Luigi Ghirri (1943-1992) war lange Zeit ein geheimnisvoller Unbekannter. Einmal weil seine Rezeption sich anfänglich vorwiegend in Italien abspielte, dann auch, weil er nicht mehr da war, als der Boom der Fotografie in der Kunst einsetzte - mit 49 Jahren war er allzufrüh und plötzlich verstorben. In den vergangenen zehn Jahren nun wird Luigi Ghirri endlich als einer der wichtigsten und einflussreichsten Fotokünstler in Italien, in der Welt insgesamt entdeckt, diskutiert und gefeiert.
Luigi Ghirri wurde am 5. Januar 1943 in Fellegara, einem Ortsteil von Scandiano in der Provinz Reggio Emilia geboren. 1946 zog seine Familie nach Braida in der Gemeinde Sassuolo, wo sie im Sommersitz des Modeneser Jesuitenkollegs San Carlo unterkam, einem riesigen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, das jenen Familien Unterkunft bot, die ihr Haus bei den Bombenangriffen verloren hatten. Massimo Mussini, Professor für Kunstgeschichte an der Universität in Parma und Entdecker und Förderer von Ghirri, macht in seinem grossen Ghirri-Essay erstens die heitere, bodenständige Jugend, das Aufwachsen praktisch in der Natur, zwischen den Bauern, Handwerkern und Gewerblern in einer damals noch intakten Symbiose von Mensch und Landschaft, zweitens die breite humanistische Ausbildung – am Schluss war Ghirri Bauingenieur mit einigen Kenntnissen in Topographie und Kartographie –, und drittens die frühe Berührung mit der Kunst und mit der Modeneser Künstlerszene für die Formatierung des Fotografen Ghirri als entscheidende Elemente aus.
Die sechziger, siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts waren ein Zeitraum, in dem die Fotografie grundlegend erneuert und neu verstanden wurde. Für viele Künstler ist diese Zeit ein Jahrzehnt der Abkehr: von den abstrakten, reinen, nach Objektivität strebenden Gestaltungsweisen und ihrem gedanklichen Überbau, vom Werk als geschlossener, absoluter Entität; von der Vorgabe des kunstwürdigen Materials und vom Stildenken. Absage auch an die grosse Form, an die grosse Erzählung, an die übergreifende Wahrheit. An ihre Stelle traten sichtbar das Erforschen, Fragenstellen, Suchen, Erproben – das konzeptuelle Reflektieren der Wahrnehmung, der Bedingungen des eigenen Tuns, der eingesetzten Mittel und Methoden, sowie die Beschränkung „grossspuriger“ Aussagen. Dieser Wandel fand jedoch weit mehr in der Kunstwelt statt und weniger in der Welt der Fotografen. Nur wenige Figuren wie Lewis Baltz, Robert Adams, Joe Deal, Stephen Shore und in Europa eben vor allem Luigi Ghirri waren als Fotografen aktiver Teil dieser Bildrevolution und trieben das neue Verstehen von Fotografie als eine mediale Sprache voran. In der Theorie spricht man hier vom „Linguistic Turn“ der Bildwelt.
Seine ersten Arbeiten – die Fotos aus der Anfangsperiode, die „Paesaggi di cartone“, die „Colazione sull'erba“, die Werkgruppe „Catalogo“ und „Diaframma 11, 1/125, natürliches Licht“ – zeigen auf Anhieb sein Bestreben, das Tatsächliche zu zeigen, diejenigen Zeichen, die jetzt die Welt bestimmen, die ihn umgeben, die ihm tagtäglich begegnen, die seinen und den Alltag vieler prägen. Es sind nicht mehr die schönen, sondern die normalen, nicht die erhabenen, mythischen sondern die banalen Orte zu sehen. Ghirri formulierte in seinen Essays den Wunsch, wirklich gegenwärtig zu sein, nicht eine vergehende, sondern die aktuelle Welt zu zeigen. Er entschlackte dadurch die bisherige Fotografie von ihrem Überhang an fotoästhetischer Gestaltung, an bedeutsamer Interpretation, an Gefühlsduselei. Und dennoch schrieb er auch:
„Die Fotografie ist nicht reine Reproduktion oder ein Chronometer des Auges, der die physische Welt bannt, sondern ein Ausdrucksmittel, bei dem der Unterschied zwischen Darstellung und Interpretation, wie fein auch immer, existiert und einer unendlichen Vielzahl von imaginären Welten Raum gibt.“ (Luigi Ghirri)
Die „Colazione sull'erba“ führen mit feiner Ironie vor, wie sich das Grün der Natur in ein kärgliches Topfpflanzengrün verwandelt hat; die „Paesaggi di cartone“ rücken auf vielfältige, neugierige Weise die medialen Bilder draussen ins Blickfeld – die Schaufenster, Vitrinen, die Plakate, Poster, Zeitungen –, sie konfrontieren das reale Umfeld mit den neuen medialen Zeichen und analysieren diese Verwandlung; die Bilder aus „Catalogo“ nehmen die geschlossenen, halbgeschlossenen Storen, die Bodenplatten, Türen, Fenster quasi wie einen Versandhauskatalog auf und verwandeln sie in eine Analogie zu konzeptueller Malerei. Die Bilder aus der „Diaframma“-Gruppe thematisieren den Menschen und sein Sehen im zunehmend mediatisierten Umfeld. Wir sehen ein Foto, das Menschen zeigt, die schauen, sehen: ein Foto, eine Malerei, ein Plakat, einen anderen Menschen.
Alle diese Werkgruppen verweigern das bisherige Ikonisieren des Einzelbildes, sie spielen mehr mit der Reihung, der Sammlung, der Sequenz, mit neuen Formen von struktureller Narration. Sie alle haben einen konzeptuellen Ansatz, beschäftigen sich thematisch mit der Entwicklung, der Gestaltung der Stadt und ihrer Randgebiete, ihrer Ausfransungen, dabei sind seine Bilder dennoch auffallend sorgfältig, mit Bedacht aufgenommen. Die sechziger und siebziger Jahre waren eine ikonoklastische, bildverweigernde Zeit. Ghirri hingegen verweigert das Bild als Ergebnis nicht, selbst da, wo er ganz einfach hinhält, wie es im Fachjargon heisst, wo er scheinbar nur hinguckt und abdrückt, ist grosse Sorgfalt und fein austariertes Bildersuchen spürbar.
Das gilt auch für „Week-End“ und „Atlas“, für die „Veduten“, „Italia ailati“ (das periphere Italien), für „Still Life“ und „Topografia-Ikonografia“. Am deutlichsten wird es wohl in der Serie „Inquadrature naturali/griglia“, dass es sich bei seinem Vorgehen um eine Schule des Sehens, Wahrnehmens und Erkennens handelt. Diese Serie der natürlichen Einrahmungen und der Gitterstrukturen spielt mit dem Quadrieren, dem Einrahmen, mit dem Gitter, das ein „Im-Bild“ und ein „Ausserhalb-des-Bildes“ schafft.
„Die Auslöschung des Raums, der den eingerahmten Raum umgibt, ist für mich genauso wichtig wie die Darstellung selbst, und diese Auslöschung ist es, dank derer das Bild Sinn erhält, indem es messbar wird. Gleichzeitig setzt sich das Bild in der Sichtbarkeit der Auslöschung fort und fordert uns auf, den nicht dargestellten Rest der Wirklichkeit zu sehen. Dieser Doppelaspekt des Darstellens und Auslöschens versucht nicht nur, die Abwesenheit von Grenzen heraufzubeschwören, womit jede Vorstellung von Vollständigkeit oder Endlichkeit ausgeschlossen wird, sondern zeigt uns etwas, das nicht eingegrenzt werden kann, nämlich das Reale.“ (Luigi Ghirri)
Luigi Ghirri hat in seinen ersten 15 Jahren als Fotograf ein weltbewegendes Werk geschaffen, das auf der Höhe des damaligen Denkens ist, das den Strukturalismus, den Modeneser Konzeptualismus, das Denken von Roland Barthes, Roman Jacobson, Michel Foucault, Umberto Eco in ein leichtes, feines, heiteres Werk verarbeitet, das in kleinen, meist abmattierten Fotografien und in seinen erstaunlichen Essays auch in einfachen-präzisen Worten eine aktuelle, zeitgenössische und zeitlose Schule des Sehens, eine Schule des Verstehens der gegenwärtigen Welt schuf.
Die Mai 36 Galerie zeigt in all ihren Räumen (im Erdgeschoss und im dritten Stock) rund 90 Vintageprints dieses wunderbaren, zentralen Italieners, der es mit Leichtigkeit vermochte, Erkenntnis und Poesie miteinander zu verbinden, um den Abend danach mit Freunden zu verbringen. Zum Schluss nochmals in seinen Worten:
„Es hat fast den Anschein, als teilte sich der Blick in zwei unübertragbare und unversöhnliche Kategorien: auf der einen Seite die Erkenntnis, auf der anderen Seite die Poesie. Mich hingegen interessiert ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden Extremen herzustellen. (…) Fotografieren wird also zum Bewusstsein, dass man sich an der Grenze zwischen Bekanntem und Unbekanntem befindet.“ (Luigi Ghirri)
Kuratiert von Urs Stahel