszeiten» oder «Die arkadischen Hirten» zum Beispiel) die Seele, die Psyche des Menschen nährte. Die konstruierte Idealstadt und die imaginierte Ideallandschaft: Ein perfektes Bild-Paar des aufgeklärten Bürgers, auch wenn beides eine Konstruktion, eine Fiktion des Sehens ist. Das 19. Jahrhundert erhöhte dann das Panoramabild, ob gemalt oder fotografiert, zum Sinnbild der Weltergreifung: Die Welt liegt vor unseren Füssen, sie gehört uns, wir können sie ergreifen und begreifen, in Besitz nehmen und gedanklich durchdringen. Viertel-Panoramen, Halb-Panoramen, ja sogar 360-Grad-Panoramen wurden geschaffen, wie zum Beispiel das berühmte fotografische San-Francisco-Panorama von Eeadweard Muybridge (1878) oder das gemalte Bourbaki-Panorama im schweizerischen Luzern von 1881, wiedergegeben und komplex interpretiert in einer Arbeit von Jeff Wall. 360-Grad-Panoramen, die dem sehenden Subjekt die totale Verfügbarkeit der vor ihm liegenden Welt suggerieren. Gegenbild dazu ist Caspar David Friedrichs «Mönch am Meer» von 1810. Der Mönch, der einsam am Meer steht, der in die Weite schaut, und gleichzeitig den Verlust des bisherigen Sinnzusammenhangs und die neue Erfahrung des Ichs, alleine in der Welt zu sein, zu erleben und zu symbolisieren scheint. 

Dieser Weltentwurf, der von einem zentralen Subjekt ausgeht, auf das sich (perspektivisch konzentriert) die Totalität der Welt bezieht, erfuhr im 19. Jahrhundert, im Zeitalter des aufgeklärten Individuums und der bürgerlichen Machtentfaltung, seinen Höhepunkt, und zugleich einen ersten Knick. Die Elektrifizierung und Dynamisierung von Wirtschaft, Verkehr und Stadtleben veränderten das Gleichgewicht zwischen Stadt und Land stark. Die Stadt – einst ein Konzept des Sozialen, des Rationalen, ein Vertrag des guten Benehmens in der Gemeinschaft der Menschen – wurde durch das Grösser- und Mächtigerwerden allmählich zur Vorstellung des Bösen, zum Moloch, der sich ausbreitet und das Land infiziert. Das Land wurde kolonisiert, die Natur bewirtschaftet. Im Gegenzug dazu wurde die Landschaft zur nationalen Angelegenheit aufgewertet, wurden zum Schutze des Landes, der Vorstellung «Natur» Teile der Naturlandschaften zum schützenswerten Nationalpark erhoben. 

Die Landschafts-Fotografie am Ende des 19. Jahrhunderts und bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts ist durchtränkt davon. Die sinnfälligsten Beispiele dafür lieferte die amerikanische Fotografie, zum Beispiel die Werke von Carlton Watkins, Eadweard Muybridge, William Henry Jackson bis hin zu Edward Weston, Anselm Adams oder Minor White. Bei diesen Fotografen ist die Landschaft leer, im Gegensatz zur vollen, hektischen Stadt, sie ist in sich ruhend und wirkt lebenszyklisch rhythmisiert. Die Landschaft wird in diesen Fotografien heiliggesprochen. Estelle Jussim spricht in ihrem Buch «Landscape as Photograph» (1985) von der «Landscape as God», von der Landschaft als Gott, als Erhöhung, als Symbol. Die Natur wird in und durch die Fotografie zur pantheistischen Erfahrung verwandelt, zum naturalisierten Göttlichen erhöht. Die Psyche des amerikanischen (und westlichen) Subjekts erschuf sich hier, wenn man so will, eine Fluchtmöglichkeit, ein Refugium des Ursprünglichen, ein Surrogat für das verlorene Heilige. Sie erschaute das Göttliche in der natürlichen Natur.

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Petrarca stand auf dem Berg, der Mönch im Gemälde von Caspar David Friedrich steht einsam am Meer und erlebt die Leere und Erfülltheit zugleich. Die Projektion einer heiligen Natur, der natura naturans, begann sich erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu ändern. Diese Vorstellung war plötzlich mit der jener einer veränderten Landschaft konfrontiert, mit der Besetzung, mit der Bearbeitung des Landes, der Verwandlung der Natur in ein Territorium, das in Besitz genommen wird. Robert Adams, Lewis Baltz, Joe Deal, Frank Gohlke, Dan Graham, Ed Ruscha und andere damals junge Künstler stellten der entzückten, entrückten die zeitgenössische realistische Sicht der konkreten, alltäglichen, banalen Umgebung entgegen. Diese neue Generation von Fotografen skandalisierte die Vorstellung des schönen, existentiellen Landschaftsbildes: Aus der göttlichen Landschaft wurde die Landschaft als reales Faktum und als wirtschaftliches Konzept. 

Adams, Baltz, Shore und ihre Kollegen haben das Ideal Amerikas, das oft als karg, leer, in-sich-ruhend-schön-und-erfüllt dargestellt worden ist, ganz einfach bevölkert. Aus dem heroischen, poetischen «Ich und die Natur» wurde zuerst ein «Wir und der Park» und schliesslich gar ein banales «Sie und das Gärtchen». Wenn es einst ein unberührtes Fleckchen Natur gegeben hat, dann standen nun immer schon Einfamilienhäuser da oder es lagen ausgefahrene Gummireifen herum, als Zeichen von: Da war doch schon jemand. Die Landschaft ist auch im fotografischen Bild zum Territorium geworden, begrenzend, ausgrenzend, und vor allem besetzt. Landschaft als Territorium, das Territorium als gebauter, gestalteter, besetzter Raum. Real-Estate-Landschaften, die Stadt und Land unter monetären Gesichtspunkten eins werden lassen. 

Der Blick in diesen Fotografien ist nicht mehr von einer Utopie getragen, ausser jener, möglichst utopielos zu untersuchen, zu forschen, was mit den Städten und den Vorstädten geschieht. Diese Fotografen und Künstler setzten fortan ihren Bildpurismus als kritisches Instrument ein, ersetzten die Illusion der fotokünstlerischen Fertigkeit durch eine fast mechanistische Beschreibung und zwangen derart dem Betrachter der Fotografien, dem Subjekt der Betrachtung, eine grundsätzlich neue Rolle auf: ohne Wahl und unsentimental den Blick auf die Welt vor uns, auf die aktuelle, gegenwärtige Welt zu richten. In den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde das Bild der Landschaft real, profanisiert, entschlackt und banalisiert.

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Und wo stehen wir heute, nach der Jahrtausendwende, mitten in der digitalen Revolution? In welche Welt, welche Landschaft schauen wir? In welche schaut Scott McFarland, blicken andere Fotografen und Fotografinnen? Genauer gefragt: Wer schaut, welche Subjekte blicken? Woher schauen sie? Wohin schweift ihr Blick und was erblicken sie? Thomas Ruff beispielsweise guckte mit Nachtsichtgeräten, Restlichtverwertern die Strasse entlang, heute schaut er über Nasa-Bilder auf den Mars oder direkt in die Algorithmen des Internets hinein. Walead Beshty stellt die Landschaften aus, die Sicherheitskontrollen nach mehreren Kontrollen auf seinen Ektachromen hinterlassen. Andreas Gurskys Blick streift über Teppichböden, Decken und Materialoberflächen in zeitgenössische Landschaften hinein. Thomas Struth bewegt sich ins Museum hinein und beobachtete Menschen in Museumslandschaften beim Sehen von Bildern oder dann, ganz anders, beim Erforschen der Kernteile der Wirklichkeit. Der jüngst verstorbene Schweizer Balthasar Burkhard setzte sich ins Flugzeug und überflog die Alpen, die Wüsten, vor allem aber auch die endlosen Bauwüsten grosser Städte. Gregory Crewdson inszeniert an realen Orten seine beschwörenden, verführenden halbdüsteren Kinobilder. Endlose Reihen von Stadtlandschaftsbildern der boomenden asiatischen Städte bevölkern Bilderbanken und Fotogalerien.

Die vergangenen zwanzig Jahre haben die Strukturen von Stadt und Land nochmals gründlich aufgewühlt. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts erkennen wir eine starke Dynamisierung der Stadt, eine «Futurisierung». Die Veränderungen, die heute stattfinden, sind noch grundsätzlicher. Nach der Eroberung des Raumes folgte die Eroberung der Zeit – «Fahren, Fahren», hat Paul Virilio dafür als (Buch-)Titel geschaffen –, nach der Eroberung der Zeit folgt die Aufhebung des Ortes – wir sind hier, arbeiten für dort und sind online verbunden. Das Zentrum-Peripherie-Verhältnis erfuhr eine Drehbewegung, Zentren entleerten sich, wurden umfunktioniert, Peripherie wird für die Wirtschaft zentral. Peripherie ist plötzlich überall, sie ist die Gegend von heute, losgelöst von Geschichtlichkeit, von Bedeutung durch Gewachsenheit, rein funktional angelegt. Gleichzeitig verschärfte sich die Problematik des Unsichtbarwerdens. Wesentliches ist heute unsichtbar, wird in Kabel, Blackboxes, wird in den Untergrund oder in die Cloud verlegt. Landschaften im Untergrund, Landschaften der Unsichtbarkeit. Wie fotografiert man in dieser Zeit? 

Der 39 Jahre alte, seit fünf Jahren in Toronto lebende kanadische Fotograf Scott McFarland stellt keine ikonischen Bilder aus, und liefert keine Antwortbilder, die diese Fragen schnell beantworten und die Antworten wie ein Erklärungsschild vor sich hertragen. Der erste Eindruck, den seine Landschaftsbilder vermitteln, ist vielmehr bestimmt von einer eigenen Unaufgeregtheit, einer auffallenden Gelassenheit. Dinge werden scheinbar einfach so gezeigt. Menschen tauchen auf, einzeln und in Gruppen, sind da und agieren. Die vorgestellten Ereignisse sind nicht von brennendem Interesse, jedenfalls keine Headline Storys, sie zeigen keine Verschandelung der Landschaft, keine Vergiftung der Luft, kein Verbrechen, das sich vor unseren Augen abspielt, keine absurde Geschichte, die uns mit Neugierde oder Schrecken ins Bild hineinzieht. Nein, Scott McFarlands Bilder wirken auf den ersten Blick pragmatisch, positivistisch – so ist es hier, schaut hin – und alltäglich zumeist. Sie wirken so, als würden sie nickend die Welt zeigen, als würden sie stumm fast, wenn auch mit Stil, zur Kenntnis nehmen, dass sich das Leben abspielt, dass sich Dinge ereignen, sich Konstellationen ergeben, die seine Aufmerksamkeit finden, die ihn sein Stativ aufstellen und erstmal mit einer 4x5inch-Kamera fotografieren lassen. 

Klassische analoge Farbfotografie im Grossformat ist der Ausgangspunkt, manchmal leicht erkundend eingesetzt, als sei sie Teil einer Spurensicherung, zurückhaltende forensische Fotografie, die ruhig und aufmerksam einen Ort untersucht. Die Kamera steht da, vermutlich auf Augenhöhe fixiert, und schaut in die Welt hinaus, hinein in die Szenerie, öfter frontal, ohne die Suche, die Sucht nach schlauen, originellen Blickwinkeln. Doch mit der Zeit beginnt der Betrachter zu blinzeln. Zwei junge Menschen vor einer grossen Marmorschale im Berliner Lustgarten wirken nicht so gegeben, nicht ganz selbstverständlich und natürlich hingesetzt. Der Blick durch eine Säulenreihe hindurch, mit später angesetzten, andersfarbigen Sockelsteinen und angelegter, gestürzter Halbsäule, erscheint mehrfach in Fotografien, doch jedes Mal mit verändertem Himmel. In einem Panoramabild scheinen Skifahrer direkt in den Frühling hineinzufahren, und wir mit ihnen den Hang hinunter. Der Betrachter blinzelt einmal, zweimal, dreimal und spürt dieses Unbehagen in sich, weil er leicht verunsichert ist. Er weiss nicht mehr ganz genau, was sich da vor seinen Augen abspielt, was real ist, was konstruiert, was von ihm als Betrachter gefordert wird. 

Auffallend oft sind es Panoramabilder, unterschiedlich stark gedehnte, in der Horizontalen ausgestreckte Bilder, von leichter Verlängerung bis zum 1:4-Format, also viermal länger als hoch. Scott McFarland beschreibt im Gespräch, wie er vorgeht, wie die Bilder formal entstehen. Er stellt sein Stativ auf Augenhöhe, montiert die 4x5inch-Plattenkamera und lässt die Kamera rotieren. Er drückt also ab und dreht dann die Kamera weiter, und wieder weiter. Bemerkenswert ist, dass er mit der Kamera Hochformate aufnimmt, meistens wenigstens, und dass er diese Hochformate anschliessend zu querformatigen, langgezogenen Landschaftsbildern zusammenmontiert. Aus einer Reihe von Porträts, von aneinander gereihten Porträtformaten, entsteht schliesslich eine Landschaft. Aus Porträts der Landschaft wird ein landschaftliches Porträt. 

Bis hierher ist sein Prozedere klassisch analog, anschliessend jedoch werden die Negative eingescannt und stehen fortan als digitale Daten zur Verfügung, mit denen auf Photoshop gearbeitet werden kann. Das Kamerabild wird in den Computer eingelesen, der herkömmliche nasse Prozess wird durch den neuen trockenen abgelöst, mit dem eingelesenen Film wird eine «Canvas» erstellt, wie es im Photoshop heisst, die bearbeitet, auf der konstruiert wird. Ein heute noch üblicher Hybrid. Gregory Crewdson beispielsweise geht technisch genau gleich vor, ausser dass er 8x10inch oder noch grössere Negativformate verwendet. Bis schliesslich das Endresultat digital von einem Epson Printer auf Fibre-Rag-Papier ausgedruckt wird.

Grossformatige Bilder erheischen schnell grosse Aufmerksamkeit, sie verlangen oft, dass wir in sie «eintreten», dass wir sie physisch spüren, Scott McFarlands Panoramabilder hingegen tun das nicht, sie scheinen uns viel mehr aufzufordern, bequem zurücklehnen. Fast so, als sässen wir im Kino und schauten auf die Leinwand. Entspannt sehen wir auf seine «Screens», seine Foto-«Leinwände», auf denen die zwei erwähnten jungen Frauen in «The Granite Bowl in the Berlin Lust Garten» (2006) wie Wachen vor einer grossen Granitschale stehen. Sie scheinen Ausschau zu halten. Auf Bekannte, Freunde, Verwandte vielleicht? Jedenfalls kaum auf Angreifer, auf Opponenten, dafür wirken sie weit zu entspannt. Die Granitschale zeigt beträchtliche Verbrauchsspuren, Alterspuren, vor dem die beiden Wesen, die Zwillingsschwestern sein könnten, noch weit jünger wirken. Vor allem wirken sie wie aus einer anderen Zeit, wie in diesem Garten gelandet. Das Bild gibt die Szenerie so angeschnitten wieder, als sei es das Resultat eines Schnappschusses, doch dann fällt auf, dass links eine junge Mutter mit ihrem Baby beschäftigt ist, während rechts ein alter Mann mit seinem Hund aus dem Bild verschwindet. Der vermeintliche Schnappschuss wandelt sich, je länger man hinschaut, in ein präzis orchestriertes Gebilde, das vom Werden und Vergehen handelt, das unterschiedliche Lebensenergien versinnbildlicht. Das Lied zur Aufführung liefert vielleicht die Frau, die im Mittelgrund mit einer Harmonika hantiert. 

Das «Boathouse with Moonlight» (2003) steht am Waldrand, ausgerichtet auf den See. Es ist im Mischlicht aufgenommen worden, das bläulich fahle Mondlicht mischt sich mit dem gelblichen Hüttenlicht. Die beiden Lichtstärken sind nicht sehr verschieden, das Hüttenlicht sticht nur wenig hervor, kaum ein Bildteil versinkt im Schwarz, alles zeichnet, wenn auch schummrig, und gibt erkennbar wieder, was es ist. Die beiden grossen Flügeltüren, innen weiss gestrichen, stehen aufgeschwungen offen da. Die Anlage und Bearbeitung des Bildes lässt die Hütte, diesen mit drei Wänden, zwei Türen und einem Dach hauchdünn aus der Natur herausgeschnittenen erleuchteten Kubus wie ein Fenster im Wald erscheinen, rein funktional gebaut und so gesichert, dass ansteigendes Wasser die Hütte nicht wegschwemmen kann. Im Hintergrund stapeln sich die Ersatzziegel, falls mal einer gebrochen oder weggewindet wird. Das Boot fehlt, ist es draussen auf dem nächtlichen See oder einfach nur weiter vorne am Ufer platziert? Eine Reihe von kleinformatigen Einzelbildern scheint die Hütte wie einen Tatort oder einen archäologischen Fund zu erkunden. Ein (Dunkel-)Kammerlicht draussen in der Landschaft, ähnlich wie in den vier Bildern «Sugar Shack» (2012/13), in denen die Hütte zum Brennpunkt eines Agierens wird.

Während diese beiden Bilder nur wenig gedehnt sind, liest sich «Wortley's Wiggle, Caledon Ski Club, Mississauga Rd. Caledon, Ontario» (2013) wie ein richtiges Panorama, mit 55inch Höhe und 165inch Länge. Das Bild ist nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich gestreckt. Die vergnügten Skifahrer des Caledonian Skiklubs scheinen direkt in den Frühfrühling hinüber zu fahren. Das Bild vereinigt Winter und Frühling zugleich, links die buntfarbig gekleideten Skifahrer auf Schnee vor graubraunen Bäumen, rechts unten die leeren Sessel des Sessellifts, ein erstes Grün auf dem Rasen und das zarte Grün der ersten Blätter, die an den Bäumen spriessen. Das Bild ist offensichtlicher als andere aus zwei oder vielen Bildern zusammenmontiert, die zeitlich recht weit auseinanderliegend aufgenommen worden sind. Es entwickelt mit seiner Umkehrung - der Frühling wirkt fader, blasser als der Winter, als würden sich die Energien der Zeiten umkehren – eine melancholische Bildstimmung. Ein Breughel von heute, in dem eine lange Echtzeit, konzentriert und verkürzt, eine eigentümlich verschränkte Bildzeit ergibt. Ein transitorisches Bild, das im Jetzt und in der Verkürzung auch zum Sinnbild für die Badlands in Caledon wird, für das langsame Vergehen und Unbrauchbarwerden des Bodens, der sich wie gewellte, vertrocknete Magma durch die Landschaft zieht. Ein zweites Panorama dieser Werkgruppe kontrastiert den ewigen Winter eines schlechten Bodens mit aufspriessender Frühlingsnatur.

Das erodierte Badland ist so wenig fruchtbar und brauchbar, wie das modernistische Pinguin-Becken im Londoner Zoo im Bild «Emptied Penguin Pool, London Zoo, May, 2008, Architect: Berthold Lubetkin, 1934» (2009), das leer steht, weil es eine moderne, gut ausschauende Architektur ist, die dafür, wie Scott McFarland im Gespräch mit James Welling hier im Buch erläutert, absolut tierunfreundlich, ja geradezu pinguinfeindlich ist. Zu kantig, zu scharf sei es vom Architekten Lubetkin geplant und gebaut worden, so dass sich die Pinguine nicht fortpflanzen konnten. Ein wunderschön geschwungener, mit Grandezza gescheiterter Modernismus!

«Empire» führt den Betrachter in einen botanischen Garten, einen Kakteengarten in Huntington, nähe Pasadena in Los Angeles. Kakteen, die sich in «Echinocactus grusonii» (2006) scharf-kühn-wichtig vor uns erheben, nach hinten oben ziehen, aufgestellt und aufgereiht wie Schüler für das jährliche Klassenfoto. Vorne sitzen die Kleinen, hinten stehen die Grossen. Wie sonst selten scheint der Blick des Betrachters hier quasi frontal von den Kakteen erwidert zu werden. Als hätten sie für den Fotografen posiert, als sei hier eine Familienaufstellung im Gange. Das Bild ist aber auch ein Farbbild, das heisst ein Bild der Farben. Es ist leuchtend, knackig, fröhlich, und vor dem leuchtend blauen Himmel spielen die zahllosen sich fein oder deutlich unterscheidenden Grüntöne wie eine Modeschau ihr Spiel. 

Die zwei «Huntington»-Panoramas, bei unterschiedlichem Wetter aufgenommen oder mit unterschiedlichen Himmeln versehen, zeigen den botanischen Garten als Labor: starke Natur, blühende Pflanzen stehen neben ausgerissenen, abgeschnittenen Kakteen, ein Arsenal der unterschiedlichen Zustände von Pflanzen, von Versatzstücken zwischen Natur und Kultur. Versatzstücke, die wir auch wieder im Friedhofsbild in New Orleans («View from St. Roch Chapel, New Orleans», 2012) finden, hier mit Blick durch einen Innenraum nach draussen, links voller Vorlagen für Grabsteinfiguren, rechts voller Prothesen von Verstorbenen.

Die Bilder von «Hamstead Heath» stehen im Zeichen von John Constable. Scott McFarland variiert hier seine Fotografien mit unterschiedlichen Himmeln, macht so jedes Bild zum Einzelbild. Ein Vorgehen, dass er bei Constables Auftragsmalereien kennengelernt hat. Auffallend besonders da, wo er die Landschaft auf ein Minimum beschränkt, sie von unten her fast ganz wegschneidet und darüber einen dominanten Himmelsreigen inszeniert. Ein Wechselspiel des Himmels, das nicht mehr auf der Notwendigkeit der Fotomaterialien beruht, wie das bei Gustave Le Gray im 19. Jahrhundert noch der Fall war, sondern ein Spiel von Monotypien darstellt, das Wechselspiel von Vordergrund und Hintergrund, das die einzelnen Werke der Auflage fast wie Originale erscheinen lässt. Die Bilder werden dadurch beinah zu abstrakten Vorlagen für ein aufziehendes Himmelspektakel, das auffallend lebendig, dramatisch, theatralisch ist. Am Komplexesten wohl im Bild «Women Drying Laundry on the Gorse, Vale of Health, Hampstead Heath» (2007), in dem sich das Spiel der Wolken am Boden zu wiederholen scheint, weil Frauen über grünen Büschen ihre Wäsche zum Trocknen ausgelegt haben und so ein Spiegelbild der Himmelsformen erzeugen.

Dem Panorama «Main Street Optics, Main Street, Southampton, New York» (2013), zentrales Werk der «Hamptons»-Serie, scheint ein komplexes, chiastisches Spiel zu unterliegen: «Main Street Optics» kann frei interpretiert werden als die Perspektive des Volkes, im Gerangel zwischen Wall Street und Main Street, zwischen zeitgenössischem Geldadel und Volksstimme. Nur, diese Main Street hier liegt in Southhampton, ist also die Main Street der Wall Streeter, die hier ihr Wochenende verbringen. Im Zentrum des Bildes flattert sanft und beruhigend die Fahne Amerikas, eskortiert von vielen parkierten SUVs. Viele Personen im Bild sind in Bewegung und erzeugen die Vorstellung eines orchestrierten Balletts, eines Auftritts, bummelnd, telefonierend, einkaufend, ohne finanziellen Kummer. Da das Bild bei grellem Sonnenschein aufgenommen wurde, sind die Schatten für einmal tiefer und geben zu erkennen, dass einige Figuren früher und andere später Eingang ins Bild gefunden haben. 

Die «Repatriation Ceremonies» am «Corner of the Courageous» in Toronto werden für gefallene Soldaten, gefallene Seargants, gefallene Colonels oder private Personen, die im Auftrag des Volkes gefallen sind, durchgeführt. Der Staat holt die Gefallenen zurück in die Heimat, gliedert sie während der Zeremonie wieder in den Staatskörper ein, bevor sie anschliessend als private Menschen den Angehörigen übergeben werden. Je nach Grad im Militär, je nach Bedeutung verdichtet sich das Spalier der Ehrerweisung, der Salutierenden, und im gleichen Mass der Aufmarsch von Foto- und Filmteams, die den Anlass und sich selbst gegenseitig dokumentieren. Für die einen endet hier ein reales Leben und es bleiben die privaten Erinnerungen, für die anderen beginnt ein Nachleben als Bild, als Figur in der Geschichtsschreibung Kanadas. Der Tod des Körpers ist auch die Auferstehung des Bildes, des imaginierten und des fotografierten Bildes. Die Kraft des Zeremoniellen manifestiert sich auch in den Niagara-Bildern, in «A Horse Drawn Hearse, Queen’s Royal Tours, Niagara» (20XX), einem Totenzug mit schwarzer Kutsche, und ebenfalls in einigen New Orleans-Bildern. 

Der Streifzug durch die verschiedenen Bildserien, entlang der Leit-Bilder, verdeutlicht, dass wir dem Werk eines Konstrukteurs folgen, eines Bilderbauers und Bildernarrateurs, der seine Werke zu komplexen Gebilden zusammenstellt, verschiedene Bildelemente miteinander verschmilzt und in ein Ganzes eingiesst. Scott McFarland macht vom gleichen Standpunkt aus viele, manchmal Hunderte von Bildern, zeitlich nahe beieinander liegend oder weit gestretcht, Wochen auseinander gezogen. Menschen, die auftauchen und wieder verschwinden, Pflanzen, die spriessen, strahlen, blühen, und Bäume, die ihre Blätter verlieren, Gegenstände, die in die Szene geschoben und wieder entfernt werden. So treffen Menschen aufeinander, die sich nie begegnet sind, sich nie auf einer Strasse fast berührt haben, wie es schliesslich im Bild erscheint. Im gleichen Bild sengt einmal die Sonne nieder und ein anderes Mal ziehen dunkle Wolken auf. 

Wie ein Zauberer, wie ein Demiurg verbindet der Künstler unterschiedliche Augenblicke auf der Zeitachse miteinander, lässt etwas nach vorne gleiten, etwas nach hinten, spart jemanden aus, holt eine Frau, ein Paar, eine Gruppe von Menschen rein und fügt sie perfekt an die schon bestehenden Gruppen heran, in die vorgesehene Konstellation ein. Auf der einen Seite verdichtet er so die Zeit am gleichen Ort, auf der anderen dehnt er den Raum in die Zeit aus, gibt ihm eine weit grössere Dimension. Als analoge Vorstellungshilfe können wir uns hauchdünne transparente Filme vorstellen, die alle übereinander gelegt werden, bis ein dicker Stapel, bis fast eine Art transparente Filmbox, eine filmische Plexiglas-Box entsteht. Wir können durch den durchscheinenden Block Handlungen und Anwesenheiten auf unterschiedlichen Zeitachsen am gleichen Ort feststellen. Im Photoshop hingegen werden die digitalen Daten auf die gleiche Ebene geholt, da miteinander abgeglichen, verschoben, akzentuiert, in neue Konstellationen gebracht, so lange bis die Bildsituation entsteht, die Scott McFarland vorschwebt, oder die ihn während und durch das Machen überzeugt. 

Schliesslich werden die Bildfragmente «eingemeindet», das heisst so bearbeitet, dass sie zum Ganzen passen. Deshalb wirken die Bilder oft eher flächig. Bildelemente werden mit Licht in ihrer Tiefenwirkung reduziert und mit der Trägerfläche in Einklang gebracht, weil zu starke Schattenwirkungen vermieden werden sollen. Schwarz scheint fast immer zu fehlen, Schatten wirken oft nur Grau, als sei das Bild eine transparente Scheibe, die von hinten miterleuchtet ist. Das finale Resultat wirkt wie die transparente vierte Wand von Diderot, die Michael Fried in seinem Buch «Why Photography Matters as Art as Never Before» als Ausgangspunkt für seine Thesen zur Theatralik in der Kunst und Fotografie nimmt, die Wand, die das Geschehen auf der Bühne abschliesst, auf das sich alles, was dahinter geschieht, projiziert. Eine Konstellation des Lebens, die sich auf dem Film niedergeschlagen hat. Nicht mit voller Kraft, mit Wucht, mit Aggression gar, sondern bei Scott McFarland mit delikaten, feinen, in der Regel nicht stark gesättigten Farben, und mit ruhigen, meist aufgeregten Handlungen. Zudem laufen die Bilder an den Seitenränder oft aus, die Szenen sind also nicht eingemittet, sondern werden als Auszüge aus der Landschaft, Stadtlandschaft erkennbar gemacht. 

Was wir konkret sehen, also die Motivik, die Szenerie, ist bei weitem nicht immer alles, was das Bild uns sagen will. Immer wieder schwingen, versteckter oder sichtbarer, Themen der Fotografie selbst mit. Im Bildthema der Himmel zum Beispiel wird, wie erwähnt, die Geschichte der Fotografie mitrepräsentiert, als Gustave Le Gray den Himmel in Landschaftsbilder einmontiert hat, weil die schwache Empfindlichkeit des Materials im 19. Jahrhundert nicht gleichzeitig die Abbildung von Erde und Himmel zuliess. Das Ende der analogen Fotografie wird durch die Bilder verschwindender Fotolabore repräsentiert. Ihr schrittweises Ableben entbehrt nicht einem hohen Mass an Absurdität, wird es doch durch Google Street View, also den Mitverursacher der Krise, dokumentiert. Change of Technologies, Change of Business. James Welling erkennt im Gespräch mit Scott McFarland in der kreisrunden Marmorschale eine in Marmor geschlagene optische Linse, die als junge neue Skulptur einst das Umgebungslicht aufregend gespiegelt hat. Das Thema der Fotografie in «Main Street Optics» und «Repatriations» ist bereits angesprochen worden. Schliesslich bleibt der verbleichende Quilt, die sich langsam verschleissende Patchwork-Decke in der Serie «Cabin», die sich wie eine verbleichende Fotografie allmählich in ihre Bestandteile auflöst.

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Auf welchem Berg, an welchem Meer, in welcher Peripherie steht nun Scott McFarland schliesslich? Wohin schaut er? Wohin schauen wir mit ihm? Und wo stehen wir beim Schauen? Der Grundton seiner Arbeiten ist nicht leicht fixierbar, weil sie transparent, transitorisch, weil sie fluid sind. Er fotografiert in Vancouver, Los Angeles, Berlin, London, New Orleans, er scheint also wie ein Reisender im 21. Jahrhundert– zuletzt auch mit Google Street View – unterwegs zu sein, scheint sich auf Situationen einzulassen, die ihn anspringen, ihn etwas angehen. Sehr oft schauen wir auf Übergangssituationen, von Winter zu Frühling, von fruchtbar zu unfruchtbar, wir erleben gegensätzliche Welten parallel in den Bildern, wir schweben ein wenig in seinen Welten. Wie die Wolken an uns vorbeiziehen, ergeben sich Konstellationen, festigen sich, ballen sich und lösen sich dann wieder auf. Es entsteht, trotz Natur, trotz Pflanzen, trotz trockener roter Erde der Eindruck, als flattern wir wie ein feines Gewebe in der Luft, luftig, leicht, kaum geerdet. Und fürchten wir uns als Subjekte vor der Selbstauflösung, so versichern wir uns unserer Existenz in zeremoniellen Ereignissen. Der Mann am Fusse der Leiter, die ins Nichts, ins Leere zeigt, die auf seltsame Weise schwebt und abbricht – im Zentrum der beiden, einerseits schwarzweissen andererseits farbigen Panoramen aus New Orleans: «Man on Ladder, Royal Street, New Orleans» (2012) – ist wohl sinnbildlich zu lesen. Bei aller Lieblichkeit, bei aller Feinheit in den Bildern von Scott McFarland entsteht das Gefühl, als könnten wir jederzeit durch einen morschen Boden in ein Loch, ins Weltall, in eine andere Zeit, einen anderen Gemütszustand fallen. Trotz aller Natur, aller auch vom Menschen geschaffenen Realität gleiten Scott McFarlands Fotografien ins Fiktive, ins Fluide. 

Fotografie ist einerseits Dokumentation und andererseits autonomes Bild. Scott McFarland streift wie ein Geigenspieler mit dem Bogen über den zwischen diesen Polen gespannten Draht, mit einer nach oben ins Luftige, Helle, Unvorhersehbare, Fiktive offenen Skala. Wir schauen, aber wir wissen nicht mehr genau, was wir sehen und wo wir stehen. Die Szenerie im Panorama auf der Main Street in Southhampton: Ja, sie hat etwas Reales, aber was für eine Realität? Kann das wirklich real sein? Ein aufmerksamer, heiterer, leicht melancholischer Fatalismus weht uns durch die Bilder ins Gesicht. Augen zukneifen, blinzeln, gleich ist es anders. Denn immerfort verschieben sich Erde und Himmel zueinander, real im Bild und als Metaphern. Die totale Verfügbarkeit hat sich verflogen, Orientierung ist schwieriger, die Welt ist ein (Bild-) Labor geworden.

Verwendete Literatur:

Lewis Baltz: Regeln ohne Ausnahme. Winterthur, Göttingen 1993
Michael Fried: Why Photography Matters as Art as Never Before. London & New Haven 2008
Estelle Jussim/Elizabeth Lindquist-Cock: Landscape as Photograph. Yale, 1985
Francesco Petrarca: Die Besteigung des Mont Ventoux, in: Walter Ubanek  (Hsg.): Die Fähre, Lesebuch für höhere Lehranstalten. Bamberg 1958
Gespräch zwischen Urs Stahel und Scott McFarland, 5.2. 2014 (Skype)
Gespräch zwischen James Welling und Scott McFarland, 1.10.2013 (in diesem Buch)
Paul Virilio: Fahren, fahren, fahren. Berlin 1978
Beat Wyss: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik. München 1985/Köln 1997

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