Juni 2010  /  Du 807

Mensch und Arbeit – Ende der Sichtbarkeit (2/2)

<p>Henrik Spohler: <em>Assembly Line</em>, Bild Nr. 3 aus dem Projekt <em>Global Soul</em>, 2006, aufgenommen bei BMW in Leipzig</p>

Henrik Spohler: Assembly Line, Bild Nr. 3 aus dem Projekt Global Soul, 2006, aufgenommen bei BMW in Leipzig

Industriefotografie war im Grunde genommen immer Produktefotografie. Sie stellte Zahnräder, Pumpen, Triebwerke bestmöglich arrangiert und ausgeleuchtet in den Vorder­grund und rückte dafür die Menschen in den Hintergrund. Arbeiter störten das Bild der technischen Fertigung, der maschinellen Perfektion. Entsprechend hatten sie möglichst unsichtbar zu sein, so lange jedenfalls, bis den freien Reportagefotografen der Zugang zur Industrie möglich wurde, bis die geschlossenen Industrieareale, die fast autarken, ummauer­ten Industriestädte sich teilweise öffneten. Die Reportagefotografen veränderten den Zugang, das Blickfeld der Wahrnehmung. Sie schufen mit ihren handlichen Kameras – Rolleis oder Leicas – eine neue, andere Sichtbarkeit: Der Blick fiel von nun an für Dekaden auf den Menschen bei der Arbeit, auf seinen Einsatz, seine Konzentration, seine Aufopfe­rung. So wie heute die Handyfotografie und ihre Verbreitung im Netz das Monopol der professionellen Pressefotografie durchbricht, so knackte damals (in den dreissiger, vierziger, fünfziger Jahren) die freie, engagierte Fotografie das visuelle Monopol der Fabrikherren.

Kein Blick ist jedoch gegen Abnutzung, gegen seine eigene Kommerzialisierung gefeit. So erscheinen in den sechziger, siebziger, achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts massenweise Bilder von körperlicher Arbeit. Es entwickelt sich mit der Zeit ein visueller Kult der Anstrengung und des Leidens. Stellvertretend für viele andere wird an der Fotografie des Brasilianers Sebastião Salgado deutlich, wie die Konzentration auf das Körperliche, das Strenge, das Schwere, wie dieses überdeutliche Herausarbeiten von Schweiss und Leiden zu einer Verstellung des Blickes führen kann. Der visuelle Kult der körperlichen Arbeit konzentriert sich so sehr auf den spannungsgeladenen Körper, den diagonal ins Bild tretenden Arbeiter, das Glänzen erhitzter Haut, das tief verschmierte Gesicht, dass körperliche Anstrengung und (damit verbunden) Armut gleichsam schön geredet und heiliggesprochen werden. Dieses Bild des Arbeitens lief Gefahr, zum Manierismus zu werden, zur foto-aka­demischen Manier, wie Arbeiter, wie Arbeit zu fotografieren ist. In Zeiten grosser Handelsströme, wachsender globaler Wirtschaftsverflechtungen, im Filter von Strukturalis­mus und System­analyse, die das autonome Subjekt gefährdet und in neuen Rollen sehen, auf dem Weg einer abstrakter werdenden Welt schien diese Fotografie der körper­lichen Arbeit das herkömmliche  Menschsein selbst «ein letztes Mal» aufscheinen lassen zu wollen: ein letzter Schrei des menschlichen Ursprungs, bevor wir in eine neue Welt eintreten, die nostalgische Hymne einer ver­gehenden, sich zumindest geografisch verlagernden Arbeitswelt. 

Eine Fotografie, die versucht, der Entkörperlichung der Arbeit «Herr» zu werden, suchte man lange vergeblich. Es schien fast, als hätte es der Fotografie die Sprache ver­schlagen, als gäbe es gar nichts mehr zu sehen, sicher jedoch nichts Wertvolles mehr festzuhalten. Die Fotografie tat sich schwer mit der Verlagerung der Inhalte in ungreifbare, unsichtbare Blackboxes, in stumme, fast gesichtslose Architektur, die weniger wie real Gebautes, denn wie eine Grossleinwand wirkt. Und drinnen Tisch, Stuhl, Schrank, Computer, Drucker – die wenig fotogene Grund­ausrüstung der Dienstleister. Als Max Kozloff «Where have all the people gone?» als Titel über die amerikanische Fotografie der siebziger Jahre setzte, wusste er noch nichts von der Leere heutiger Produktionsstrassen. Der deutsche Fotograf Henrik Spohler visualisiert das Normierte, Strukturierte, das mechanisch-elektro­nisch aufeinander Abgestimmte der neuen Produktionswelt, die menschenleer und fast klinisch sauber erscheint. Eine Welt, die beim Installieren voller Arbeitender ist, doch «vor dem Anpfiff» bewegen sich alle, wie 60 Sekunden vor dem Start eines Formel 1-Rennens, von den Autos, vom Produktionsbereich weg. Was zuvor wie ein orientalischer Bazar anzusehen war, wirkt plötzlich menschenleer und technoid. Beim Startschuss der Produk­tionsstrassen, beim Einschalten der Strom- und Informationsflüsse verschwinden alle Menschen, ihre geleistete Arbeit geht «unsichtbar» ein in das perfekte, computergesteuerte Funktio­nieren von techno­logischen Abläufen. 

Die Arbeit verändert sich in unseren Breitengraden von «body driven» zu «brain driven» und im Zuge dessen verschwindet ein grosser Teil ihrer Sichtbarkeit. Der Entrückung der Arbeit folgt jene der Häuser und Hallen, die Containisierung der Transporte von Gütern, die Gestaltung von Gegenständen frei von ihrer eigentlichen Funktion. Und der Mensch? Das blütenweisse Hemd, der perfekte Haarschnitt, das fast pudertrockene Gesicht funktioniert nach dem Prinzip der Sichtbarkeit der Unsichtbarkeit. Dieses Outfit zeitgenössischer Dienst­leister ist Zeichen dafür, dass man alles im Griff hat, dass nichts zu Beunruhigung Anlass gibt. Der perfekte moderne Torso soll jede Anstrengung verbergen, unsichtbar machen, soll blüten­weisser Schein, soll der brand für unbeflecktes Arbeiten sein. Der Primärkörper, der existen­zielle, arbeitende Körper, verschwindet aus dem Bild, und dafür taucht der gestählte, trainierte, geformte Freizeit- und graublau gewandete Nüchternheitskörper auf. Geradeso wie normales Brot verschwand und als Bio-Dinkel-Multikornbrot in neuer Handelsgrösse und -form wieder auftaucht.

Das fotografische Bild von Arbeit im 20. Jahrhundert visualisiert, wie sich die Arbeit vom Handwerk zur Roboterstrasse, von der Produktion zur Dienstleistung und von der Berufung zum blossen Job verändert. Dabei werden drei Sichtbarkeiten verschleiert:  jene der Arbeit selbst, dann jene des Menschen in der Arbeit und schliesslich die Sichtbarkeit der Arbeit am Menschen. Heute prägen nicht mehr die Arbeitsprozesse den Menschen, sondern umge­kehrt: Lifestyle-Zeichen, Labels, Brands überstrahlen die einstige prägend-wichtige Sichtbarkeit «Arbeit».