2000

Mattscheiben, ausgeschaltet

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In der Tasche tragen wir ihn, als Rechner, als „Palm“, als Handy; die Fahrkarte lösen wir, das Auto bewegen wir, die Alarmanlage entschärfen wir, das Geld kassieren wir über ihn; wir verfassen Texte, erstellen Grafiken mit ihm; er ‚ruft‘ uns auf, aus und herbei – „Nr. 512 bitte“ –, er kündet an, verspricht, rechnet; dann, wieder zu Hause, kochen, backen wir mit ihm und legen schliesslich den Kopf vor ihn hin: vor den Bildschirm, das Display, den Monitor. Er ist das Fenster, das Schild, der Wegweiser und das Tafelbild des 21. Jahrhunderts, alles zusammen, das erste allgegenwärtige, multifunktionale und auch portable Bildinstrument. Eine global tätige Versicherungsgruppe stattet die Schlafzimmer ihres neuen Ausbildungszentrums nicht mehr mit Grafiken von Hundertwasser oder Miró aus, sondern einzig mit einem Flachbildschirm, der Menu, Tagesprogramm, Börsendaten und Spielfilme aufscheinen lässt, allein oder parallel nebeneinander.

Verriegeln wir die Wohnung, schliessen wir die Fenster, lassen die Rollladen runter und hängen Leuchtkästen an die Stelle der Fenster, dann erhalten wir ein Sinnbild für die neue Konstellation, die neuartigen, verschlungenen, indirekten Wege, welche die Wahrnehmung dadurch nimmt, wir verstehen dann auch, weshalb der Begriff „Windows“ nicht zutreffend ist („An-Stelle-jeglicher-Fenster“ wäre komplizierter, aber geeigneter) und weshalb Netzsurfer so leichenblass und sauerstoffarm sind. Das sogenannte „Fenster“ ist ein selbstleuchtender Schirm, der die ursprüngliche, direkte, sinnliche Wahrnehmung, die Aussicht auf die Welt, den Einblick in die Natur, das Berühren, Riechen und Schmecken der Substanzen kappt. Er verändert die Distanzen zum einstigen Betrachtungs-Gegenstand dramatisch, wenn auch fast geräuschlos und technologisch kühl; er stört Raumgefühl und Ordnungssinn auf und drückt sie dann platt zu einer Scheibe. Oberflächensport. Galilei rewind: „Die [neue elektronische] Welt ist eine flache Scheibe.“ (Vitus H. Weh)

Der Bildschirm ist das heutige Brett vor dem Kopf, nicht opak, nicht aus Holz, sondern milchgläsern-durchscheinend, flach, aber Tiefe vortäuschend. Darin bauen sich Informationen zu erkenn- und lesbaren Zeichen auf, selbst eingegeben, auf die ‚Schiefertafel gekritzt‘, oder aus der globalen Überdruckflasche abgezapft. Nach einem streng vorgegebenen Raster, über Darstellungsfilter wird heute ein Grossteil der Information gewonnen: elektronische Füllhörner. Platos Höhlengleichnis eignet sich auch als Bildschirmgleichnis, ohne jedoch den endlosen Datenfluss, Datenstau und Datenwirrwarr schon mitgedacht zu haben: B2B, C2C, B2C, Business to Business, Consumer to Consumer, Business to Consumer werden Daten verschoben. Die Welt, jetzt wirklich die Welt draussen, erhält ihr eigenes Kürzel: RL, für Real Life. Real Life ist hart, Web Life is cool. Was ist mit der Überwachung? Wer weiss, ob wir nicht alle registriert und kategorisiert werden? Nicht mit einer Kamera im Monitorkasten, sondern über den Datenkonsum. Am ‚Tropf‘ im Büro, am ‚Tropf‘ zu Hause - öffentlich und privat lösen sich in diesem allgegenwärtigen, dezentralen, ‚kubistischen‘ Panoptikum, das Übersicht verspricht und nicht hält, auf: „Es herrscht ein Strahlen, das blendet.“ (Dieter Kamper)

Günther Selichar greift dieses virulent zeitgenössische (und zukünftige) Phänomen auf. Wie in den früheren Arbeiten „Who is Afraid of Blue, Red and Green?“ und „Sources“ richtet er die Aufmerksamkeit auf die Verbindung der Darstellungsmittel von abbildender Fotografie mit Ideen abstrakter, radikaler Malerei, angereichert mit Reflexionen über die Präsenz und die Verfahren elektronischer Medien. Diesmal hingegen gilt sein Augenmerk nicht der Farbenstruktur, dem Bildaufbau, dem Darstellungsmodus von Videomonitoren, nicht dem Grundton eines Träger- und Übertragungs­mediums – das Sausen und Rauschen des Mediums selbst –, sondern es gilt dem Bildschirm als Schnittstelle zwischen realer und virtueller, zwischen analoger und digitaler Welt. Medienbilder lassen das Medium vergessen, je besser sie selbst sind, das heisst, je brillanter, feinkörniger die Fotografie, je höher die Auflösung, die Definition des Videos ist, und sie erzählen umgekehrt weit mehr vom Medium selbst, wenn das Bild am Medium ‚kleben‘ bleibt, wenn die Struktur des Mediums, wie bei Faxübertragungen, im Bild omnipräsent bleibt. Fällt das Bild ganz aus, so stehen wir vor dem funktionslosen Medium, dem Kasten, dem Apparat.

Selichars Bilder verweisen eben auf diese Situation, konzentrieren sich auf den parkierten, ausgeschalteten Bildschirm, wenn sich seine Objekthaftigkeit bemerkbar macht. „Screens, cold“, kalte, ausgeschaltete Bildschirme, werden die Arbeiten betitelt. Kalt verkörpert der Bildschirm eine kühle, stille Monochromie, heiss, also eingeschaltet, ist er der Inbegriff von Geschwätzigkeit. Im kalten Zustand ist er Abstraktion der Form und Konkretisierung des Objekts, im heissen vergessen wir das Möbel ganz und gar und folgen dem Comic-haften, dem Siegeszug der reduzierten Figuration, und der eiligen und höchst sprunghaften Narration. Papier ist geduldig, heisst es, Bildschirme aber sind geduldiger (dafür bestimmender).

Die Bildschirme werden, nachdem sie ausgeschaltet sind, von Selichar ins Licht gestellt, der Schirm, das (Fenster-)Glas selbst rückt ins Zentrum, gibt dadurch seine Eigenfarbigkeit preis – monochromes Grün, Blau, Grau, Graugrün, Graublau, Militär- oder Billiardtisch-Grün – und macht uns seiner Form bewusst, vom kurzen zum gestreckten Rechteck, vom Videomonitor über das Cineramaformat zum Verhältnis eins zu drei einer elektronischen Agenda. Die einheitlichen Höhen der Arbeiten lenken die Aufmerksamkeit auf die Ausdehnung der Formen und auf ihre Rundungen. Trotz ihrer (fotografischen) Monochromie scheinen die Arbeiten an das alte Tafelbild erinnern zu wollen, nur ist der ‚Rahmen‘ ins Bild hinein verlegt. Eingefasste Monochromien, mit Fassungen, die dunkler sind als die Fläche und umgekehrt, mit Schatten, die einen leichten Trompe-l’oeil-Effekt auslösen; Fast-Monochromien, da die Vergrösserungen der Monitore im Bild die geschlossene Dichte der Farbe aufreissen.

Ilfochrome auf Alucobond und dann mit einer Highgloss-Laminierung vergütet, so dass die Bilder spiegeln, den Blick des Betrachters zurückwerfen, undurchdringlich wirken. Glatte, strenge, kühle Fotografien von ebensolchen Monitoren, „interfaces zwischen Bild und Dargestelltem“, wie Selichar sagt, aber auch interfaces zwischen konkretem Gegenstand und monochromer Fläche, zwischen Präsentation der Mittel und Repräsentation des Verborgenen, zwischen Abstraktion und realnaher, synthetisierter Darstellung, zwischen sichtbarer Undurchdringlichkeit und unsichtbarer, verborgener Unendlichkeit, auf die mit einem Klick zugegriffen werden kann.

Selichars Fotografien von elektronischen Mattscheiben wirken wie die Ruhe vor oder nach dem Sturm, wie ein glatter, geometrisch angelegter Stausee im ruppigen Gebirge, in dem wir uns spiegeln, auf dessen spiegelglatter Oberfläche sich moderne Seelen niederschlagen (glatt, eben ausgeschaltet, verweist die Mattscheibe auf Unmengen an Verborgenem, ist hermetische Projektionsfläche), und sie bergen letztlich wohl auch eine leise Sehnsucht in sich: nach der Möglichkeit einer neuen Ganzheit, nach dem Zusammenfügen der heterogenen Teile, nach dem Verschmelzenkönnen der fragmentierten, hybriden Welten zu einem neuen tragbaren Grund. „Es gefällt mir, ein Paradox herzustellen, zwischen massenmedialer Reflexion und originaler