Mai 2010  /  Du 806

Mensch und Arbeit – Spiel der Sichtbarkeiten (1/2)

<p>Anonym: Endmontage einer vierflügligen Kaplanturbine der Escher Wyss AG, um 1950</p>

Anonym: Endmontage einer vierflügligen Kaplanturbine der Escher Wyss AG, um 1950

Für eine Fotografie, der wir grosse Realitätsnähe und präzise Sichtbarmachung zuschreiben, benutzen wir Begriffe wie «dokumentarisch», «sachlich», «neutral» oder «objektivierend». Die Industriefotografie, die in der Vergangenheit mit viel Aufwand und Genauigkeit sachliche Sichtbarmachung betrieben hat, ist das perfekte Beispiel dafür. Gerade weil die Industriefotografie so präzis, aber auch so vielfältig war, galt die Ausbildung zum Fotografen eines grossen Industriebetriebs einst als umfassendste und interessanteste. Der Industriefotograf porträtierte zum Beispiel Arbeiter und Angestellte beim Eintritt und beim Austritt, also bei der Pensionierung. Er hatte Laufspuren und Gussfehler zu dokumentieren, also Material fotografisch zu prüfen. Er sollte einen einfachen, kleinen Gegenstand so perfekt ausgeleuchtet aufnehmen können, dass erkennbar war, aus welchem Material er geschaffen und wie er modelliert war. Das Gleiche musste ihm im Grossen gelingen, wenn er ein Zahnrad von 10 bis 14 Metern Durchmesser aufzunehmen hatte. Er wurde zum Architekturfotografen, wenn es galt, die riesigen Fabrikhallen von innen und aussen zu fotografieren. Offensichtlich stand er im Dienste verschiedener Sichtbarmachungen, registrierte, prüfte Material, übte Abläufe ein, kommunizierte und repräsentierte die Errungenschaften der Firma, die Produkte als eine Art vom Himmel gefallene Objekte, vor weissem Hintergrund, losgelöst aus dem Produktionszusammenhang. 

Was immer er auch fotografierte, der Industriefotograf hatte sich, wie vielleicht in keinem anderen Feld der Fotografie, strikt an ganz bestimmte Richtlinien zu halten: Feinkörnig sollte die Fotografie sein; das Licht sollte die Tonwerte ausgeglichen und nachvollziehbar machen; Schärfe sollte das ganze Bildfeld überziehen, und alle Objekte waren möglichst unverzerrt wiederzugeben! Diese vier Elemente wurden zum Credo des Industriefotografen. Um das zu erreichen, wusste er genauestens Bescheid über alles Filmmaterial, setzte Scheinwerfer, Spiegel, weisses Papier ein, um die Werkstücke ins richtige Licht zu setzen. Störten Glanzlichter wurden die Metallteile abmattiert. Beim Entwickeln des Films, beim allfälligen Umkopieren wurde ausgeglichen, abgeschwächt oder verstärkt, später mit dem Schabemesser oder mit sehr weichem Bleistift das Negativ retuschiert. Es wurde so lange retuschiert, bis die gewünschte Brillanz, Dichte, die Durchzeichnung der hellen wie der dunklen Partien erreicht waren. 

Um die gewünschte Sachlichkeit und Sichtbarkeit, eine gut durchzeichnende, scharfe und materialgerechte Wiedergabe zu erreichen, wurden also fast sämtliche Tricks der Fototechnik angewandt. Um die Neutralität der Objektwiedergabe zu erzeugen, wurde nach allen Regeln an der Fotografie «herumgedoktert". Fazit: Wir stehen vor einem Paradox. Es ging in der eigentlich sachlichen Industriefotografie offenbar nicht um einfache, dokumentarische Sichtbarmachung, sondern um aufwendige Bild-Konstruktionen. Ob ein Gegenstand vor weissem Hintergrund fast magisch fotografiert, eine Werkhalle mit glänzenden Maschinenteilen zum Schauplatz der Moderne stilisiert wird, oder ob eine Reihe von Arbeitern beim Schweissen von Werkteilen wirken, als treten sie im Theaterstück «Autogenschweissen im Dreivierteltakt» auf die Bühne: Immer wurde inszeniert, arrangiert und dann nach langer Vorbereitung ausgelöst. Das Foto wurde dabei als Ereignis, als Produktion verstanden. Es wird zum «Industrie-Standbild", zum Stillleben, ähnlich dem Film Still eines Hollywoodfilmes.

Ziel und Überzeugung blieben aber  immer die Sachlichkeit, das sachliche Sichtbarmachen. Sie war fest im Selbstverständnis des Fotografen verankert. Auch wenn die Sachlichkeit mit der Zeit ihre scheinbare Wertfreiheit verliert und zu einer Art «corporate identity» der gesamten Industrie wird. Das fotografische Bild liefert das «Bild», das die Industrie von sich geben will. Es deckt sich perfekt mit der Vorstellung des Technischen, Mechanischen, Präzisen und Sauberen in der Industrie. Es vermeidet das Düstere und Russige,  das Schmutzige und Schweissige, lässt die Industrie immer leichter erscheinen, als sie es je gewesen ist  – eine Vielzahl an riesigen Magnesiumscheinwerfern sorgte lichtstark dafür  –, und es vermeidet jedes expressive Moment und dadurch ein Stück weit die Handarbeit, den menschlichen  Beitrag.

Der Mensch spielte in diesem fotografischen Industrietheater eher eine geringe, manchmal verschwindend kleine Rolle, oft verschwand er auch ganz. In einem Saal voller Spinnmaschinen waren die Erschütterungen bei voller Leistung so stark, dass ein Foto lediglich am Sonntag, am Ruhetag gemacht werden konnte – ohne die Dynamik, ohne die Menschen des Werktags. Manchmal wurde der Mensch als Grössenvergleich hingestellt, nach der Fertigstellung eines besonderen Werkstücks zum Beispiel, wie beim Spiralgehäuse der Escher Wyss für ein Kraftwerk in der Mandschurei. Er diente da der blossen Sichtbarmachung des Produkts.  Das änderte sich erst, als freie Fotografen – im Auftrag der Aufklärung, des Widerstandes, und später auch im Auftrag der visuellen Aufrüstung, der Medienquote – die Fabriken betraten. Diese Fotografen stürzten sich auf jedes Staubkorn, nahmen es im Streiflicht auf, bis es sich hoch wie die Alpen auftürmte. Sie wurden von Schmutz und Schweiss wie Mücken angezogen. Schlagartig entstand eine ganz andere Sichtbarkeit, eine, die kein Produkt vorträgt, sondern sich der Würde, dem Stolz, den körperlichen und psychischen Belastungen der Menschen im Arbeitsprozess annimmt.