2011  /  Ai Weiwei: Interlacing

«Letzlich ist es ein Denkspiel.»

English Version: “After all, it’s a mind game.” →
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Er ist das und das, er ist der oder der, er tut dies, obwohl er auch jenes tut. Ai Weiwei scheint sich über die Jahre hinweg mit einem Netz aus Widersprüchlichkeiten, Polaritäten und unterschiedlichen Gesichtern umhüllt zu haben. Und doch ist er jedes Mal „er“. Zum Beispiel, wenn er sich urplötzlich die Kleider vom Leib reisst und wie ein wilder Faun tanzt, nackt, zu Hause im Atelier oder draussen in der Öffentlichkeit, vor laufender Kamera, damit die Wirkung der Geste nicht einfach verpufft. Oder wenn er mit klarer, ruhiger Stimme Sätze äussert wie: „Wir haben die Chance, gleichzeitig alles oder nichts zu sein … Wir können Teil einer Realität werden, aber wir können uns auch total verlieren und nicht wissen was tun“[1] oder „Ich denke, einfach in die entgegengesetzte Richtung zu gehen, ist eine kluge Wahl.”[2] Er sitzt beim Gespräch oft an seinem einfachen, aber grossen und schweren Holztisch, trinkt grünen Tee, lässt sich durch Kameras und Mikrofone nicht stören, fragt höchstens mal selbst zurück und fotografiert, im Gegenschuss, die ihn Fragenden, Fotografierenden, mit Anliegen Bombardierenden ebenfalls laufend mit seiner Handykamera. Der Holztisch steht in seinem Wohn- und Arbeitshaus, direkt neben seinem Studio, umgeben von wenigen, einzelnen Gegenständen, von Kunstwerken, fast immer von Katzen erkundet und gemustert. Ebenerdig, die Türe nach draussen, je nach Situation und Temperatur angelehnt oder geschlossen. In seiner Architektur, seinen Backsteinquadern, die so angeordnet sind, dass sich Zonen, dass sich Höfe bilden. Immer in einfacher, manchmal auch strenger Anordnung. Farblich unterschiedliche Backsteine und in der Wand verrutschte, herausragende oder leicht versenkte Steine brechen das geometrische Muster ornamental auf, geben den minimalen Quaderfassaden ein wenig Tiefenstruktur, dem Geometrischen eine informelle Befreiung.

Seinen Sätzen glaubt man, weil sie ruhig ausgesprochen, weil sie einfach sind, klar. Auch weil der reale und der Kunstkörper Ai Weiwei machtvoll, präsent die Worte unterstreicht, weil seine architektonischen und organisatorischen Strukturen Ruhe und Geschäftigkeit ausstrahlen. Darin ein grosser „Zampano“, der Widerspruch zulässt, zuweilen gar sucht, der gerne eine Struktur setzt, etabliert und die Entwicklung danach sich selbst (und den Ausführenden) überlässt. Sogar Architektur wird bei ihm so zum „offenen, partizipativen Werk“, wie in „Fake Design“, seiner Firma, die er nach seiner Rückkehr nach Peking anstelle eines der Regierung suspekten Künstlerateliers als erste eigene architektonische Arbeit errichtete. „Fake Design“ wird im Chinesischen „fuck design“ ausgesprochen.[3] Aber eines will man nicht glauben, jedenfalls nicht auf Anhieb: Dass der Satz „Wir haben die Chance, alles oder nichts zu sein“ auch nach innen, auch introspektiv gelten, also den Künstler selbst mit-betreffen soll: einen Weltkünstler, einen Star, den berühmtesten chinesischen Künstler, im Westen gefeiert, in China bewundert, kritisch betrachtet und überwacht, mit vielen parallel laufenden Galerie- und Museumsausstellungen. In „Fake Design“, einer Art Weiwei-Factory, mit je nach Projekten 20 bis 30 (zur Zeit der Architekturaufträge noch weit mehr) Mitarbeitern und fast ebenso vielen Besuchern, Journalisten, Galeristen, Sammlern, Kuratoren, Fotografen, die jeden Tag bei ihm vorbeipilgern. Genau dieser Künstler kann doch nur „alles und jedes“ sein.

Doch wir vergessen gern und schnell in diesem Fall, dass Ai Weiwei erst seit sieben Jahren Schritt um Schritt international bekannt geworden ist (2004 fand die erste Museumsaus­stel­­lung, kuratiert von Bernard Fibicher, in der Kunsthalle Bern statt). Sein Leben startete im Nichts, in der Einöde der Verbannung, im äussersten Nordosten Chinas, zuerst in der Mandschurei, dann in Xinjiang, in der ärmlich-kargen Ecke, in die sein Vater Ai Qing, ein einst bekannter und hochgeschätzter Poet, wegen „revisionistischen Gedankenguts“ von Mao verbannt wurde: 20 Jahre lang, davon 13 Jahre zum Toilettenputzen, bei gleichzeitigem Schreibverbot. In diese Gegend, diese Situation und Herkunft hineingebo­ren, erfuhr Ai Weiwei in seiner ersten Lebensphase die systemische, gesellschaftliche Lähmung. 1981, nach drei, vier kurzen Jahren in Peking, verliess er China, brach in den Westen auf, nach Philadelphia und Berkeley, und verbrachte die Jahre von 1983 bis 1993 in New York. Der Aufbruch lehrte ihn viel, er war Teil der chinesischen Diaspora New Yorks, der Künstlerszene im East Village, setzte sich mit Duchamp und Warhol auseinander, traf unter anderen den Beat-Poeten Allen Ginsberg regelmässig. Aber er brach auch sein Malereistudium an der Parsons School (bei Sean Scully) ab, war unstet, jahrelang untätig, jobbte, lebte von der Hand in den Mund. Das Nichtstun als Freiheit, als Bruch mit dem Vorgeschriebenen, das Künstlerdasein als Ausbruch aus sozialen Zwängen führte erstmals zu einer Art subjektiver Lähmung: Eine „zwecklose Zeit“ in New York, wie er es selbst beschreibt,[4] mit einigen ersten „zwecklosen Objekten“, entfunktionalisierten Objekten, die er mit wenigen Handgriffen zu fragenden Objekten, zu Kunstgegenständen veränderte. Untätig sein als Widerstand, Ausbruch, aber auch als Zeichen von Hilflosigkeit, von Definitions-, von Findungsschwäche. Entlassen aus einer Welt, die alles vorschreibt, die das Individuum nicht schätzt, entlassen, um in einer Welt zu landen, die umgekehrt das Individuelle feiert und das Individuum (fast gänzlich) sich selbst überlässt.

Diese und jene Welt, dieses und jenes Menschenbild, Fremd- und Selbstbestimmung. Das Duale steckt tief drin in Werk und Mensch, als grosse Chance, aber auch als Zwiespalt erfahren. Ai Weiwei trägt beides in sich, den Bruch mit der Vergangenheit bei gleichzeitigem Glauben an die Kontinuität der Kultur. Er ist Modernist und Traditionalist, er ist lokal und global, Amerikaner und Chinese, Denker und Sammler. Ueli Sigg, der grosse Sammler chinesischer Kunst, brachte es in der Neuen Zürcher Zeitung auf die Formel: „Das Werk fusioniert zwei konträre Paradigmen der künstlerischen Schöpfung: einerseits das westliche Paradigma der ‚Avantgardekunst‘, das durch die radikale Zerstörung der Tradition und durch den Bruch mit der Vergangenheit Raum für ein ganz neues Denken schaffen will, andererseits das klassisch chinesische Paradigma, das der Tradition grossen Respekt zollt und infolgedessen künstlerisches Schaffen als ein sich entwickelndes Kontinuum betrachtet, das aus dem Reichtum der chinesischen Kultur schöpft.“[5] Die Skulpturen, die Ai Weiwei aus Möbeln der Qing-Dynastie herstellt, materialisieren diese Fusion. Der Schnitt, den Ai Weiwei ansetzt, ist klar, direkt und hart: der Tisch wird entzweigesägt. Doch anschliessend werden die Teile neu zusammengesetzt. Der Schnitt ist präzise, radikal, chirurgisch, aber nicht zerstörend wie bei Gordon Matta-Clark, das Rohe, Gewalttätige ist nicht Thema. Das (verdrehte) Zusammensetzen wiederum wird mit höchster Möbelschreinerkunst, mit grosser Wertschätzung für das eben Zerstörte, Entfunktionalisierte, das verwendete Material ausgeführt. Diese Möbelskulpturen veranschaulichen, materialisieren das Zusammengehen von Bruch und Kontinuität, dieses So- und Anders-Sein. Oder in seinen eigenen Worten: „Nach meiner Begegnung mit dem Werk Duchamps realisierte ich, dass Künstler zu sein eher mit einer Lebensführung und Haltung zu tun hat, als mit der Produktion von Objekten … Es geht um eine bestimmte Art und Weise, die Dinge zu sehen.“[6] Ai Weiwei ist ein konzeptueller Künstler, aber mit grossem Materialbewusstsein, mit Wertschätzung gegenüber der Produktion und dem Produkt.

Ai Weiwei kehrte 1993 (weil sein Vater krank war) nach Peking zurück, verlagerte sich vom East Village in New York ins East Village von Peking, wurde wichtiger Teil der sich belebenden Kunstszene, baute sein eigenes Studio, kuratierte 2000 in Shanghai die Ausstellung „Fuck Off“ zur zeitgenössischen chinesischen Kunstszene. Und er erlebte bald die beginnende, sich zunehmend radikalisierende Transformation Pekings. Von 2002 bis 2008 dokumentierte er diese Tabula Rasa in Peking, aber auch in anderen Städten Chinas. Seit 1949 gehört alles Land dem Staat. Das erlaubt es, ohne komplexe Verhandlungen auf grossen Landstrichen alle Gebäude, vor allem die traditionellen meist einstöckigen Hutong-Gebäude in engen Gassen, niederzureissen, dem Erdboden gleichzumachen, um die freistehenden Flächen, Brachen möglichst schnell neu zu überbauen. Ai Weiwei dokumentierte diesen architek­tonischen Kahlschlag, er fotografierte die „provisori­schen Landschaften“, die dabei auf Zeit entstehen. Als Dokument eines zentralstaatlichen Wahnsinns, der kaum Rücksicht nimmt auf die Geschichte und Kultur des Landes. Kahlschlag und Neubau, darunter auch Prestigebauten wie der T3, der Terminal 3 des Pekinger Flughafens, oder wie das Bird’s Nest, das Olympiastadium von Herzog & de Meuron, an dessen Entwurf und Kontextualisierung Ai Weiwei anfänglich beteiligt war. Auf intensive Weise verschmelzen auf diesem Weg Bruch und Kontinuität, Zerstörung und Neubau zu einem neuen Kern. Das Festhalten, Dokumentieren dient, wie später seine Suche nach den Namen der beim Erdbeben von Sichuan getöteten Schulkinder – die wegen unsicher gebauter Schulhäuser verschüttet worden waren – , der Aufklärung, in diesem Fall auch der Wiederherstellung der Würde jedes Einzelnen durch die Möglichkeit der Erinnerung. Die Dokumentation als Benennung, als Chronik, als archivierte Gegenwart und als Respekt vor dem gelebten Leben.

Das „passive“ Dokumentieren kreuzt sich mit aktivem Provozieren. Ai Weiweis damalige Assistentin/Freundin und heutige Frau Lu Qing schürzt in der Fotografie June 1994 zum fünften Jahrestag des Massakers auf dem Tian’anmen-Platz kokett ihren Rock und demonstriert frivol ihren Slip. Ai Weiwei wiederum streckt den Mittelfinger aus erhobener Faust (den sogenannten Stinkefinger) über den ganzen Tian’anmen-Platz in Richtung „Tor des himmlischen Friedens“. Gesten des Protests, des Widerstands, der Koketterie. Es entstand daraus eine grosse Serie von Fotografien, in denen Ai Weiwei immer den gleichen mittleren „dicken Finger“ erhebt: gegen den Eiffelturm, das Weisse Hause, die Wüste Gobi, das eigene Studio. „Study of Perspective“ nennt sich die anstössige Serie trocken und erinnert auch an das Schätzen der Entfernung mit dem ausgestreckten Arm. (Man streckt einen Arm vor, macht eine Faust und stellt den Daumen auf. Dann peilt man mit dem einen Auge über den Daumen sein Ziel an, danach mit dem anderen Auge. Der Daumen „springt“ dadurch horizontal. Diese Sprungdistanz schätzt man und erhält, multipliziert mit dem Faktor 10, die ungefähre Distanz zum Ziel.) Die provokative Geste wandelt sich so zur Positions-, zur eigenen Standortbestim­mung. Hier bin ich. Von da nach da will ich. Soweit ist es noch. Diese Bilder, so einfach und stereotyp sie auf den schnellen Blick hin anmuten, werden zur Metapher des Verhältnisses zwischen gesellschaftlicher Macht und individuellem Freiraum, ein Vermessen der Möglichkeiten, ein Austesten des Spielraums, ein Eindringen einer neuen Perspektive (nach dem Zusammenbruch des osteuropäischen Kommunismus). Ein Thema, das ihn bis heute wiederholt beschäftigt. Der Einzelne und die Masse, der einzeln bemalte Keramik-Sonnenblumenkern und das Feld, Ais Bett aus Millionen von Sonnenblumenkernen in der Tate Modern thematisiert in minimalistischer Anordnung und Erscheinung dieses besonders für China zentrale Thema.

Ai Weiwei verfolgt die konzeptualistisch-aufklärerische Linie, dass das Werk weniger wichtig ist als seine Idee und der Weg dahin, als die Möglichkeiten, die sich durch eine Anordnung ergeben können: „Interessant ist, dass zwar meistens Individuen für originelle Gedanken verantwortlich sind, die gewaltigsten Objekte aber stets von einer kollektiven Intelligenz geschaffen werden … Ein Künstler spielt innerhalb der Gesellschaft die Rolle eines Mediators: eines Impulsgebers, der ein Programm in Gang setzt, dabei aber nicht alle Einzelheiten selbst regeln muss. Daraus ergibt sich eine offene Struktur, die die Menschen einlädt, mitzumachen … die Spielregeln werden neu geschrieben … und die Gesellschaft wird physisch miteinbezogen. Es braucht ein solches Denken, damit Blogs und soziales Bewusstsein überhaupt für höhere Ziele eingesetzt werden können.“[7] Ai Weiwei hat sich selbst und seine Kunst zunehmend in eine Situation hineingelenkt, in der das Kommunizieren selbst zum performativen künstlerischen Akt wird. Wir leben in einer Welt, in der zwar unendlich viel Information akkumuliert, aber nicht zwingend verarbeitet und griffbereit im Gedächtnis abgelegt wird. Ai Weiweis täglichen Interviews, sein Bloggen von 2005 bis 2009, sein Twittern – in Daniela Jansers Aufsatz (S. XX–XX) ist von oft über einhundert Tweets pro Tag die Rede – erzeugen einen Fluss an Kommunikation, an Sendungen und Gegensendungen, an Aussage und Widerspruch. Ai Weiwei ist in der chinesischen Öffentlichkeit zu einer Art Mentor des Lebens geworden, eine Form von Übervater, der ganz selbstverständlich zu allem und jedem befragt wird. Ai Weiwei weiss sicher Rat. Eine nicht ungefährliche Position für den Künstler, die er ebenso reflektiert wie den Wandel seiner Positionen im heutigen Weltwirtschaftsgefüge. Kunst als Rebellion und als Kommunikation,[8] so fasst Karen Smith Ai Weiweis Position zusammen: „Kunst sollte ein Werkzeug sein, ein Vehikel um Informationen zu übermitteln.“[9]

Die Rauminstallation Fragments, die kommunizierenden Fahrräder (Forever), die Perlenschalen (Bowl of Pearls), die Chandeliers, das Bett der Sonnenblumenkerne: Alle diese Werke verkörpern nebst ihren eigenen Wertigkeiten und Absichten das für Ai Weiwei zentrale Thema des Verbindens, Verflechtens, des In-einander-Verfügens, des physischen und kommunikativen Networking. Sie sind skulpturale, raumgreifende Visualisierungen der Vorstellung einer transparenten Welt, in der jedes mit jedem verknüpft ist, verbunden werden kann, wenn wir es (anpacken) wollen. Ai Weiwei erweist sich als ein gesellschaftlich denkender Strukturalist. Das Gespräch, die Kommunikation ist für ihn gelebte offene Skulptur. Verschiedentlich wurde Ai Weiweis Haltung auch mit dem Beuys’schen Begriff der Sozialen Plastik verglichen. Ai Weiwei nimmt das zur Kenntnis, doch seine Herkunft sind Duchamp, Warhol und – als lebensgeschichtliches Paradox – je länger je mehr: China. Template, die grosse Aussenarbeit aus Überresten verlassener, verfallener Tempel auf der documenta 12 in Kassel wir hier zum Mass: die Geschichte als Visier, durch das wir die Gegenwart betrachten und in die Zukunft schauen. Parallelkraft zur Geschichte ist die Natur, sie ist immer weit stärker und hat denn auch bei einem wilden Sturm die Vorlage, das Visier Template vom Zaun gerissen, in seine Einzelteile zerfetzt. Jetzt ist die Arbeit zum Symbol des Wechselspiels zwischen Natur und Kultur geworden.

Aus der Grundhaltung des Künstlers als Mentor, als Medium,[10] als kommunikative Schaltstelle bietet sich die Fotografie als ein wichtiges Notiz-, Aufzeichnungs- und Kommunikationsinstrument an. Im Gespräch mit Hans-Ulrich Obrist spricht Ai Weiwei davon, dass Fotografieren wie Zeichnen sei, wie Sich-eine-Notiz-Machen. In der heutigen Welt sei „Fotografieren … wie atmen, es wird ein Teil von dir.”[11] So ungeteilt ist seine Begeisterung für das Medium aber nicht immer. In Blogs äusserte er sich durchaus kritisch: „Fotografie ist ein trügerisches und gefährliches Medium. Und Medium ist Methode, ist Bedeutung, ein allgegenwärtiges Fest der Hoffnung, oft auch ein hoffnungslos unüberwindbarer Graben. Letztlich kann Fotografie die Realität weder aufzeichnen noch ausdrücken. Sie verwirft das Authentische der Realität, die sie repräsentiert, und rückt diese Realität nur noch weiter weg von uns.“ Doch die Fotografie ist ihm auch zentrales, unerlässliches Hilfsmittel, Werkzeug, neben dem mündlichen Kommunizieren und dem Schreiben, das er, wie er sagt, am allerliebsten tut.[12]

In diesem Buch dominieren weniger seine ikonischen Einzelwerke wie Dropping a Han Dynasty Urn oder June 1994, sondern seine sich um ästhetische Wirkung weniger kümmernde, aber präzise funktionalisiert eingesetzte Fotografie. Die Klammer des Buches bilden zwei grosse Werkblöcke: einerseits die journalartigen Fotografien aus New York, andererseits seine Blog- und Cell-Phone-Fotografie der letzten Jahre. Beide Werkblöcke wirken wie ein social networking mittels tagebuchartiger Fotografie. Im Unterschied zu den Blogfotografien wurden die New-York-Fotografien überhaupt erst Jahre nach Ai Weiweis Rückkehr nach Peking entwickelt. Diese Fotografie kommunizierte also nicht unmittelbar, sie ist vielmehr direkt zum Archiv einer bestimmten Zeit, eines bestimmten Lebens, einer Community, in der sich Ai Weiwei als exilierter junger Künstler bewegte, geworden. Sie ist schwarzweiss wie anfänglich auch viele der Blogfotografien, aber noch analog und mit Bewusstsein für Ruhe und fotografische Gestaltung aufgenommen. Die Blogfotografien hingegen, meist digital erzeugt, wurden gleich „stapelweise“ online gestellt und zugänglich gemacht. Ai Weiwei verwandelt mit ihnen und mit den farbigen Cell-Phone-Klicks die Fotografie in einen neuartigen foto-cinematografischen Fluss, der sich wie ein Tatzelwurm durchs World Wide Web zieht. Er schiesst oft nicht ein einzelnes Foto einer Szene, sondern zwanzig, vierzig, sechzig Fotografien derselben Szene hintereinander. Wir verfolgen also zum Beispiel minutiös wie Ai Weiwei einem Freund, einem Gast oder einer Assistentin „kunstvoll“ die Haare schneidet. Ein performatives Stück Alltagsleben in Caochangdi, dem neuen Künstlerviertel in Peking. Sein Blog hatte 17 Millionen Leser, bevor er geschlossen wurde. Sein Dasein in Peking wird insgesamt zum nicht nur in China, sondern weltweit nachvollziehbaren performativen Akt, zum Kunstwerk: „Ich denke, meine Haltung und meine Lebensweise sind meine wichtigsten Kunstwerke.“[13]

„Ich kam zur Kunst, weil ich den anderen gesellschaftlichen Regeln entkommen wollte. Die ganze Gesellschaft ist so politisch“, sagt Ai Weiwei. „Die Ironie dahinter ist, dass meine Kunst nun immer politischer wird.“ [14] Ai Weiwei ist aus Zufall Künstler geworden, heute aber ist er leidenschaftlich Architekt, Künstler, Kurator, Blogger, Twitterer, „Phototaker“, sozial-soziologischer Artist and künstlerischer Aktivist. Kunst ist für ihn ein geistiges Werkzeug, sich zu ändern, Situationen zu ändern, Verkrustungen abzubauen und Felder und Möglich­keiten zu eröffnen. Kunst ist aktiver Teil der aufklärerischen, transparent­machenden Elemente in der Welt, zumindest in der östlichen Welt, die sich noch mit totalitären, geschlossenen Regierungsformen (und noch weit weniger mit der westlich-kapitalistischen Konsumismus-Leere) auseinandersetzen muss: Kunst als eine Form der Veränderung. Und dazu gehört eben auch, Zwiespältiges zu leben, Auseinanderstrebendes auszuhalten, vermeintlich Gegensätzliches so in Bezug zu setzen, dass es zu- und miteinander Sinn macht. Das Verflechten, Verbinden, das Rebellieren und Kommunizieren, das Ermöglichen als Lebens- und Kunstform, denn „letztlich ist es ein Denkspiel.“[15]



[1] Hans Ulrich Obrist im Gespräch mit Ai Weiwei. In: Ai Weiwei, hg. von Karen Smith, Hans Ulrich Obrist, Bernard Fibicher. London 2009, S. 19.
[2] Mathieu Weiner im Gespräch mit Ai Weiwei, siehe Fn. 1, S. 20.
[3] Hans Ulrich Obrist im Gespräch mit Ai Weiwei, siehe Fn. 2, S. 31.
[4] Karen Smith, „Giant Provocateur.“ In: Ai Weiwei, hg. von Karen Smith, Hans Ulrich Obrist, Bernard Fibicher. London 2009, S. 82.
[5] Ueli Sigg, „Konfusionismus. Der Sammler Ueli Sigg über den Künstler Ai Weiwei – ein Porträt.“ In: Neue Zürcher Zeitung, 21. 11.2009.
[6] Hans Ulrich Obrist im Gespräch mit Ai Weiwei, siehe Fn. 2, S. 20.
[7] Mathieu Weiner im Gespräch mit Ai Weiwei, siehe Fn. 1, S. 22.
[8] Karen Smith, siehe Fn. 5, S. 110.
[9] Ai Weiwei, zit. nach Karen Smith, „Giant Provocateur“, siehe Fn. 5, S.107.
[10] Ai Weiwei, zit. nach: Birgit Sonnas und Ralf Schlüters Interview mit Ai Weiwei: „Ai Weiwei, braucht die chinesische Gesellschaft Künstler als Sprachrohr für die Wahrheit?“ In: Art, 1. 12. 2009, S. 20-26.
[11] Hans Ulrich Obrist im Gespräch mit Ai Weiwei, siehe Fn. 2, S. 16.
[12] Hans Ulrich Obrist im Gespräch mit Ai Weiwei, siehe Fn. 2, S. 19.
[13] Ai Weiwei, zit. nach Evan Osnos, “It’s not beautiful. An artist takes on the system.” In: The New Yorker, 24. Mai 2010, S. 56.
[14] Michael Wines, “Still making art, and trouble, in China.” In: International Herald Tribune, 28.11. 2009
[15] Zitat von Ai Weiwei; siehe Fn. 1.