Februar 2017  /  Lewis Baltz (Mapfre/Steidl)

LB (Lewis Baltz)

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Am 22. November 2014 ist Lewis Baltz gestorben. Damit teilt sich, pathetisch gesagt, für immer Natur und Kultur, Mensch und Bedeutung. Das Monument „Baltz“ – ja, er ist ein Monument der zeitgenössischen, vorgegenwärtigen, zu weiten Teilen konzeptualisierten Fotografie – bleibt. Vermissen werden wir diesen besonderen Menschen. Ich traf ihn über die Jahre, wenn ich in Paris war, oft im Café Beaubourg beim Centre Pompidou. In der Nähe seiner kleinen Wohnung im Marais, in der er mit seiner Frau Slavica Petrovic lebte. Da sassen wir uns gegenüber, bestellten Kaffee oder etwas zu essen, und sprachen miteinander. Präziser: Lewis Baltz sprach mit mir. Die Hälfte meiner Aufmerksamkeit galt seiner Stimme, diesem ungewöhnlichen Soundmix aus tiefem Bass mit wenig Volumen. Vielleicht waren es die 60 Zigaretten pro Tag, die er allzulange rauchte, die sein Stimmvolumen über die Jahre hat ausdünnen lassen. Die dunkel-flache Stimme trug im Geräuschpegel des Cafés kaum einen halben Meter weit. Entsprechend sass ich vornübergebeugt, oft die Hand am Ohr. Die andere Hälfte der Aufmerksamkeit galt dem Fluss seiner Gedanken. Ideen, Kommentare, die, kaum war der Kaffee serviert, sich kontinuierlich entwickelten. Gossip und Freundschaftliches für fünf, zehn Minuten, dann zwei Stunden lang ein Räsonieren, oft zum Thema „Machtverhältnisse“, in der Gesellschaft von gestern und heute. Im Duktus eines um Systemtheorien, Strukturalismus und Poststrukturalismus erweiterten smarten Marxismus, fest und lakonisch, manchmal mit einem Schuss Sarkasmus vorgetragen. Zum Schluss hielt ich jeweils beide Hände an die Ohren. Nicht um sie zu verschliessen, sondern um alles möglichst genau zu verstehen. Akustisch und inhaltlich.

Ich erinnere mich an Lewis Baltz fast ausschliesslich in dieser Sitzanord­nung. Sich gegenseitig zugewandt, frontal, beide leicht vorgebeugt. Gesicht zu Gesicht, Verstand zu Verstand. Den Rotwein, das Vergnügen, gab es erst ab 18 Uhr. Strikt. Ernst und konzentriert, kaum ein Lächeln. Fast wie seine Fotografie. Und dann spulen die Bilder Punkt für Punkt ab, wie ein Film, wie ein Statement. Ein paar Dinge müssen gesagt, gezeigt, müssen festgehalten werden. Frivolitäten erlaubte er sich nur mit Ephemera, auf Einladungskarten oder auf den Innenklappen eines Buchumschlages. Darauf nahm schon Mal ein strahlender, elegant gekleideter kalifornischer „Mastroianni“ das heutige Selfie vorweg, wohl im Wissen darum, dass der Markt schrittweise personalisiert wird, dass die Kunst sich gut anzuziehen und zukünftig ein Brand zu sein hatte. Im ironischen Spiel mit dem eigenen Narzissmus, im Eingeständnis vielleicht auch, dass er mit seinem strengen Werk einer damals, Anfang neunziger Jahre, am Horizont aufziehenden Welt der Events nie glamourös wirken kann. Präzis, lakonisch, sarkastisch im Werk, im Gespräch, frivol-ironisch im späten Selbstbild nach draussen? Können wir von einem Baltz 1 und 2 sprechen? 

 

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Eine klare Zweiteilung existiert jedenfalls in seinem Werk, mit markanter Zäsur: LB1 + LB2. Der erste Baltz umfasst seine berühmten Werkgruppen, die grosse Sammlung an kleinen Schwarzweissfoto­gra­fien (Papiergrösse üblicherweise 8x10 inch), anfänglich als Einzelbild fotografiert, bald jedoch zwingend als Serien, Gruppen, als Sequenzen angelegt. Ende der 1960er Jahre begonnen und bist 1989 ausgeführt. Matthew Witkovsky beschreibt in seinem Aufsatz zu den Prototypes, den ersten, noch als Einzelbildern realisierten Fotografien, präzise das Instrumentarium und die Methodologie, mit denen Baltz sein fotografisches Werk beginnt und in wesentlichen Teilen, in diesem ersten grossen Werkteil immer, eingesetzt hat. Witkovsky betont, dass die Prototypes (The Prototype Works, 1967-72), alles andere sind als ein simples, neutrale Festhalten einer eng beschnittenen Sicht der Welt, vielmehr wirkten sie fast seltsam, unnatürlich in ihrer Flächigkeit: „Baltz chose his distance and his positioning to minimize optical distortions, thereby heightening congruity between the depicted surfaces and that of the print. (…) The negatives (high-contrast 35-millimeter frames) were first developed as if they were pieces of microfilm, that is, surfaces for the recording of flat and tonally primitive text. After killing the contrast in his negatives, Baltz laboriously tested local alterations in enlargement, over- or under-exposing portions of the image surface in roughly five to twenty-five separate steps to reintroduce contrast in a selective manner. The replacement of shadows, an indication of external light sources, with the suggestion of an inner luminosity, was one goal; saturation of tones was another. Both aimes (and that of a taut planarity as well) tend to reduct information while increasing visual attractiveness.”[1]

Auf den ersten Blick mag es merkwürdig erscheinen, eine retrospektive Betrachtung mit einer technischen Beschreibung von Fotografien zu beginnen. Aber es gibt kaum einen Fotografen, dessen Werk von einer so signifikanten Erscheinung geprägt, so bedeutsam geformt ist. Wer einmal vor den Fotografien, den meist in strengen Blöcken angeordneten kleinformatigen Bildern von Lewis Baltz gestanden hat, vergisst das leichte Frösteln nicht mehr, das ihn beim Betrachten erfasst und nicht mehr verlassen hat. Ein Frösteln, das zu gleichen Teilen dem Abgebildeten, Wiedergegebenen wie auch seiner Erscheinung in kleinen, kühlen, fast folienartig transparent anmutenden Fotografien geschuldet ist.[2] Fotografien, die das Dramatische der Perspektive zurücknehmen, aber in der Fläche der Prints Spuren der Realität stempelartig prägnant und messerscharf wiedergeben. Mit Kontrasten, die wie mit dem Daumen eingerieben erscheinen. Man schaut hin und hat sofort das Gefühl, die Wirklichkeit sitze einem im Nacken. Man guckt und weiss, dass die unendliche Feinkörnigkeit, die Baltz dank dem Einsatz von aussergewöhnlich lichtschwachen Filmmaterial erreicht (er spricht von 6 ASA Empfindlichkeit des Mikrofilms und vom Einsatz eines Stativs bei Sonnenschein), der Unterfütterung unserer Wahrnehmung, der Nahrung unserer Empfindung dient, damit unsere kognitive Aufmerksamkeit keine Sekunde nachlässt, damit wir Betrachter willens sind, alles, was er uns zeigt, das Banale, Alltägliche, schmerzlich Normale wie das Abgründige, genau zu betrachten, zu studieren, durchzustehen und über die Reihung, Sequentierung, über die „Sprache“ der Bilderreihe, Bildgruppe schrittweise zu verstehen, worum es hier geht. 

Im Deutschen existiert die Redewendung „Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben“. Sie beschreibt, in hergebrachter Sprache, das Prinzip, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, den Teufel mit dem Teufel selbst zu vertreiben, und kann, in umgepolter Form, als Prinzip verstanden werden, Bestehendes durch hohe Affirmation zu destabilisieren. Ein Prinzip, das im Werk von Lewis Baltz zu erkennen ist. In seiner Fotografie scheint eine Art von ultimativer Moderne der Fotografie verkörpert zu sein. Der Fotograf steht aufrecht, fotografiert im Wesentlichen geradeaus, er versucht also keine Winkelzüge, keine künstlichen Verrenkungen zu machen, sondern schaut die Welt frontal an, seine Prints sind superscharf, bis ins letzte Detail präzise zeichnend, seine Aufmerksamkeit der Welt gegenüber ist gross. Und er verwendet ausschliesslich fotografische Mittel, um sein Werk herzustellen. Das alles entspricht im Wesentlichen dem pragmatischen Teil der Vorstellung moderner Fotografie, wie sie in den 1920er und 1930er Jahren von verschiedenen Fotografen selbst formuliert worden ist.[3] Nur, Lewis Baltz treibt den „Modernismus“ seiner Fotografie so stark auf die Spitze, als wolle er die Moderne mit der Moderne wegfegen, als wolle er in der Perfektionierung, in der Zuspitzung ihren Niedergang formulieren. Und vom Bild in die Realität, von der Kunst in die Gesellschaft wechselnd: Als wolle er uns ein am Horizont auftauchendes Disaster trocken, aber deutlich und mit den akzeptiertesten Mitteln vor Augen führen.

Aus privaten Äusserungen von Lewis Baltz ebenso wie aus veröffentlich­ten Statements wird deutlich, wie sehr er auf der einen Seite das Medium der Fotografie schätzte, ja hochachtete als ein extrem geeignetes Medium, um Dinge zu zeigen, die der Fall sind, die da draussen geschehen, die strukturell bedeutsam und es deshalb wert sind, fotografiert, gezeigt und diskutiert zu werden, und wie sehr er auf der anderen Seite die selbstbezügliche Welt der Fotografie verabscheute, die sich in einen Kokon einhüllte, um darin ein eigenes System an medialen Gesetzlichkeiten zu formulieren (das sich weder am Stand der Kunst, der Philosophie, Soziologie, Ethnologie und anderer Wissenschaften mass) und sich selbst zu feiern. Scharf­züngig hielt er fest: „Thus photography inherited some of that portion of the American art audience too intellectually torpid to understand, much less take interest in, the kinds of issues raised by the best American art of the 1960s.“[4] 

Sein eigener Weg führte ihn durch die Fotografie (er begann sehr früh, schon als elf-zwölfjähriges Kind zu fotografieren)[5], durch die Welt seines fotografischen Mentors (und, nach dem frühen Tod seines Vaters, Ersatzvaters) William Current und entlang der Wertschätzung der künstlerischen Mission von Edward Weston - in Richtung eines Künstlers, der sich für die zeitgenössische Kunst als Denkfeld und für Medium Fotografie als Instrument interessierte.[6] Seine Zuspitzung modernistischer Form der Fotografie erscheint in dieser Hinsicht in einem zweiten Licht. Lewis Baltz setzte sich von der Fotografie, wie er sich seit der Jugend kannte, ab, er entschlackte sie von allen Stilisierungen, von Theatralität, Schwülstigkeit, von existenzieller Schwere, mit der Fotografie gerne zelebriert worden ist, und verwandelte sein fotografisches Handeln in ein kühles Forschungs- und Erkenntnisinstru­ment, das mit der Spurensuche, der strukturellen Analyse, die die Kunst und Philosophie der 1960er und 1970er Jahre begleitet hat, vertraut war und ihr formal und inhaltlich weit näher stand als jeglicher Weiterführung der Geschichte der Fotografie. Baltz agierte formal wie ein professioneller Straight-Photographer[7] (er schätzte das Kühle, Unpersönliche, Autorlose von Corporate Photography), inhaltlich, haltungsmässig jedoch war er als konzeptuell denkender Künstler unterwegs. 

Wir finden also im ersten Teil des Werks von Lewis Baltz, in LB1, bereits wieder eine Doppelung, eine zwitterhafte Mischung aus Fotograf und Künstler, aus fotografierendem und konzeptuell denkendem und agierendem Künstler, der, wie wir anschliessend genauer sehen werden, das Heroische durch das Alltägliche, das Emotionale durch das Rationale, das Aussergewöhnliche, Ereignishafte durch das Strukturelle ersetzte. Eine Zwitterrolle, die der Rezeption seiner Arbeit höchst unverdient immer wieder Abbruch getan hat. Obwohl er seit 1971 beim damals wichtigsten Galeristen in New York, bei Leo Castellis „Castelli Graphics“ und damit im Kontext der angesagten Kunstbewegungen, rund sechzehn Jahre lang jede seiner zentralen Werkgruppen ausstellen konnte, wurde sein Werk – eine Art Ironie des Schicksals – lange Zeit mehrheitlich von der Fotografieseite her rezipiert.

 

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Im Gespräch mit Jeff Rian gibt Lewis Baltz selbst eine Erklärung zum Weg, den er gegangen ist: „Still, from reading camera magazines I learned about Robert Frank’s The Americans and about Edward Weston — who I wanted to be. I thought Weston was doing the best thing you could do with photography. But photography wasn’t so much an art.“[8] Ende der Fünfzigerjahre ging die Fotografie in verschiedene Richtung, wie er anfügt – „Add to that, Robert Frank’s The Americans, which changed the emotional key of photography from European pathos to American irony.“ –, aber seine Formierung, sein Denken fand in der Kunst statt. Und da standen die Zei­chen der Zeit auf markanten Umbrüchen, auf der grossen Absage an die Moderne, an autoritäre Kunst- und Gesellschaftsmodelle. Die Verheerun­gen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – durch die beiden grossen Kriege mit rund 80 Millionen Toten –, die Entwicklung der Wissenschaften, der Technologien und die ersten Wellen des Konsumismus haben auch in den Köpfen radikalen Niederschlag gefunden. Öffnen wir dafür die Perspektive ein wenig:

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Bild sehr ernst genommen und absolut verstanden. Es kam meist mit grosser Wucht daher, war eine Demonstration. Fast so als sei es der wahre Prospekt der Welt, als sei es Gesetzestafel, Exerzierfeld oder als sei es ein Plan, eine visuelle Schablone, mit der man die mentale Welt zu dirigieren vermöge. Manchmal in einer Weise, als entspräche der weissen Leinwand die hohe, reine, absolute Zeit, der schwarzen die leere, die aufgehobene Zeit, das Nichts, der roten Leinwand die aktive, blutige Zeit, die Handlung. Es waren zwar (oft) abstrakte Leinwände, die jedoch höchst bedeutungsgeladen gemeint waren. Inbrünstig ernst, innig-poetisch ernst bisweilen, gedanklich ernst und erhaben ernst auch. 

Ich unterstreiche dieses Argument mit Glaubenssätzen von Künstlern, wie zum Beispiel die Prägungen von Filippo Tommaso Marinetti – "Der Futurismus beruht auf einer vollständigen Erneuerung der menschlichen Sensibilität" –, oder von Kasimir Malewitsch – "Im weiten Raum kosmischer Feiern errichte ich die weisse Welt der suprematistischen Gegenstands­losigkeit als Manifestation des befreiten Nichts" –, oder von Max Bill – "Die konkrete Kunst (...) soll der Ausdruck des menschlichen Geistes sein, für den menschlichen Geist bestimmt, und sie sei von jener Schärfe und Eindeutigkeit, von jener Vollkommenheit, wie dies von Werken des menschlichen Geistes erwartet werden kann." –, oder von Richard Paul Lohse – "Serielle und modulare Gestaltungsmethoden sind durch ihren dialektischen Charakter Parallelen zum Ausdruck und zur Aktivität in einer neuen Gesellschaft" – oder auch noch vom lakonisch-absoluten, erhabenen Barnett Newman: "The Sublime is now".[9] So wie diese Manifeste sich lesen, so präsentierten sich auch die Bilder, und so wurden sie „vernommen“. Beinahe ein gnostisches Schwadronieren in einer zunehmend agnostischen Zeit. 

Ein Bilder-Ernst, der ketzerische Vermutungen hervorrufen vermag: Wurde das Bild nicht nur als es selbst so ernst genommen, auch nicht nur als Metapher, sondern in einer Funktion als Refugium und als Surrogat der Welt? Wurde das Bild als Realitäts-Stellvertreter genommen, begriffen, und vorgetragen mit dem vollen Ernst von „Wirklichkeit“, der ganzen Kraft utopischer Projektion und im Rhythmus der gesellschaftlichen Zeit? Das Bild als eine säkularisierte Gesetzestafel, als Ikone in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die Fotografie als Selbstvergewisserung in einer sich beschleunigenden Zeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts? 

Der Hinweis auf diese absoluten Setzungen, dieses Aufeinanderfolgen von Avantgarden, von Manifesten ist deshalb wichtig, weil sie in Zeiten grosser Krisen stattfanden und weil sie in den sechziger und siebziger Jahren ein jähes Ende gefunden haben. Diesen Ernst, diesen Kanon, dieses gestanzte Verständnis wollte man in den sechziger Jah­­ren brechen, denn es stimmte nicht mehr mit der eigenen Welter­fahrung überein, war in der Gefühls-Mischung aus Nachkriegs-Erschütterung und durchstartender Hochkonjunktur, in der sich vor allem in den USA rasend schnellen Kommerzialisierung der Welt, obsolet geworden. Der unfassbare Schrecken des Zweiten Weltkrieges war zu gross, der Glaube an den Staat, an die Institutionen, die Kirche, die verschiedenen moralischen und juristischen Autoritäten hatte eine tiefe Erschütterung, das Freud’sche Über-Ich, wenn man so will, eine tiefe Verstörung erfahren.

Für die Entwicklung der Kunst zeigte das bekanntlich markante Folgen: Für viele Künstler sind die sechziger Jahre zutiefst ein Jahrzehnt der Abkehr: von den abstrakten, reinen, nach Objektivität strebenden Gestaltungsweisen und ihrem ge­dank­lichen Überbau, vom Werk als geschlossener, absoluter Entität; von der Vorgabe des kunstwürdigen Materials und vom Stildenken. Absage auch an die grosse Form, an die grosse Erzählung, an die übergreifenden Wahrheiten. An ihre Stelle traten das Einsehen, Nachdenken, Erforschen, Fragenstellen, Suchen, Erproben - das Reflektieren der Bedingungen des eigenen Tuns, die Beschränkung der Aussage und die Erforschung der eigenen, eingesetzten Mittel, Methoden und Materialien. Auf der Fotoebene manifestierte sich der Zweifel in der Form einer Absage an das Einzelbild, einer Ausrichtung hin zu Reihen, Serien, Se­quenzen von Fotografien; in der Malerei als Sprengung des Gevierts, der Begrenzung des Bildes, als Auslaufen des Bildes in die Wand, in den Raum und ins Leben hinein, eine schrittweise „Entmaterialisierung“ der Kunst. Die französische Gruppe „Support/Surface“ zum Beispiel (um hier auch eine europäische Referenz einzufügen) diskutierte Chassis und Leinwand als Träger des Bildes und löste diese Konstruktion auf. In diesen Handlungsweisen ging es um eine Art bildnerische Deeskalation, um ein Ent­schlacken von Bedeutung, von Gefühlsschwere, um ein Entmystifizieren. Von nun an reichten Material (Stein, Metall, Holz), Träger (Chassis, Leinwand oder Fotopapier) und eine Oberfläche (Grundierung, Farbauftrag oder Fotoemulsion) sowie ein paar Gedanken, Ideen, Forschungsanord­nungen und einfache Setzungen. Oder die Handlung, der Prozess wurde zum Zentrum der Betrachtung und ersetzte das Resultat, das Bild, die Skulptur. Die Handlung löste das Kunstwerk als statisches Objekt in Performances, Happenings, Land Art, Conceptual Art, Spurensuche, Body Art auf. Aus einer Immobilie, die auf den Keilrahmen aufgezogen und an der Wand in einem Haus befestigt oder in Bronze gegossen und auf einen Sockel gestellt wurde, wurde eine Mobilie, eine Bewegung, ein Fliessen, ein Ablauf, ein Frage, eine Idee.

In Bezug auf die Fotografie können wir mit Douglas Fogle den Graben, der sich in den sechziger Jahren auftat, so benennen: Der „entscheidende Augenblick“ war bis weit in die siebziger Jahre hinein eine Leitformel für diejenige Fraktion in der Fotowelt, die eine modernistische Sicht der ästhetischen Autonomie des Mediums vertrat, die die Fotografie also ausschliesslich innerhalb ihres geschlossenen Rechtecks als Gestaltungs- und Wahrheitsreich betrachtete und diskutierte. Eine Sicht, die letztlich vom Tafelbild der Fotografie ausging: „Diese Kluft zwischen der modernistisch ästhetischen Übersetzung einer authentischen Unmittelbarkeit durch das Festhalten einer fotografischen Essenz, mit ihren eigenen Grenzen und Möglichkeiten, und der konzeptuellen Konstruktion eines inszenierten Ereignisses, die Fotografie als ein Mittel zum Zweck verfolgt, formuliert in aller Deutlichkeit die Distanz zwischen den beiden Welten, der Welt der Kunstfotografie, und der Welt der Kunst, die in den sechziger Jahren […] sich zunehmend dem Medium Fotografie bedient.“[10]  

Die Bildrevolution, die sich in der Kunst- und um einiges verzögert in der Fotowelt auszubreiten begann, lässt sich zudem am Verhältnis der amerikanischen Fotografie zur amerikanischen Landschaft veranschaulichen. Die Projektion einer heiligen Natur, der natura naturans, einer unberührten, heiligen, grossgeschriebenen Natur zog sich seit dem 19. Jahrhundert, von Carlton Watkins bis zu Anselm Adams, durch die amerikanische Fotografie und begann sich in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts allmählich zu ändern. Der neu erwachende kritische Blick entdeckt, dass die pantheistische Vorstellung von Natur mit einer sich verändernden Landschaft konfrontiert ist, mit der Besetzung des Landes, der Verwandlung der Natur in eine Landschaft, in ein Territorium, das in Besitz genommen wurde. Robert Adams, Lewis Baltz, Joe Deal, Frank Gohlke, Dan Graham, Ed Ruscha und andere junge Künstler stellten der entzückten, entrückten eine weit realistischere zeitgenössische Sicht entgegen. Die Sicht der konkreten, alltäglichen, banalen Umgebung. Diese neue Generation von Fotografen skandalisierte unter anderem mit der Ausstellung "New Topographics" (1975-76)[11] die Vorstellung des schönen, existenziellen Landschaftsbildes: Aus der „göttlichen“, der heiligen Landschaft[12] wurde die Landschaft als reales Faktum. Anders, banaler formuliert: die Fotografen drehten sich um 180 Grad um und schauten nicht mehr in die unberührte Natur, in die Nationaparks hinaus, sondern zurück, in Richtung der Städte, in die gebrauchte, genutzte, umgestaltete, kapitalisierte Landschaft, in die sich schnell ausbreitenden, wuchernden amerikanischen Vorstädte

Lewis Baltz, Robert Adams, Joe Deal und ihre Kollegen[13] haben das Ideal Amerikas, das bisweilen als karg, leer, immer aber als in-sich-ruhend-schön-und-erfüllt dargestellt worden ist, ganz einfach bevölkert. Aus dem heroischen Ich und die Natur wurde ein Wir und der Park und schliesslich ein banales Sie und das Vorgärtchen. Wenn es einst ein unberührtes Fleckchen Natur gegeben hat, dann stehen da nun immer schon Einfamilienhäuser oder es liegen ausgefahrene Gummireifen oder anderer Abfall herum, als Zeichen von: Da war doch schon wer. Die Landschaft ist zum Territorium geworden, begrenzend, ausgrenzend, vor allem aber besetzt. Die Landschaft ist zum Feld des Ökonomischen geworden: sie wird erobert und kommerzialisiert. Lewis Baltz vor allem wendet das neue Landschaftsbild gegen die alte Romantik, versehen mit einem neuen Bildverständnis. Matthew S. Witkovsky zitiert in seinem Text „Photography’s Objecthood“ Donald Judd mit „I have pretty strong reactions to what this country looks like. It looks pretty dull and spare, and you like this and dislike it and it’s very complicated …”[14] Baltz spielt als Akteur in dieser Entwicklung eine zentrale Rolle. Schauen wir nun näher hin.   

 

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„Simply put, this is one of the most impressive bodies of student work ever assembled.” Diese Aussage von Matthew S. Witkovsky zu den Prototypes (The Prototype Works, 1967-1972) kennt zwei unterschiedliche Seiten: Sie beschreibt und fasst zusammen, was unglaublich wirkt: Lewis Baltz hat einen grossen Teil der schliesslich als Prototypes bezeichneten Fotografien während der Zeit seiner undergraduate Studies am San Francisco Art Institute realisiert.[15] Das ist im Umfang, in der Präzision und Bestimmtheit höchst ungewöhnlich für einen Studenten. Die zweite Seite der Aussage insinuiert, wenn auch nur leise, dass es sich doch um die Arbeit eines Studenten handelt. Witkovsky führt dazu wissensreich an, wie stark sich in den Prototypes die Auseinandersetzung des jungen Lewis Baltz mit der zeitgenössischen (amerikanischen) Kunst spiegelt, wie ein Bild wie eine „found canvas“ von Robert Mangold ausschaut, wie andere Fotografien die formale, inhaltliche, strategische Auseinandersetzung mit Barnett Newman, Jackson Pollock, Donald Judd, Robert Morris, Richard Serra etc. spiegeln.[16] So stark diese Referenzen auch vorhanden sind – Joseph Kosuth stand mit seinen Werktiteln Pate für den Namen der Werkgruppe –, so erstaunlich reich, präzis, präsent wirken die Prototypes als Gesamtkorpus. Die industriellen Zeichen, die Autos und Garagen, die unspektakulären Türen und Fenster und die zahlreichen Wände (Hauswände, Mauern), die Witkovsky ausmacht und auflistet[17], die meist frontalen Aufnahmen, die Bildebene und Printebene verschmelzen, den Bildraum verengen lassen, das eigenartige, oft auch stumpfe Licht sind alles Elemente, die in der einen oder anderen Form später wieder auftauchen oder die, weiterentwickelt, sich zu eigenständigen Arbeiten ausgeformt haben. In diesem Sinne lesen sich die Prototypes wie der Humus eines jungen Künstlers, wie das Erproben von Denk- und Bildmustern und einem ersten Vokabular, aus dem er fortan schöpfen sollte.

Zwei Felder stehen sich in den Prototypes gegenüber: Auf der einen Seite fangen sie die oft gewerbliche, kleinindustrielle Architektur Kaliforniens in so frontal und zugleich mit verschlossenen, verriegelten, blinden Fenstern und Türen ein, dass sich beim Betrachten über lange Strecken der Eindruck von Verlassenheit, von Niedergang, ein Dead-end-Gefühl, ein Gefühl der Melancholie einstellt. Auf der anderen Seite wirken die Bilder von Autos, die Aufnahme des Motelzimmers, die Stadtaufsicht, Schriften und Leuchtschriften wie „Italien Food“, „Ideal“ auffallend frisch, attraktiv, als würde der staubigen Realität eine kleine Wunschwelt gegenüber­ge­stellt, als operiere hier Baltz mit der Dichotomie von Realwelt und Symbolwelt, harter Realität und Wunschwelt, als versuche er die Zeichen der kommerziellen Welt auf die stummen Mauern der gebauten Realwelt aufprallen zu lassen. „Point Realty“, eine Schrift, die zweimal an Hausmauern auftaucht, wirbt für die versteckte Kombination von realer Welt und Investmentwelt, von Konkretion und Abstraktion, von Heim und Geld. Die Orte, an denen Baltz seine Aufnahmen gemacht hat, oder die Titel, die er seinen Arbeiten gibt, erzählen von heimlicher, versteckter Sehnsucht, in einem Leben, dass er offenbar von allem Anfang an nicht als grossen Aufbruch, schon gar nicht als Feld möglicher Utopien wahrgenommen hat: Mountain View, Corona del Mar, Fashion Islands. Über allem schwebte die „Berkeley Crisis“, in jener Fotografie, die einen Zeitungshalter aus Gitterstäben mit der Ausgabe vom 4. September 1968 des San Francisco Chronicle wiedergibt, auf der mit der Verdoppelung von „Council Gets Tough“ und „Tough Action Berkeley – Threat of New Violence“ auf dem Cover vom Bruch in der Gesellschaft gesprochen wird, in diesem „Year of the Barricades“, während das Bild des „Motel Room“ eine Sehnsucht nach bürgerlicher Privatheit (in einer geordneten funktionierenden Gesellschaft) zu suggerieren scheint und gleichzeitig wie eine gebaute Fiktion, wie ein perfektes Filmset wirkt. 

Wolfgang Scheppe schreibt in seinem reichen und dichten Essay „Lewis Baltz and the Garden of False Reality“ im Band „Candlestick Point“[18]“ zu diesem ersten grossen Werk-Korpus: „In the more narrowly defined photographic epoch of Lewis Baltz’s artistic oeuvre, two groups of works stand in opposition to one another: the first dealing with order and the other with dis-order in the social organization of space. The survey of the landscape of total order and its profitable transformation into real estate and ground rent was joined by an examination of the landscape of entropy. The external non-places for the disposal of waste.” Zur ersten Gruppe gehören “Tract Houses”, “New Industrial Parks near Irvine, California”, Maryland”, “Nevada” und “Park City” – zur zweiten Gruppe “St. Quentin Point”, “Continous Fire Polar Circle”, “Near Reno” und “Candlestick Point.” Diese Arbeiten entwickelten über die Jahre hinweg einen zunehmend pessimistischen Grundton. Scheppe zitiert Baltz mit den Worten: „My work in the 1980s had an apocalyptic subtext; capitalism - the market - went from being the most important thing to being the only thing – and has remained ever since; by 1990 it seemed that the world had, in a sense, already ended, that is, it had withdrawn itself from our apprehension.”[19]

Die Tract Houses (1969-71) zeigen in 25 Fotografien, die in der Regel als Quadrat, als fünf mal fünf Fotografien gehängt werden, wie entlang einer Autobahn eine Siedlung mit Reihenhäuschen entsteht. Baltz verengt darin den Blickwinkel sehr stark, zeigt fast ausschliesslich Fassaden, noch abgedeckte und vernagelte Fenster und Türen. Meist frontal: Fassadenstück, Fenster, Türen, so eng und so scharf aufgenommen, dass die schmutzigen, Rauen, noch nicht feinverputzen Oberflächen der Häuschen sich wie ein Materialteppich vor den Augen der Betrachter ausbreiten, und, zugleich, auch an die Harde-Edge-Malereien seines Nachbars John McLaughlin erinnern. Zwei, drei Bilder öffnen den Blick, erlauben es, die Häuschen nicht nur als Zeichen, sondern als enge ineinander verschachtelte Siedlung zu sehen. 1990, fast zwanzig Jahre später, fotografierte Baltz die Siedlung erneut, nun in Farbe für den Katalog „Rule without Exception“. 

Maryland (1976) „erobert“ Lewis Baltz aus der Halbdistanz. Manchmal leicht erhöht schaut er auf das Ensemble der Häuser hinunter, hinüber, zeigt, wie sie platziert sind und zueinander stehen. Er wandert in der Einfamiliensiedlung umher, nähert sich vom unfertigen Teil, von der Baustelle her, streunt entweder bei Morgen- oder Abendlicht scheinbar alleine durchs Gelände. Das Wechselspiel zwischen besonnten Häuschen und dunkelschwarzem Rasen verfremdet diese Residential Areas, verwandelt sie in eine, manchmal leicht beunruhigende Szenerie, in der tiefe, dunkle Schatten aufzuziehen drohen. Der nur durch seinen Blick sichtbare Autor wirkt sehr präsent, er „stalked“ durch die Gegend, erkundet alleine, als Fremder, den Ort. Diese konzentrierte Serie erinnert am stärksten an ein Filmset und liest sich im Rückblick wie die Vorbereitung für Park City. So wie sich die Steinmetze, bevor sie an die Notre-Dame de Paris gelassen wurden, an einer kleinen Kapelle in der Provence beweisen mussten, so beweist hier Lewis Baltz sich selbst, dass er diese Anlage von Arbeit fortan auch im grossen Stil durchführen kann. 

The new Industrial Parks near Irvine, California (1974) , üblicherweise in drei Reihen zu 17 Fotografien oder dann in vier Reihen zu 10 einer zu 11 Bildern gehängt, verbindet das Vorgehen bei „Tract Houses“ und „Maryland“, weshalb ich hier die Abfolge leicht verschoben habe. Die grosse Serie vermischt Häuser aus Nahsicht mit Ansichten der Landschaft und der Platzierung der kubenartigen Fabriken oder Lagerhallen darin. Im Gegensatz zu den „Tract Houses“ sind die Gebäude mit kleinen Ausnahmen alle fertiggestellt, sie strahlen und glänzen in bester kalifornischer Sonne, als hätten sie sich für einen Anlass, für ein Verkaufsgespräch herausgeputzt. Das Licht unterstützt die kleinen architektonischen Versuche, die Banal-Fassaden zu strukturieren. Sonst wird der Betrachter wiederum mit meist frontal aufgenommenen Fassaden konfrontiert, von Gebäuden, die durch diesen perspektivischen Zugriff jegliche Räumlichkeit verlieren und selbst zum (geometrisch abstrakten) Bild werden. Zum stummen geometrisch-abstrakten Bild, weil diese Hallenfassaden kaum etwas preisgeben, kaum etwas von ihren Inhalten, ihrer Funktionen erzählen. „Walter Hopps remarked that you couldn’t tell if they were making panty hose or mega-death”, erwähnt Lewis Baltz im Gespräch mit Jeff Rian.[20] Wir stehen in dieser Serie vor einer ökonomisierten Moderne, einem Rendite-Minimalismus, der die Banalwürfelform der Häuser – die Grundstruktur besteht aus einem Metallgerüst, daran werden Verschalungselemente gehängt – nur wählte, weil sie billiger als alles andere zuvor zu konstruieren war. Kein Architekt ist involviert, die Bauvorschriften, falls es sie gibt, werden minimal eingehalten. In Einzelfällen fotografiert Lewis Baltz einen der anonymen Kuben übers Eck, um deutlich zu machen, dass es sich um ein dreidimensionales Objekt handelt. 

Zu Nevada (1977), einer Gruppe von 15 Bildern, für die es, meines Wissens, keine klare Hängevorschrift gibt – dreimal 5 Fotografien oder 8 und 7 oder lediglich eine Reihe von 15 Bildern erscheinen mir mögliche Präsentationsformen zu sein – hat Robert A. Sobieszek unter dem Titel „Terminal Documents. The Early Desert of Lewis Baltz“ einen nicht sehr langen, gleichwohl prägnanten Text geschrieben. Daraus will ich zwei Zitate hervorheben: „The landscape underwent rather grave changes between 1956 and 1979. Between the release of John Ford’s desert epic the Searchers and that of Andrei Tarkovsky’s post-apocalytic film Stalker, landscape was increasingly perceived with far more than a simple loss of innocence and only a bit less than a complet surrender to cynism. Of course the real landscape during these years was progressively scarred, mutilated, poisoned, sterilized, of all life forms and made, over the course of a couple of decades, to truly resemble T.S. Eliot’s “stony rubbish” fills with “broken images.” But, much more important, our very idea of the landscape (and “landscape” after all is nothing but a perception) changed utterly and without, it would seem, redemption.”[21] Er fährt mit der Feststellung fort, dass es einen “death of nature” gegeben habe, dass die “notion of natural sublimity” ersetzt wurde und dass sich die Vorstellung, es könne eine Natur neben und unabhängig von der Kultur der Menschen geben, aufgelöst hat. Nach dem wichtigen Verweis auf Robert Smithsons Theorien eines entropischen Universums – Theorien und Arbeiten, die wohl einen starken Einfluss auf Lewis Baltz gehabt haben – hält er fest: „In Nevada Baltz’s focus is no longer on the sterile architecture of an equally sterile late-century environment, but on a entropic terrain vague where what is built is merged with what is unbuilt, where „sprawl“ and „blight“ haves become the picturesque norm, where the positions of observer and inhabitant have become confounded, and where past and present are intermingled.“[22] Diesen prägnanten Formulierungen füge ich lediglich bei, dass diese Serie stark an das Prinzip des Nouveau Roman erinnert, an das Aufnehmen eines Ereignisses, einer Situation, eines Tatortes aus vielen verschiedenen Perspektiven. Baltz sagt an anderer Stelle, dass er den Nouveau Roman erst später wahrgenommen hat, aber sein Blicke hier nach innen oder nach draussen, hinunter und hinauf, seine Totalen auf eine Häusergruppe und seine Detailaufnahmen, zum Beispiel jener einer zerbrochenen Neonröhre auf ungeteertem Boden, usw., wirken dennoch, unabgestimmt und unabhängig, wie Veranschaulichungen dieses Prinzips. Ein Prinzip, das erstmal die Position des autokratischen, die Kamera, Handlung und Erzählung alleine führenden Autors in Frage stellte, und ihn derart aufzulösen begann.

Park City (1979) formt gleichsam einen Wendepunkt. Diese aufwändigste Begleitung eines riesigen Bauprojekts, einer Gartenstadt, Schlafstadt, 45 Meilen von Salt Lake City entfernt auf dem verseuchten Grund einer ehemaligen Silberminenstadt gebaut, ist die Kulmination der bisherigen Betrachtungen von Lewis Baltz. Ein grossangelegtes Immobilienprojekt, von dem sich die Erbauer satte Gewinne erhofften. Ein Projekt der Art, von der Lewis Baltz sagt, es gehe in keiner Weise mehr darum, etwas für die Menschen zu bauen, im Visier hätten die Bauherren, das Konsortium lediglich den angestrebten Gewinn. 102 Fotografien sind es zum Schluss, nach zwei, drei Jahren Arbeit, geworden. Wie immer bei Baltz dieser Zeit wurden sie einerseits in Form eines grossen, monumentalen Buchs von Leo Castelli verlegt, andererseits realisierte er sie in Form einer Wandinstal­lation mit wechselnd entweder 6 Reihen zu 17 Bildern oder 8 Reihen, davon 7 zu 13 und eine Reihe zu 11 Bildern. Erstmals rahmte er die Arbeit nicht mehr, sondern montierte die Abzüge lediglich hinter Glas oder Plexiglas. Ein umfassendes und präzises visuelles Forschungsprojekt, im Kleinstformat an die Wand gepinnt, das den Bau dieser gigantischen Mischung, bestehend aus Werbebotschaften von fiktiver Naturromantik und hartem Finanzgeschäft, umkreist, von aussen, von den Hügeln her in Supertotalen hinunter die Ebene dokumentiert, um dann Schritt für Schritt dem Lager der Neuzeit näher zu kommen, es einzukreisen, nach einem vorbereiteten, vorgegebenen Raster zu fotografieren, zuerst die Materiallager, dann zunehmend die konkreten Bauabschnitte und zum Schluss die Häuser, das Innere der allmähliche entstehenden „Homes“, das innere Versprechen dieser als luxuriöse Bauten angelegten Überbauung. Wie ein Landvermesser ging er dabei vor und notierte zu jeder Fotografie den Standort und die Blickrichtung, zum Beispiel „Park Meadows, Subdivision 2, Lot 64, looking West“. Seine Fotografien im Inneren der Bauten sind voller Ambivalenz: Wir sehen nie genau, ob hier auf- oder abgebaut, errichtet oder abgerissen wird. Hubertus von Amelunxen formuliert in seinem exzellenten Text: „It is obvious in Park City that Baltz photographed the buildings as ruins, not in any romantic sense of returning the built to nature, however, but in the sense of a “ruin in the reverse” of which Robert Smithson speaks in this text “A tour of the Monuments of Passaic. New Jersey” (1967), meaning all those buildings that could still be built and are “ruins in reverse”, “because the buildings don’t fall into ruins after they are built but rather rise into ruins before they are built.”[23] Um dann mit einem wunderbaren Paragraphen zu schliessen, der nochmals deutlich macht, wie nahe Baltz der Kunst der Zeit, der Malerei und Skulptur seiner Zeit nahestand: “Die letzten fünfundzwanzig Bilder (76-102) in Park City zitieren in meinen Augen stärker noch als die vorangegangen Fotografien nicht bestimmte Werke der Malerei oder der Skulptur, gleichwohl aber einen Gestus der Malerei oder der Skulptur, die präzisen Setzungen widerstreitender Formen eines Robert Motherwell, die geometrischen Flächengebilde von Frank Stella, die vertikalen, von lichten Farböffnungen durchbrochene Monochrome von Barnett Newman oder die rechtwinkligen Interventionen im Raum von Donald Judd. Natürlich wird keines dieser Werke vom Autor Lewis Baltz irgendwie beansprucht, nur zeigt es, wie er seine Fotografie als abstrakte Erschließung eines visuellen Feldes begreift. Und es ist gewiss kein Zufall, dass Lewis Baltz das Buch mit einem Bild enden lässt, das von links mit einem schwarzen vertikalen Strich eingeführt und dann ganz von einer hellen, fast weißen Karte bedeckt wird, auf der ein gezeichneter Ausschnitt von Park City zu sehen ist. Wie ein genadelter Elephant sieht der Kartenausschnitt aus, mit farbigen Köpfen versehene Nadeln stecken in den einzelnen Parzellen und die Farbsymbolik wird im linken unteren Drittel aufgelöst: „Blue – For Sale; Green – Under Construction; Yello – Under Contract; Red – Closed“.“[24] Die Tradition, ja der Fetisch der weiten, offenen Landschaft trifft auf ihr Gegenteil, die strenge, gewinnorientierte Ökonomie der Landentwicklung.[25]  

 

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Der zweite Abschnitt des monumentalen Teils seines Werks mit den Werkgruppen San Quentin Point (1981-83), Continous Fire Polar Circle (1986), Near Reno (1987-89) und Candlestick Point (1987-1989) fasse ich zu einem grossen Cantos zusammen: Die gezeigte Welt fällt auseinander, in sich zusammen, verliert die Ordnung, die formende Struktur, in Continous Fire Polar Circle brennen in sieben Bildern Abfallhaufen wie das Fegefeuer des Konsumption-Abendlandes; in Near Reno reisen wir den Hügel hinunter in Richtung der Stadt, die, wie Lewis Baltz sagt, der Mafia übergeben worden ist, erleben in drei, vier Bildern wie in einem Travelling, dass restlos alle Natur „man made“ ist, und begegnen, in der Ebene angekommen, fast ausschliesslich Bildern der Zerfalls oder der aktiven Zerstörung, des aggressiven Shootings von Blechbüchsen, von weggeworfenen Fernsehern, durchlöcherten Metallverschalungen, einem toten Schaf auch, und münden schliesslich in Bildern von hoher Ambivalenz, in denen jeder Schlauch, jede Kabelisolation Misstrauen, Zweifel, Ängste auslösen. 

Hubertus Amelunxen schreibt über San Quentin Point: „In the book San Quentin Point (1986) by Lewis Baltz there is a picture of large nails spattered with cement and building materials. Their points are aimed everywhere, in all directions. And they are hanging in a leafless tree or shrub. One nail, or perhaps even all of them, is projecting out at the viewer. Anti-nature. Strangely, the nails are holding no planks, no house together, they are securing and holding only themselves. Hanging among the branches, it is not clear whether this objet-trouvé is about to mutate into nature or whether nature has not already become indistinghuishable from inorganic civilizational residues, rubbish.”[26] Diese Textstelle führt perfekt in die unglaubliche Werkgruppe von 58 Fotografien ein, die Lewis Baltz wie ein wertvolles Gefäss, wie einen Schrein jeweils symmetrisch gehängt hat, das heisst, in der untersten Reihe fehlt links und rechts je ein Bild. Diese beiden Leerstellen verleihen dem Bilderblock einen Hauch von Leichtigkeit, von Erhabenheit, von Kostbarkeit auch. Ganz im Widerspruch zum Motiv der Arbeit, die eine Schutthalde, eine Schuttebene bei San Quentin Point in der San-Francisco-Bucht vor Augen führt. Anfänglich nähert sich Baltz der Gegend wie ein Wanderer, wie ein Forscher, fotografiert das Feld von aussen, nimmt ersten Abfall ins Visier und senkt dann seinen Blick, schaut mit Genauigkeit und Sorgfalt, was sich vor seinen Augen auf dem Boden abspielt, was sich in diesem, wie Wolfgang Scheppe an anderer Stelle zitiert, von Beckett „inhuman landscape“ genannten Geviert abspielt. Die Werkgruppe wirkt geladen, sie ist voller Spannung, voller Ambivalenz, zwischen einer Fotografie, die das Gesehene scharf, präzise wie eine wertvolle archäologische Stätte festhält, und der Ansammlung von Abfall, der sich in der Ebene sorglos verteilt. Sie liest sich wie visualisierte Ironie, Sarkasmus, sie wird zum Sinnbild einer in sich zusammenfallenden, implodierenden Gesellschaft. Hubertus von Amelunxen fragt sich anhand des Werks von Lewis Baltz: „Gibt es eine eindeutige Ambivalenz?“ Und fährt dann fort: „Einerseits die systematische, in Werkzyklen und innerhalb dieser Zyklen pulsierend rhythmisierte Konstruktion von vernichtender Bestandsaufnahme der zivilisatorischen Einöden, andererseits die stille Poetik der Auslassungen, die Punktierungen des Brachlandes, Lewis Baltz’ feines, schönes, behutsames und erotisches Bedeuten der Wunden, manches Mal mit der Sinnlichkeit eines S/M-Verlieses.“[27] 

San Quentin Point ist die thematisch härteste, distopischte Arbeit von Lewis Baltz, Candlestick Point, die letzte Arbeit in diesem grossen zentralen Werkteil hingegen ist die bildnerisch radikalste Arbeit. Candlestick Point (1987-1989) als „Garten einer Falschen Realität“ (Wolfgang Scheppe) installiert besteht aus 72 Fotografien, die ohne den oft üblichen breiten weissen Rand dunkelgrau gerahmt sind. Die Anordnung an der Wand schliesst die Fotografien zu einem System zusammen, obwohl Baltz mit Absicht Lücken eingebaut hat. Oft wird der Arbeit ein filmischer Charakter zugeschrieben, in meiner Wahrnehmung wirkt sie weit mehr wie ein Screen mit vielen Bildpunkten und einigen Fehlstellen: Bild, Bild, Bild, kein Bild, Bild und so weiter. Die Arbeit sucht augenscheinlich die Nähe zur elektronischen Bildgebung, obwohl sie weiterhin mit klassischen Mitteln, mit der beschriebenen Baltzschen Methodik hergestellt worden ist. Man verliert aber mit der Zeit die Sicherheit, ob hier ein Mensch, ein Autor am Werk ist, oder wir nicht auf die Monitore von zahlreichen Überwachungs­kameras schauen. Kein Bild sticht heraus (das Gesamte ist das Bild), kein besonderes Erkenntnisinteresse ist spürbar, bildnerische Eigenschaften halten sich in sehr engen Grenzen, dann und wann tauchen, wie absichtslos, erste Farbbilder auf. In der Vollendung der Darstellung einer entropischen Landschaft zieht sich Baltz als Autor zurück und überlässt gleichsam seiner Kamera die Führung. Diese Landschaft ist ihm radikal fremd geworden. Es ist sein Abschied von einem Amerika, das ihn zutiefst entsetzt und traurig macht. Es ist sein grosser Abschied von der Fotografie, wie er sie immer verstanden hat, und es ist der Rückzug von der Fotografie insgesamt: Doch keine emotionale Aufruhr, bloss der sarkastische Kommentar: "1989 was the centennial of Marcel Duchamp and the sesquicentennial of the invention of photography. Nearly every major museum did its history of photography exhibition and the effect was suffocating; it depicted a medium in extremis. Photography was circling the drain."[28]

 

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1989 war für Lewis Baltz eine Wende in mehrfacher Hinsicht. Das Jahr steht, öffentlich, für das Ende des Kalten Krieges, für den Powerstart des Neoliberalismus. Privat steht es für seine Emigration nach Paris, seinen Entscheid, die USA zu verlassen und seine Ehe aufzulösen. Das Jahr steht auch für seinen erstaunlichen Wandel im Umgang mit der Fotografie. Ich schrieb 1993 zu dieser Wende: „Die Baltz'sche Wende spaltete die Fotogeister. Die einen stehen konsterniert da und schauen - das eine Auge wässrig, das andere wutentbrannt - dem entschwindenden Autor nach, der den Zurückbleibenden lächelnd eine Handvoll Bildschnitzel wie Feuersteine zuwirft; die anderen sind im Lift, fahren Achterbahn, rasen mit ihm durch die Adern und Kanäle dieser Welten. Die Baltz'sche Wende ist ein komplexer Bewegungsablauf, Abgang rückwärts und Auffahrt mit Verneigung und halber Drehung, wie ein Helikopter beim waghalsigen Powerstart, wie eine Kamera beim wilden Travelling. Abgang aus einer inneren und einer äusseren Dreiecksgeschichte: 1. hier der Fotograf, dort die Welt, da das Foto-Zeichen - schauen und zeigen, was der Fall ist, aus einer entsentimentalisierten, quasi-wissenschaftlichen Position, mit der Genauigkeit eines Landvermessers, der Kälte eines Immobilienhändlers. Zu sehen waren da in kühlen Schwarzweissfotografien die Bauten und Ruinen von heute, die Randzonen, Abfallhaufen der Gegenwart, geometrische und organische Architektur als äusseres Zeichen für Strukturen, für Macht und Zerfall. Und 2. hier der Fotograf, da das Foto und dort schliesslich der Betrachter, der anfänglich die Bildwelt und dann immer stärker den Autor anstarrte. Beides lange Zeit fruchtbare, erfolgreiche, dann auch verhängnisvolle Dreiecksgeschichten. Entschärfung der Radikalität durch Stabilisieren und Stilisieren, entschärfen durch Verharren bei veränderter Welt. Der geliebte Autor verliess also seine Position, beschnitt lustvoll (die Reproduktionen) seiner Ikonen und beschleunigte seinen Standpunkt. Auffahrt, weil die modernen Kommunikationswege diesen Standort nicht mehr bedienten. Dieser Seh- und Denkraster wurde zur Aussenstation, fragwürdig, weil quasi-objektiv, fragwürdig, weil quasi-aussen, fragwürdig, weil statisch, obwohl der Boden unter den Füssen längst zur Rollbahn geworden ist.“[29] 

Das Zitat macht deutlich, wie überraschend, wie aufsehenerregend der Wechsel bei Lewis Baltz damals gewesen war. Der hektische, leicht frivole Tonfall sollte den grossen Bruch zu vorher untermalen. Puristen wandten sich von ihm ab, Freunde und Interessierte beobachteten mit angehobener Augenbraue, wie Baltz aus dem grossartigen, strengen Werk, aus LB1, der „Rule without Exception“, wie der Katalog der Ausstellung im Des Moines Art Center, und der „Regel ohne Ausnahme“, wie der erweiterte deutsche Katalog im Fotomuseum Winterthur betitelt war, ein Feld von neuen Arbeiten entwickelte, die er schliesslich mit „Only Exceptions“ bezeichnete[30]. Die Arbeiten seit Ende der achtziger Jahre zeigen Lewis Baltz komplet verwandelt: LB2. Er gab seine bisherige Fotografie, seine aufwendigen Projekte auf. Im rückblickenden Gespräch beschreibt er, wie beschwerlich es für ihn war, „Park City“ zu realisieren, wie einsam er durch diese schreckliche Baustelle gestapft ist.[31] Doch die Ursachen dafür liegen tiefer. Es gilt weiterhin die Baltz'sche Grundannahme: Urbanismus (und jedes heutige Leben) ist die Objektivierung von Macht. Macht ist Ideologie in sich selbst. Mit der neuen Ergänzung: Der Rest ist Spektakel. Aber natürlich gebe es interessanteres und langweiligeres Spektakel, fügte er im persönlichen Gespräch bei. Baltz begreift früh, dass ein medial neues Zeitalter angebrochen ist. Als theoretisches Echo dieser Haltung, dieses Verständnisses der neuen Medienwelt kann nebst Guy Debord die postmoderne Medientheorie des französischen Philosophen und Soziologen Jean Baudrillard dienen, der in den achtziger und neunziger Jahren als „Diagnostiker der modernen Massen- und Mediengesellschaft“ agierte. In seinem wichtigsten Theorem, dem der Simulation, beschreibt er die durch Medien induzierten gesellschaftlichen Zustände des 20. Jahrhunderts und zeichnet die Geschichte eines so beeinflussten gesellschaftlichen Wandels von der Renaissance bis heute nach. Die Gesellschaft sieht er in der „Simulationsmoderne“ vollständig von den Medien beeinflusst und abhängig: „Everywhere socialization is measured by the exposure to media messages. Whoever is underexposed to media is desocialized or virtually asocial.“[32] Die Konsequenz seiner Sichtweise auf dieses Verhältnis kulminiert schliesslich in der radikalen Feststellung, dass soziale Ereignisse nur noch durch Medien initiiert und von diesen gespiegelt werden. Das Ergebnis sei eine von Medien produzierte Hyperrealität, in der zwischen authentischen und simulierten Ereignissen nicht mehr unterschieden werden könne – ja, auf Grund der Referenzlosigkeit medialer Zeichen eine derartige Zuschreibung sogar völlig sinnlos sei. Das Kausalitätsprinzip, sagte er, sei damit aufgehoben und somit die Historie an ihr Ende gelangt.[33] 

Diese Ununterscheidbarkeit zwischen (historischem) Faktum und (medialer) Simulation mündet schliesslich in den vollständigen Verlust des Zugangs zu einer konkret erfahrbaren Wirklichkeit. In den Worten von Michael Wetzel zu Baudrillard: „Die Welt wird zum Anlass ihrer photographischen und filmischen Reproduktion, und die Bilder aus aller Welt ersetzen das Weltbild. Man könnte sagen: Das Bildsein gewinnt ontologischen Vorrang vor dem Sein. Neue Medien und Computertechnologien haben uns in diese Zone der Indifferenz von Sein und Schein, Wirklichkeit und Bild katapultiert. Die Welt der Simulakra absorbiert den Schein und liquidiert das Reale.“[34] 

Im Kern folgen wir also weiterhin dem kritischen Aufklärer Lewis Baltz, neu aber sind seine Einsichten und Methoden. Die Generic Night Cities (1989-2000) zum Beispiel – zusammen mit Piazza Sigmund Freud, Rule without Exception und anderen italienischen Bildern – sind farbige Stadtland­schaf­ten bei Nacht: Kein Tageslicht gibt eine natürliche, klare, hierarchisierte Ordnung vor, zahllose stehende und bewegte künstliche Lichter locken und weisen. Die Stadt wird als Parking Lot oder Fahrspur gezeigt, stop and go, als ein schrilles urbanes Labor. Die Bilder, unterschiedlich, teils bis zu zwei Meter gross, sind dünn, flächig und bunt wie Schalttafeln, die Städte, die dargestellt werden, wirken wie offengelegte Chips, eine Maschinerie von Lust und Macht, angetrieben vom Motor neoliberalen Wirtschaftens. Auf eigene Weise perspektiv- und zukunftslos.

Die grosse Power-Trilogie mit Ronde de Nuit, Docile Bodies und The Politics of Bacteria wirkt wie ein mächtiges Historiengemälde in drei Teilen am Ende der Geschichte. Je rund zwei bis zwei Meter fünfzig hoch und zwölf Meter lang sind sie, unterteilt in Segmente, Module. Thema ist die Überwachung, die Kontrolle, die Untersuchung. In Rondes de Nuit (1992) tauchen wir von einer Art Märchenwelt - "the forest where I lost myself"(Dante) - in die Unterwelt, die Hölle, in das Souterrain, die Schächte und Kanäle; und am Ende des Dunkels stehen wir vor dem modernen Sternenmeer, dem blenden Lichtermeer einer City, vor Manhattan als ultimativem Firmament. Extrakte von Videoüberwachungen einer Polizeistation werden mit Bildern von Kabeln, Schläuchen und einem Grossrechner gemischt. Mit Dantes Inferno als literarischem Raunen, mit dem Verweis auf Dürrenmatts Buch Der Auftrag, in dem dieser dem kartesischen Theorem einen Drive verpasst: Ich bin, weil ich beobachtet werde. 

In Docile Bodies (1995) dringen wir - entlang von Bildern aus der Neurochirurgie - durch die äussere Schicht, die Erscheinung der Dinge, ins Innere des Körpers, in seinen Mechanismus ein. Endoskopieren des Körpers mit Überwachung am Bildschirm meint, ins Innerste des Körpers hineinsehen, den Körper an die grosse Maschine andocken. Eine gänzlich neue Form von Demut, eine neue Form von Macht, die Fügsamkeit des individuellen Körpers gegenüber dem organisierten Wissen als Kraft und als Macht. Eingriff in die Unversehrbarkeit, in die Intimität des Körpers. The Politics of Bacteria (1995) ist eine Montage aus Bildern, die in und um das neue Finanzministerium in Bercy, Paris entstanden sind. Die Werkstruktur ist symmetrisch, in der Form eines Altarbildes mit Flügeln organisiert, um den Eindruck der Dominanz und der Umarmung durch die Macht zu verstärken. Zentral in der Mitte eine Überwachungssituation, links und rechts davon ein Bildgewebe mit Männern und ihren Mimiken und Gesten von Macht, breitbeiniges Stehen, Abstützen in der Hüfte, Uniformen, Helmen. Äussere Zeichen von Macht und Repression, Visualisierung von Unsichtbarem. Baltz findet hier über das Gefühl von Beengung, von Ausschliessen eine Metapher für das hierarchische Klima von Angst.

In jeder der drei Arbeiten wechseln nah und fern, Detail und Totale, brillant glänzend und gerastert so hart geschnitten ab, dass der Betrachter keine Ruhe findet, keine Idealposition im Sinne der klassischen Perspektive einnehmen kann. Es sind, meist aus dem eigenen Archiv, gesampelte Bilder, angeordnet zu grossen, rhythmisierten Bildblöcken, zu Wandstücken zusammenmontiert. Neue Panoramen, nicht jene des Glaubens an totale Übersicht, sondern Raster der totalen Überwachung, Kontrolle und Unterhaltung. Die drei monumentalgrossen Werke funktionieren nicht bloss als Bilder an den Wänden, sondern sie selbst sind die Wände, sind gepuzzlete Wandstücke. Hier vollendet sich, was Baltz in seinem Frühwerk immer wieder exerziert hat: das Zusammenfallen der Bild- und Trägerebene mit der Wandebene, das Zusammenfallen hier von Bild und Welt, Welt und Bild.[35] Und der Autor verschwindet: „The artist is yet more absent.“[36]

Paradoxe Verführung in den Generic Night Cities, Metamorphisierung in der Trilogie – The Deaths in Newport (1995) schliesslich kehrte, unverhofft, den Erzähler Baltz hervor. Bevor dieses Projekt seine Form als Ausstellung, als Buch und bald als CD-Rom gefunden hat – in mehreren unterschiedlichen, sich wandelnden Formen – stand Lewis Baltz im Fotomuseum Winterthur hinter einem weissem Rednerpult und erzählte die schauerliche Mördergeschichte aus Orange County, aus dem Südkalifornien der fünfziger Jahre, begleitet von Fotos aus den ansässigen Pressearchiven. Eine Jacht explodiert, ein Ehepaar stirbt, angeklagt sind die Tochter und der Schwiegersohn. Der Prozess hatte damals ähnliche Bedeutung wie später der Fall O. J. Simpsons. Baltz erzählt die Geschichte, illustriert mit vielen Archivbildern, trocken, lakonisch wie der Sohn des Chronisten. Ein visueller Künstler beginnt zu erzählen, eine Geschichte aus seiner Kindheit, mit seinem Vater – einem der Hauptzeugen – als persönlichem Bezug, vor dem Hintergrund seiner scheiternden dritten Ehe und der Möglichkeit, anlässlich eines Museumsneubaus wiederum eine inzwischen klassische Baltz'sche Dokumentation ausführen zu können. Doch der Vorhang des „Dokumentarischen“ wird gelüftet, der Erzähler tritt, wie einst bei den Stummfilmen, auf den Plan und führt durch das Soziodrama des Nachkriegs-Amerikas an der kalifornischen Küste. Death in Newport existiert in vier, fünf verschiedenen Versionen.

Die Arbeiten, die anschliessend teilweise kollaborativ mit Slavica Percovic entstanden, gehen nochmals einen leicht anderen Weg: Eine nackte Frauenschulter gegen das Fenster gelehnt mit Durchsicht zu einer dieser Wohnmaschinen bei Tag, pralle Frauenbrüste in schwarzem BH vor gleichem Hintergrund oder die dunkle Silhouette von in die Höhe gestreckten Stöckelschuhen (alles Auszüge aus den Desire-Videos, 1995) wirken wie optische Triggers, die zu den daneben stehenden, ebenfalls gerahmten Texten führen. Darin werden Geschichten erzählt, von denen wir in keinem Moment wissen, ob sie wahr oder erfunden, ob sie persönlich oder übernommen sind. Zeitgenössische amerikanische Geschichten, die von Abgründig-Normalem, von Geldklassen und Verhaltensweisen, Sex und Macht, Langeweile und Kitzel in abenteuerarmer Zeit erzählen. Ein wenig funktionieren diese Arbeiten wie die Zeitschriften Ende der siebziger Jahre, nur ist der Text bei Baltz/Percovic ernstgemeint und nicht bloss Alibi. Nach dem Dokumentieren der Fassaden, zum Beispiel in New Industrial Parks near Irvine, dringen wir nun in die Wohnungen, in die Erzählungen, die Dramen einer anonymen Welt ein.[37]

Es folgte in loserer Folge eine Reihe weiterer realisierter oder geplanter Projekte, zum Beispiel Giochi di Simulazione (1991) und die Videoarbeit End to End (1999), beide für das Projekt Linea di Confine in Rubiera (Emilia-Romagna) realisiert. Im ersten Projekt verwandelte er durch Ausschnittsvergrösserungen ein harmloses Übersichtsfoto eines Workshops in der Emilia-Romagna in eine Story, eine Geschichte voller Anspielungen, mit Crime-Verdacht. „Baltz proposed new forms of interpreting and „reconstructing“ the world, imposing, prescisely at the base of his representation, the undefined border, the ambigious limit between the exactitude of the representation and a sense of the inexpressible”, schrieb Paolo Costantini dazu.[38] Im zweiten Projekt erzählte er in einem Video bei fahrender Kamera die politische und wirtschaftliche Geschichte der Emilia-Romagna nach dem 2. Weltkrieg. Schliesslich realisierte er eine Mappe zu Venedig Marghera (Steidl, 2013), thematisiert darin das unerträgliche Nebeneinander von Marghera und Venedig.[39]

Was bedeutent dieses Mutieren? Baltz, mal Verführer, mal Erzähler, Moderator, Rechercheur, mal Zauberlehrling, Autor A, Autor B, Nicht-Autor, entschwand aus der Rolle als Autor im klassischen Sinne, er wurde, mit Absicht, zu einem „salamandernden Cursor heutiger visueller Kommunikation“[40]. Die Destabilisierung, die Auflösung der fotooptischen, fotostatischen Beziehung von Sehendem und Gesehenem sah er als gegeben an. Beide, Subjekt und Objekt, Bild und Welt werden dynamisiert, werden laufend zueinander verschoben, geraten in neue Kontexte, begegnen sich in anderen Konstellationen, neuen Aggregatszuständen. In einer postpoststrukturalistischen Wende schliesslich glaubt er, ganz ähnlich wie der späte Roland Barthes, nicht mehr daran, dass die wissenschaftlich-genaue Aufdröselung oder visuelle Festnahme der Welt das Wesentliche erklären kann, er sucht deshalb nach neuen Zugriffen, nach Spektakeln auch, selbst mit Einsatz von Persönlichem. 

In LB1 erleben wir ein grossartiges Werk, das in der Kulmination modernistischer Formung der fotografischen Sicht eine amerikanische Landschaft vorführt, die radikal ökonomisiert und kapitalisiert wird und beginnt, ökologisch, moralisch und psychisch, zu implodieren, Zeichen von Zerfall zu zeigen.[41] In LB2 erleben wir eine grossartige Wende, in der sich ein Künstler angesichts der gesellschaftlichen, ökonomischen und medialen Entwicklungen fast gänzlich neu erfindet. Er zaubert sich selbst aus dem Hut als eine Art von Baudrillard’scher Baltz, ohne die Schärfe, Präzision und den Sarkasmus in der Analyse der Welt zu verlieren.

 

 
[1] Matthew S. Witkovsky: Photography’s Objecthood, in: Lewis Baltz, The Prototype Works, Steidl Göttingen 2010, n.p.
[2] Matthew S. Witkovsky beschreibt genau, wie Lewis Baltz die Prints anfänglich aufgezogen hat, wie er sie verdoppelt hat, damit sie nicht im Montagekarton einsanken. Matthew S. Witkovsky: Photography’s Objecthood, in: Lewis Baltz, The Prototype Works, Steidl Göttingen 2010, n.p.
[3] Paul Strand: Fotografie, 1917, S. 59ff; Alfred Renger-Patzsch: Ziele, 1927; Edward Weston: Präsentation statt Interpretation, 1924/25, zit. nach Wolfgang Kemp/Hubertus v. Amelunxen: Theorien der Fotografie, München 1999
[4] Lewis Baltz, zit. nach Witkovsky, a. a. O., 

Anmerkung 5
[5] Siehe das Gespräch zwischen Lewis Baltz und David Campany weiter hinten im Buch. 
[6] “I had an absolutely clear idea: I wanted to work in the medium of photography; I didn’t want to be a painter or sculptor — or work in advertising, fashion, or make war pictures or documentary photography. I also wanted to live in a beautiful place and have beautiful women come to visit at all hours of the day or night.” Lewis Baltz in conversation with Jeff Rian, l’Oeil/Steidl 2014, p. 7
[7] Obwohl er sich selbst als Bastler sah, der sich die Technik autodidaktisch angeeignet hat.
[8] Lewis Baltz in conversation with Jeff Rian, a.a. O., p. 3-4
[9] Filippo Tommaso Marinetti, in: Umbro Appollonio: Der Futurismus, Manifeste und Dokumente einer künstlerischen Revolution, 1909-1918. Köln 1972, S.119ff; Kasimir Malewitsch: Die gegenstandslose Welt. Köln 1962, S. 194; Max Bill, zit. Nach Willy Rotzler: Konstruktive Konzepte. Zürich 1977, S. 130

[10] Douglas Fogle, The Last Picture Show, in: The Last Picture Show, artists using photography, 1960-82. Exhibition Catalogue, Walker Art Center, Minneapolis, UCLA Hammer, Los Angeles, 2014, p. 10
[11] Auch wenn mehrheitlich retrospektiv. Die Ausstellung selbst wurde zu ihrer Zeit wenig zur Kenntnis genommen. Siehe: Matthew S. Witkovsky: Photography’s Objecthood, in: Lewis Baltz, The Prototype Works, Steidl Göttingen 2010, n.p.
[12] Siehe Estelle Justim/Elizabeth Lindquist-Cock: Landscape as Photograph. Yale University Press 1985
[13] Die Unterschiede zwischen den einzelnen Teilnehmern waren, zumindest im Rückblick, riesig. Siehe u.a.: Britt Salvesen: New Topographics, Steidl 2009
[14] Donald Judd, 1965, zit. nach Matthew S. Witkovsky: Photography’s Objecthood, in: Lewis Baltz: The Prototype Works, Steidl, Göttingen 2010, n.p. 
[15] Er schloss das Studium, das er selbst sehr kritisch sieht, im Mai 1969 ab. Siehe Lewis Baltz in conversation with Jeff Rian, a.a.O., p. 9
[16] Matthew S. Witkovsky, a. a. O., n.p.
[17] Matthew S. Witkovsky, a. a. O., n.p. 
[18] Wolfgang Scheppe: Lewis Baltz and the Garden of False Reality, in: Lewis Baltz: Candlestick Point, Steidl Göttingen, 2011, p. 99
[19] Lewis Baltz, zit. nach Wolfgang Scheppe, a.a.O., p. 100
[20] Lewis Baltz in conversation with Jeff Rian, a.a.O. p. 34
[21] Robert A. Sobieszek, in: Lewis Baltz: Nevada, Steidl Göttingen 2010, n.p.
[22] Sobieszek, a.a.O., n.p.
[23] Hubertus von Amelunxen: Park City - A Disposition of Irony, in: Lewis Baltz: Park City. Steidl Göttingen 2010, n.p.
[24] von Amelunxen, a.a.O., n.p.
[25] Wolfgang Scheppe, a.a.O., n.p.
[26] von Amelunxen, a.a.O., n.p.
[27] von Amelunxen, a.a.O., n.p.
[28] Wolfgang Scheppe, a.a.O., p. 122
[29] Urs Stahel: Verführt, provoziert, aufgeklärt, in: Fotografie nach der Fotografie, hsrg. Hubertus von Amelunxen, Stefan Iglhaut, Florian Rötzer, Verlag der Kunst. Dresden/Basel 1995, p. 130-131
[30] Lewis Baltz: Only Exceptions, Steidl Göttingen 2012
[31] Siehe im gleichen Buch: Lewis Baltz in Conversation with David Campany, p. ?
[32]
[33] Baudrillard, Jean: Agonie des Realen. Berlin: Merve 1978, p.49
[34] Wetzel, Michael: Paradoxe Intervention. Jean Baudrillard und Paul Virilio:

Zwei Apokalyptiker der neuen Medien. In: Bohn, Ralf/Fuder, Dieter (Hrsg.): Simulation und Verführung. München: Fink 1994, S. 139-154
[35] Vergleichbar mit Jean Baudrillard: “...there is not only an implosion of the message in the medium, there is in the same movement, the implosion of the medium itself in the real, the implosion of the medium and of the real in a sort of hyperreal nebula, in which even the definition and distinct action of the medium can no longer be determined.”, in. Baudrillard, Jean: Simulacra and Simulations. Ann Arbour: UMP 2002, p. 89
[36] Lewis Baltz in conversation with Jeff Rian, a.a.O. p. 47
[37] Geschichten von Verlangen und Macht / Stories of Desire and Power: Lewis Baltz: Die Toten von Newport Beach/The Deaths in Newport; Slavica Perkovic: Sechs Geschichten für vier Männer/Six Stories for Four Men. Scalo, Zürich 1995
[38] Paolo Costantini, in: Giochi di Simulazione, exhibition catalogue, Rubiera, 1991
[39] Ganz zum Schluss tauchten die Sites of Technology von 1989-91 in neuer Form auf, als kleinformatige Serie von 53 C-prints.
[40] Wie ich selbst damals festhielt. Urs Stahel: Verführt, provoziert, aufgeklärt, in: Fotografie nach der Fotografie, hsrg. Hubertus von Amelunxen, Stefan Iglhaut, Florian Rötzer, Ver