2005

Leben und Tod in Bénin - Einführung

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Bénin, zwischen Togo und Nigeria an der sogenannten Elfenbeinküste in Westafrika gelegen, war im 20. Jahrhundert eine französische Kolonie gewesen. 1960 wurde es unabhängig, gefolgt von einigen Jahren poli­ti­scher Unstabilität und sich abwechselnden Regierungen. 1975 wurde die damalige République Dahomey in das heutige Bénin umbenannt. Bénin liegt an der Küste, an der durch Strukturwandel und Landflucht die Städ­te in Windeseile wachsen. Lagos in Nigeria, das im Jahr 2020 24 Millionen Einwohner haben soll, wird vom holländischen Architekten Rem Kohlhaas und seinem Team als neue Form, als urbanistisches Fallbeispiel einer chaotisch wachsenden Metropolis studiert. Cotonou, die wirtschaftliche Metropole Bénins wächst bisher bescheidener, dennoch schwanken die Schätzungen auch hier schon von 1 bis 1,5 Millionen Bewohner. Porto-Novo ist die politische Hauptstadt Bénins, Ouidah der frühere Sklavenexport-Hafen und ein wichtiges religiöses Zentrum. Daneben sind Abomey, Dekamey und Komé wichtige Städte. In Bénin leben über 40 ver­schiedene Volksgruppen, rund 70 Prozent davon gehören der Voodoo-Religion an, die restlichen 30 Prozent sind vornehmlich Katholiken.

Entlang der Elfenbeinküste, auf dem Seeweg von Europa nach Indien, kam es in den Hafenstädten Bénins schon vor der vollständigen Unabhängigkeit im Zuge wachsender Handelsbewegungen zu ersten Berührungen mit Kommunikationsmitteln der Moderne. Eines davon war die Fotografie, die mit dem gesellschaftlichen Aufbruch einen bedeutenden Platz im öffentlichen Bewusstsein Afrikas fand. Die béninischen Fotografen übernahmen nach der Unabhängigkeit die Studios der französischen Kolonialherren oder aber sie eröffneten eigene: So zum Beispiel Edouard Méhomé sein Studio Photo Vedette in Porto-Novo, Christophe Mahoukpé sein Studio Photo Classique in Dekamey, Bouraïma Akodji’s Studio Photo Idera in Abomey, Benoît Adjovi’s Studio Africa Photo in Cotonou oder Léon Ayékoni mit seinem Studio Photo à Tout Casser in Ouidah. Sie und viele andere, darunter Jean Agbétagbo, Joseph Moïse Agbodjélou, Jean Dotonou, Sébastien Méhinto genannt Pigeon, Jacob Chike Osiwe genannt Sungas, Camille Tchawlassou und Justin D. Tomety, die wir hier zeigen, waren Auftragsfotografen.

Sie reisten im eigenen Auftrag oder wurden für familiäre Ereignisse gerufen. Als Wanderfotografen porträtierten Sie die Menschen und Lebensabschnitte in den Dörfern: die Hochzeit, die ersten Babys- und Kinderfotos, die katholische Erstkommunion oder die Initiation im Voodoo, der seit 1996 offiziellen Staatsreligion Bénins. Vor allem aber porträtierten sie einzeln oder als Paar die sogenannten „Alten“, ein liebevoller Ausdruck für die älter werdenden Menschen, von denen die Kinder, die Verwandten, die nachfolgenden Generationen noch zu Lebzeiten ein Foto haben wollen. Ein Foto zur Erinnerung, aber auch ein Foto, das beim Ableben und in den Erinnerungritualen eine zentrale Rolle spielen wird. Das Bild wird oft im Freien aufgenommen, vor einem provisorischen Hintergrund, einer Bastmatte, einem Tuch, manchmal wird auch bewusst das eigene Mauerwerk gezeigt, als Zeichen, dass man etwas erreicht hat, also nicht mehr in Holzhütten wohnt. Die Aufnahmen werden anschliessend auf das Porträt hin zugeschnitten, unwichtiges, allenfalls Störendes an den Rändern weggeschnitten, anschliessend eingerahmt. Der Auftrag ist damit erledigt, das Negativ wird abgelegt.

Als Studiofotografen wetteiferten sie mit der städtischen Bevölkerung, die sich in den 1960er Jahren in raschen Schritten von ihren Traditionen zu befreien und ein modernes Leben zu führen schienen. Hier wird nicht mehr so sehr das klassische Repräsentationsfoto gesucht, sondern ein Identitätsfoto, das den jungen Mann in seinem neusten Veston, das junge Paar in Umarmung, die elegante Frau mit einem Strauss Blumen und die Jugendlichen mit Transistorradios zeigt. Und zwar vor gemalten Hintergründen – nicht mehr antikisierenden, wie noch zu Kolonialzeiten, sondern vor gemalter zeitgenössischer Wohnungseinrichtung, vor Flugzeugen, futuristischen Städten, die je nach Wunsch als Hintergrund hervorgezogen werden konnten.

Wir zeigen in der Ausstellung vier Auftragsarbeiten als eine Art von Vintageprints im Originalrahmen. Diese Fotos verbleichen in den Tropen schnell, sind bald einmal von Pilzen überwuchert. Alex Van Gelder hat deshalb vornehmlich Negative gesammelt, mit denen auf diese Ausstellung hin Neuabzüge gefertigt wurden. Die Neuabzüge unterscheiden sich manchmal von den Originalabzügen, weil der Auftragsausschnitt nicht mehr bekannt ist und weil sich das Interesse am Bild verändert hat. Oft wurde ein grösserer Ausschnitt aus dem Negativ gewählt, der gleichsam einen Einblick in die Arbeitsweise und in die Geschichte der Bilder erlaubt.

Der Gang durch diese Bildwelt aus Bénin bedingt zweierlei: Er erlaubt den ästhetischen Genuss dieser Fotografien, im Wissen, dass die Gestaltung nicht immer genauso vom Fotograf beabsichtigt war. Das Konfrontiertsein mit starken präsenten Porträts, mit Menschen, die vor lauter Strahlkraft aus dem Foto zu steigen scheinen. Hier im Wissen, dass sie die Augen, dem Prinzip der Sichtbarkeit und Klarheit gehorchend, unbedingt offen lassen mussten. Wir tauchen in eine mehrschichtige, spannende,  reiche Bildwelt mit grosser Bildkraft ein, eine Bildwelt, die unsere Kenntnisse dessen, was afrikanische Fotografie neben den bekannten, wunderbaren Seydou Keïta oder Malick Sidibé auch sein kann, deutlich erweitert. Doch der ästhetische Genuss der Bilder ist immer konfrontiert mit Informationen, die im Bild gezeigt oder versteckt vorhanden sind. Bénin mit seiner Mischung aus Voodoo (auf Deutsch Vodun) und Katholizismus, beides Religionen mit reichen Zeremonien, hat der Fotografie nach der Skulptur einen besonderen Stellenwert zugemessen, wie vielleicht kein anderes afrikanisches Land. Das Bild des kleinen Mädchens zum Beispiel, das eine Puppe in der Hand hält, wird noch reicher, wenn wir wissen, dass dies eine Zwillingspuppe ist, die an die verstorbene Zwillingsschwester erinnert und das Mädchen deshalb ein Leben lang begleiten wird.

Das enge, tiefe Verhältnis zum fotografischen Bild sehen wir besonders in den Totenbettfotografien, die den Schluss der Ausstellung bilden. Fotografien zeigen den aufgebahrten Verstorbenen, alleine oder umgeben von Verwandten, oft im Bild sind Ventilatoren, weil der Raum möglichst gekühlt sein musste. Es wird ein Bild aufgenommen, das den Verstorbenen und am Kopfende sein Bild als Lebenden zeigt. Der Geist des Verblichenen ist in gewisser Weise ins Bild des damals Lebenden übergegangen und im Raum präsent. Okwui Enwezor, Leiter der Documenta 11, der 2. Johannisburger Biennale und heute Dekan am San Francisco Art Institute schreibt in seinem Essay im Buch, wie sehr ihn diese Bilder von Totenbetten beschäftigen und beeindrucken. Dann weist er auf das beunruhigende Foto von Edouard Méhomé hin, das nur das leere Bett mit dem Porträt zeigt. Er schreibt dann: „Das Porträt der Verstorbenen wurde als Ersatz für den abwesenden Körper aufgestellt und hat einen zentralen Platz in der Erinnerung an die Verstorbene eingenom­men. Hier wiederum spielt das fotografische Bild in ehemals traditionellen Gedächtnissystemen eine signifikante Rolle. Das Porträt besetzt einen Zwischenraum. Es existiert und vermittelt die Kluft zwischen dem Körperlichen und dem Spirituellen, zwischen den Lebenden und den Toten, zwischen der Geisterwelt der Ahnen und der lebendigen Welt ihrer Verwandten.“

In diesen Fotografien ist besonders deutlich spürbar, wie geladen die Fotografie in Bénin ist, wie sie aufgeladen, mit Bedeutung versehen, eine wichtige Funktion im Sozialleben und im Verhältnis von Leben und Tod – vom Leben im Tod und vom Tod im Leben – einnimmt.