Mai 2017  /  Masterworks of Industrial Photography, MASTElecta 2017

Materie und Idee, Maschine und Metapher
Ein Bildepos zur Welt von Industrie und Arbeit

English Version: Matter and Idea, Machine and Metaphor →
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Archive sind schwere und schweigende Tanker. Sie wachen erst auf und beginnen zu reden, zu erzählen, wenn man Fragen an sie stellt, sie durch bestimmte Perspektiven, durch ein Erkenntnis-Interesse verlebendigt, wenn also ihr ruhendes Potential aktiviert wird und ihre Bilder in die Gegenwart geholt werden. Sammlungen geht es nicht viel anders, auch wenn hier vielleicht von Anfang eine bestimmte Absicht, ein Konzept, eine Fragestellung das Sammeln leitet. Erst wenn mit den Augen und mit Ideen im Bildfundus der Vergangenheit geschöpft wird, erst wenn Bezüge hergestellt, wenn Gegenwart und Vergangenheit, Produktion und Konsumption, Mensch und Maschine, Fabrik und Gesellschaft gedanklich verbunden werden, springt der Funken, beginnen die Archive und Sammlungen zu erzählen, geben ihre Schätze an Informationen preis und elektrisieren uns mit den darin verborgenen Bildwelten.

Jedes Archiv hat seine Geschichte, sein bestimmtes System von Ordnung und Unordnung, gehorcht also einer eigenen Struktur. Dennoch werden Fotografien fast überall vornehmlich beschreibend verstanden. Das heisst: Hier ist eine Fotografie und darauf ist ein bestimmtes Motiv zu sein. Also handelt dieses Foto von diesem Motiv, von diesem Ereignis, und wurde von diesem oder jenem Fotografen in einem bestimmten Kontext fotografiert, allenfalls anonym, von unbekannt aufgenommen. Das ist alles, fertig. Wir nennen das eine strikt beschreibende (denotative) Sichtweise der Fotografie. Vergessen geht dabei leicht die ästhetische Kraft der Fotografie, ihre Bildkraft, ihre visuelle Suggestion, die tiefen Schwärzen in der Silberschicht, die Wuchtigkeit von Übergrössen, das Grelle der Farbigkeit. Fotografien können weit mehr als nur bezeichnen, benennen. Sie sind eindringlich, entwickeln Strahlkräfte, wirken subkutan, das heisst, sie dringen auch emotional in uns ein und vermitteln uns so nicht nur eine, sondern zwei, drei, vier verschiedene Botschaften parallel. Sogenannte konnotative, also mitschwingende Botschaften, die metaphorisch, symbolhaft angelegt sein können und oft sinnbildlich gelesen und verstanden werden müssen. Oder solche, die, wie Musik, direkt und unvermittelt in unsere Gefühlswelt einwirken. Manchmal füllt und tränkt uns die emotionale Kraft einer Fotografie intensiver als ihr beschreibender Gehalt auf uns einzuwirken vermag, manchmal stehen sich beschreibende und ästhetische Kraft duellierend, kontradiktorisch gegenüber und lösen so beim Betrachter Unsicherheit oder Unwohlsein aus. Ergänzen sich jedoch Index, Verweis, Benennung mit Emotionskraft, mit Bildkraft, dann ist Fotografie unschlagbar stark.

Diesen zweiten und dritten Kräften der Fotografie will die Ausstellung «Image Power – MAST Collection of industrial photographs» auf der Spur sein. Sie will sie herausstellen, einsetzen, Fotos miteinander oder gegeneinander spielen lassen, und so eine neue, reichere und doppelbödigere Form der Narration entwickeln. Eine Art von Bilderfest, von Bildepos, ein Reigen von Bildern aus der Industriewelt wird vor unseren Augen vorüberziehen, ein visueller Überschwang an Einblicken in die Schwerindustrie, Maschinenindustrie, die Digitalisierung, und die Wegwerfgesellschaft. Blicke von mehr als 60 Fotografen und Fotografinnen schleusen uns entlang unterschiedlicher Räume, Zonen, Bereiche durch die Welt von Industrie und Arbeit, informieren uns, belehren uns, und lassen uns ebenso emotional in diese Reiche eintreten. Sie entwickeln vor unseren Augen eine Schule des Sehens, ein Spiel der Gegensätze, des Ähnlichen, der Verdoppelung, des Vorder- und Hintergründigen, des Schweren und Leichten, Vollen und Leeren, des Energetischen, Euphorischen und auf der anderen Seite des Melancholischen, des Traurigen, des Abgründigen in der überaus reichen Bilderwelt der Welt der Dinge, der Arbeit, der Industrie und Technologie in unserer Gesellschaft.

Wir tauchen zum Beispiel in Metall ein, genauer in Bilder von Metall bei Germaine Krull, Berenice Abbott, Nino Migliori, Takashi Kijma und Kiyoshi Niimaya, erleben in diesen Bildern die Formbarkeit und Schwere des Materials, das Dunkle im Prozess, das Helle, Brillante im Resultat, verfolgen seine Standfestigkeit, Spannkraft, Zugkraft, sehen, wie es durch Stauchungen zu «Distorted metal sheets» wird. Metall als wahres Brückenbauer-Material, wie wir in der grossartigen Reihe von Metallbildern bei Germaine Krull sehen können. Metall als zentrales Material einer bestimmten Industriezeit. Dann auch Bleche, Stahl, Kunststoffe, Gummireifen, weisser Verputz und, in den Fotos von Pietro Donzelli, Teer, Teertonnen, teerige Wasserpfützen in ausgedienten Industriearealen. 

Remy Markowitsch’s grosse, 25teilige Arbeit, entstand im Zusammenhang einer Ausstellung, die sich mit den Volkswagenwerken auseinandersetzte, der Grossfabrik und der mit ihr zusammen entstehenden, von ihr abhängigen Stadt Wolfsburg. Seine Arbeit verwandelt die Motorenkraft in einen «Psychomotor», wie er die Arbeit betitelt, eine Form von Erotomechanik, je nach Auge, das auf die Arbeit fällt. Maschinen werden darin zu unergründlichen, surrealen, animalischen Wesen, Dampfspeicher verwandeln sich bei César Domela in Dickichte, in lebendige Organismen, verdichtete Stadtformen. Es glüht, es schnauft, es kriecht, es dampft, oder es tickt leise und raucht davon. 

Geschlossene, geheimnisvolle Formen, aufgebrochene Flächen, Muster, die auf ähnliche Weise, aber mit ganz anderer Bedeutung die Bildfläche überziehen, eine organisierte Schar von schwerbeladenen Minenarbeitern, verbundene, verschlungene Schächte einer Chemiefabrik, ein Kühltank in einem Atomkraftwerk verbinden sich über die Ähnlichkeit der Form zu einem Feld scharfer Gegensätze. Ein Hochofen («The First Blast Furnace at Magnitogorsk» von Max Alpert), ein weit hochstrebende Kamin von Jakob Tuggener, Kühltürme und Raketen versinnbildlichen den immerwährenden Drang nach mehr, nach oben, höher, nach Fortschritt, nach Eroberung der Welt. Energie wird fokussierter, heftiger, mächtiger, bis sie explodiert, sich entlädt. Freiwillig, geplant oder gewaltsam, gewinnbringend oder zerstörend. Eisenbahn, Auto, Luftschiff, Flugzeug, Raketen, Bomben: es wird erfunden, entwickelt, geplant, konstruiert, produziert und eingesetzt, zum Guten und zum Schlechten. 

Die grosse Fotografie von Jules Spinatsch «Hochzeit Gruppe 631» führt uns computergesteuert durch eine Achtstundenschicht in der Fertigstellung von John-Deere-Traktoren. Eine ganze Schicht, zusammengezogen, 800 fotografische Schüsse verdichtet zu einem einzigen Bild. Zum Schluss wird lackiert und übergestülpt, das Chassis wird wie ein Kleid dem Traktor angezogen. Diese Schicht heisst im Fachjargon: die Hochzeits-Schicht. Simone Demandt führt uns zu den Maschinen und Apparaturen der Nacht, wie sie in Labors immerzu weiterlaufen, geheimnisvoll und bedeutsam zugleich, weitermessen, weiterticken, auch dann, wenn niemand anwesend ist. Die Fotografien der Chicagoer Börse von Geissler/Sann erzählen genauso von Erschöpfung nach geschlagener Schlacht wie von einem endlosen Fortschreiten, einem Nonstop, immerwährend, unersättlich, ausweglos. 

Bilder von Räumen sind das Gerüst der Ausstellung, führen den Besucher, seinen Blick, sie sind die Wegweiser auf dem Gang durch die Ausstellung. Entlang von Hallen, die «Hot Rolling Mill, Thyssenkrupp Steel, Duisburg» von Thomas Struth zum Beispiel, die «Alto Rabagão power station: busbar shaft» oder Vorrichtungen wie das «Interior of Large Space Simulator vaccum chamber» von Edgard Martins, die «Raumabfolge 244» von Walter Niedermayr, bis zu den weissen, kühlen Arbeitsplätzen von Henrik Spohlers Serie «Global Soul», die sich der Ungreifbarkeit, Unsichtbarkeit digitaler Datenflüsse annimmt. Schliesslich landen wir, nach einer Passage brillanter Produktefotografien von Peter Keetman und Franz Lazi im «High Noon, Dhaka dump, Bangladesh», aus Jim Goldbergs Serie «Open See», eine weite offene Fläche voller Abfall, auf der ein «Wächter» aufmerksam auf die Trennung von Materialabfall und Tierkadaver achtet. Hiroko Komatsu begegnet der Massenproduktion mit Massen von Gelatin Silver Prints. Sie baut damit begehbare Bildertempel oder Bilderwände, in einer Art Performance, währendder sie mit Bildern gleichsam Architektur baut und mit Architektur, im ungeklärten Stadium der Konstruktion oder Dekonstruktion, mit Fabrikanlagen, Werkzeugen, Abfällen eine Atmosphäre des Katastrophischen, Abgründigen, Umbrüchigen erzeugt. Die Installation der Fotografien von Bau- und Konstruktions-Materialien aller Art wird zu einer Art existenziellem, körperlichem, dreidimensionalem Denkraum: zu einer «Sanitary Bio-Preservation», zu einem melancholischen Schrein des Untergangs der Dinge. Jedes Ding, so gekonnt es auch produziert ist, ist unausweichlich auch dem Untergang geweiht.

Einen Niedergang hat auch die Fotografie erlebt, die im Nachhinein analog genannt Fotografie. Man sah die «elektronische Fotografie», wie es anfangs hiess, schon kommen, aber man war oft der Meinung, dass sie die analoge Fotografie niemals verdrängen könnte, dass sie höchstens eine Randerscheinung bzw. eine Ergänzung zum Silberkorn der analogen Fotografie sein würde. Noch 1988 schrieb der ehrwürdige Foto-Kritiker der New York Times, Andy Grundberg: «... it is more likely that electronic imaging will function like Edwin Land’s Polaroid process, as a supplement to the community of image-making-media. Even the head of Eastman Kodak’s electronics division – a recently established corporate entity designed to take the future’s high ground – believes that traditional photography’s ‚hard copy’ role will not be usurped by electronics. ... We see electronic imaging as enhancing silver halide photography, not replacing it.” Die Realität hat diese Einschätzung schnell überholt. Wir wissen heute, dass diese Fehleinschätzung des Head of Eastman Kodak’s electronics division den Zusammenbruch von Kodak einzuleiten begann. Heute besteht die Firma, vor allem wegen dieses Fehlers, aus weniger als 10% ihrer ursprünglichen Grösse. Catherine Leutenegger visualisiert diesen Niedergang in ihren Farbbildern voller leerer, ausgedienter Räume und Parkplätze. Auch die grösste Innovation kann man nicht gegen den Niedergang versichern. 

Dazwischen schieben sich Menschen, Arbeiter, Werktätige, Manager in das Bildepos ein. Selten mit den Räumen, in denen sie stehen, oder mit Maschinen, mit Werkzeugen verbunden, vielmehr, wie bei den berühmten Portraits aus «The American West» von Richard Avedon isoliert, herausgegriffen und alleine in den Bildraum gestellt, ungeschützt in den Bildraum und vor die Kamera gestellt. Wer sind wir, wohin gehen wir, was haben wir getan, scheinen sie zu fragen. Alle sind geworfen in die Welt, wie es der Existenzphilosoph Jean-Paul Sartre formuliert hat, zur Freiheit verurteilt, die sie unter ihren gesellschaftlichen Umständen oft gar nie antreten konnten. Weit weniger entfremdet wirken sie, wenn sie aktiv sind, ihre Maschinen, Apparate, Werkzeuge betätigen. Dann wirken sie «gefüllt», mit Sinn versehen. Arbeit ist eine gewaltige Identitätsmaschine. 

Die Bildwelt der Industrie und Arbeit, Fabrik und Gesellschaft, die sich in der Ausstellung entwickelt, ist von der Idee der Vielschichtigkeit geprägt: von vielen Ebenen, verwunschenen Wegen, unterschiedlichen Zeitsträngen, Atmosphären, die parallel laufen oder sich kreuzen – so wie der Mann auf seinem Eselkarren vor einer Industrieanlage, in der Fotografie von Pepe Merisio oder André Kertész Juxtaposition eines kleinen Glockenturms mit den beiden Türmen des World Trade Centers. 

Für die Surrealisten bestand die Herausforderung darin, die Bilder umzustürzen und auf diese Weise die Darstellungsformen zu verändern. Aber es geht ebenso darum, durch das Bild umzustürzen, also die Gegebenheiten der Realität durcheinanderzubringen. «Durch die Kraft der Bilder», schrieb André Breton, «können sich im Laufe der Zeit die wahren Revolutionen vollziehen.» Wir leben in einer Welt, in der uns das tagtäglich vorgeführt wird. Eine Revolution haben wir gewiss nicht im Sinn, aber ein Bildepos, ein Bildfeuer wollen wir entfachen – mit Fotografien aus der Sammlung der Fondazione MAST.