Oktober 2016  /  Camera Austria

Mit tiefer Verneigung
Zur Verleihung des Goslarer Kaiserrings an Boris Mikhailov

English Version: With a Deep Bow →

Gibt es Reportage- oder Dokumentarfotografie mit Selbstironie? Mit einem heiteren Tonfall und einer offenen Hintertür, dem Zweifel also, mit der eigenen fotografischen Behauptung vielleicht im Unrecht zu sein? Existiert das überhaupt? Bei all der Fotografie, die wir pars pro toto als «Magnum» bezeichnen können, sehe ich das nicht. Vielmehr findet sich da weiterhin grosser Ernst, manchmal gar Bierernst, zur Schau gestellte Inbrunst. Und lässt nicht dieser Ernst, der die eigene Position weder mitdenkt noch im Blickfeld hat, diese Form der Dokumentarfotografie oft unzeitgemäss und unwahr aussehen? Mit der Aufsplitterung der Wahrheiten kriegt der Glaube an die eine grosse Wahrheit bald einen dichten langen Bart. 

Ich stelle mir diese Fragen, während ich über Boris Mikhailov nachdenke, dem für 2015 der Kaiserring der Stadt Goslar verliehen wird, eine der höchsten Auszeichnungen für zeitgenössische Kunst in Deutschland. Denn Mikhailovs inzwischen mehr als vier Dekaden überspannendes Werk «hat» genau das. Immer wieder zeichnen Ironie, Heiterkeit, ein Spiel mit der Wirklichkeit und mit sich selbst sein Werk aus. Neben tiefen Gräben, aus denen die Härte der Welt mit voller Wucht, mit dem Gestank und Sausen von Eiterbeulen in unser wohliges Leben hochdampft. Seine postsowjetischen Arbeiten über die Ukraine lehren uns schlechthin das Grauen. 

Er dokumentiert und er tanzt. Er schaut hin, genau, schliesst seine Augen nicht, und lacht zugleich. Mit Schalk in den Augen schaut er uns an, während er Fussbälle zu Brüsten und Milchflaschen mit Orangen zu Penissen und Hoden werden lässt. Das Weltgeschehen wird ernst genommen und dann im Familienkreis nachgespielt. Damit das Leben, bei gutem Erkenntnisgewinn, trotz allem gelebt werden, ja lebenswert bleiben kann. Surrealistische Überblendungen, volkskunstähnliche Handkolorierungen, Amateurschnappschüsse, Banalfotografie mit tagebuchartigen Notizen, Selbstinszenierungen, nackt vor schwarzem Hintergrund, und direkte, harte, grelle Farbfotografie: das legt Boris Mikhailov seit den siebziger Jahren in seinem dichten, vielfältigen Werke vor. Zur Ergötzung und Irritation, zur Begeisterung und Verstörung des Publikums in Ost und West.

«Wir» – die Moderne, die fotografische Moderne, der andauernde fotografische Doku-Ernst – tun uns schwer mit dem Grotesken, mit dem schrillen Lachen vor dem Grauen der Welt. Boris Mikhailov jedoch tritt immer wieder als Harlekin auf, als Dandy, als Narr, mal auch als fauler Macho, der lachend der Last für einen Augenblick die Schwere und scherzend der Langeweile das Dumpfe entzieht. Seine Auftritte verwandeln die Fotografie in ein grosses Welttheater, sie entlasten das Dokumentarbild von seinem Zwang zur Direktreferenz, weil ihn die dargestellten Dinge an sich, ihre Erscheinung, ihre Ähnlichkeit nicht alleine interessieren, sondern nur in ihrer Funktion im «Sein der Welt».

Boris Mikhailov - klagender Sänger, lachender Narr, surrealistischer Erotiker und scharfer Phänomenologe zugleich – hat aus seinem geschichtlichen Kontext heraus ein Werk geschaffen, das sich über alle Grenzen hinweg manifestiert und letztlich ein tief berührendes Bild der verwundeten, bedrohten menschlichen Seele präsentiert.

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