November 2012  /  Du 831

Multiple Wirklichkeiten, multiples Sehen

<p>Aim Deuelle Luski: <em>Cake Camera</em>, Kfar-Shalem-Ruinen, Tel Aviv, 1/6, 2010, 4 × 5 Inch, Schwarz-Weiss-Negativfilm</p>

Aim Deuelle Luski: Cake Camera, Kfar-Shalem-Ruinen, Tel Aviv, 1/6, 2010, 4 × 5 Inch, Schwarz-Weiss-Negativfilm

<p>Hans Knuchel: <em>Konkav</em>, Steinfelsareal, Zürich, ca. 1990</p>

Hans Knuchel: Konkav, Steinfelsareal, Zürich, ca. 1990

Fotografie ist einäugig. Und deshalb ist sie flach. Kein Raum, kein 3-D. Das kann auch unser bipolares Sehen nicht mehr rückgängig machen. Schauen wir links oder rechts um die Fotografie, erkennen wir den schmalen Strich vom hellen Papier (bei Barytabzügen) oder vom hochweissen Plastik (bei Farbabzügen). Weit mehr jedoch schauen wir heute auf den Rand des Monitors oder des Smartphones. Da ist nichts dahinter. Die neue Schiebebewegung, die Kleinkinder auch schon an der Autoscheibe vornehmen, dieses nach links oder nach rechts Schieben der Bilder, eins ums andere, passt perfekt zur Flachheit der Fotografie. Deshalb wirkt sie oft wie eingefroren, wie eine dünne Schicht Eis vor dem Nichts. 

Ganz anders unser bipolares Sehen. Seit meiner Kindheit mache ich im Bett Augenspiele. Ich decke das eine Auge zu und schaue mit dem anderen. Anschliessend kehre ich die Reihenfolge um und beginne wieder von Neuem. Das Augen-auf-und-Augen-zu-Spiel wird begleitet vom Wunsch zu vergleichen: Was sehe ich, wenn ich nur links, was, wenn ich rechts schaue? Seither weiss ich, dass meine beiden Augen die Welt nicht in exakt gleichen Farben wiedergeben. Welches Auge hat wohl recht? Das kühler oder das wärmer sehende oder beide erst in der Kombination? Gleichen sich die Abweichungen in der Addition aus, oder verdoppeln sie sich? Die Frage lässt sich auch kommunikativ, im Gespräch, nicht klären. Bild und Sprache sind nicht gegenseitig kalibriert. Mein Rot ist nicht Ihr Rot. 

Dieses Augenspiel kann auch erschrecken. Oft sieht das linke Auge etwas anderes als das rechte. Was links zu sehen ist, verschwindet wie durch Zauberhand, sobald nur rechts geschaut wird. O Schreck, was ist falsch mit dem rechten Auge? Es sieht gerade nur die Hälfte! Die Bettdecke türmt sich vor dem rechten Auge auf, deckt Teile der Sicht ab, die sich das linke Auge erobert hat. Dafür sehe ich plötzlich rechts, was ich links noch nie gesehen habe. Das rechte Auge scheint gegenüber dem linken um die Ecke schauen zu können. Im Dunkeln verschlimmert sich das noch: Das eine Auge sieht gar nichts, weil es sich noch nicht an die Dunkelheit unter der Bettdecke gewöhnt hat, das andere folgt neugierig dem ins Zimmer einsinkenden Mondlicht, dem Hauch von Licht und Schatten, der sich auf dem Bett ausbreitet. 

Und wie steht es um das Augenpaar links von mir? Was sieht Auge Nummer drei? Das Gleiche wie mein Auge Nummer eins? Was wohl Auge Nummer vier? Oder sehen alle vier etwas anderes? Vier sehr verschiedene Landschaften, vier Eindrücke, die sich in zwei Hirnen zu je einem originalen, unvergleichlichen Weltbild generieren lassen? Gut, dass Schlafsäle selten geworden sind, sonst müsste ich mir, zum Beispiel in einem Zwölfersaal, die vierundzwanzig Partialsichten vorstellen, die alle behaupten, das Gleiche, ja das Wahre, gesehen zu haben. Welch ein Geschiebe, Gewürge, welch ein Purzeln von Sichten, die sich überschlagen und nie deckungsgleich werden. Jedes einzelne Auge meint gar, es sehe dreidimensional, nur weil ihm das Hirn es so vorgibt. Zusammen hingegen sehen die beiden Augen tatsächlich dreidimensional, plastisch, zumindest in der näheren Umgebung. Das Meer im Hintergrund jedoch sieht bereits wieder so flach wie ein Faltprospekt aus: unten Wasser, oben Licht. Zwei Rechtecke, die aufeinanderliegen. 

In der Fotowelt gibt es «Bastler», die diesen Phänomenen hartnäckig nachgehen. Sie machen kaum je Karriere, werkeln im Hintergrund, bauen eigene Kameras, fotophilosophieren mit dem linken und rechten Auge, mit dem Hintern, dem Knie. Werden dafür meist als «Spinner» belächelt. In der Schweiz zum Beispiel Hans Knuchel, der seit drei Jahrzehnten mit Stereobildern operiert und geschwungene Kameras mit 15-D, mit 15 verschiedenen gleichzeitig einfallenden Blickwinkeln, baut. In Tel Aviv sitzt sein Freund Aim Deuelle Luski, eine Art von Seh-Existenzphilosoph, dem die Vorstellung, dass das Licht bei der Normalfotografie immer senkrecht auf die Bildfläche fällt, ein müdes Gähnen entlockt. Was passiert, wenn Licht von der Seite auf den Rand des Films oder Fotopapiers, auf diese hauchdünne Kante, fällt und wild explodiert? Und was sehen wir, wenn das bei fünf oder zehn Filmen, die wie Kuchenbleche in einer Kamera übereinandergelagert sind, gleichzeitig geschieht? Wahrnehmungs- und Forschungsfragen, die ihn und seine Kollegen, auch den seit fünfzig Jahren in Wien lebenden Basler Alfons Schilling mit seinen «Linsenraster»-Fotografien, seinen «Sehmaschinen», antreiben, anspornen. 

Die Welt splittert sich in Milliarden von Einzelwahrnehmungen auf. Milliarden von unterschiedlichen Einzelwahrnehmungen bewirken Milliarden von Handlungen, die alle die Welt mit generieren. Bei der Vorstellung des ewigen Fliessens von Energie und der Milliarden von Wahrnehmungen, die Splitterteile dieses Fliessens herausschneiden, wird mir ... kubistisch zumute. Bis mich die Vorstellungskraft ganz verlässt. Ich will gar nicht imaginieren, wie viele Dimensionen so angeschoben werden. Doch wir ahnen es: Die Aufsplitterungen des Ichs in viele Teil-Ichs, die Vorstellungen von multiplen Wirklichkeiten, von neuen Dimensionen, die wir bisher nicht wahrnehmen können, geben genau diesen Fotografen recht. Sie sind auf dem richtigen Weg, dem eigentlichen track. Ein etwas mulmiges Gefühl.