März 2010  /  Du 804

Nächtliche Archäologie des Alltags

<p>Ambivalenz als neue Grundlage der Welt.<br />Pietro Mattioli: <em>Nacht, Nr. 33</em>; aus der Serie <em>2000 Light Years from Home</em>, 2006 / 2007</p>

Ambivalenz als neue Grundlage der Welt.
Pietro Mattioli: Nacht, Nr. 33; aus der Serie 2000 Light Years from Home, 2006 / 2007

Baum und Zaun, weich und hart, natürlich und künstlich verschmelzen und gebären das Bild einer Zeit, in der reine Natur kaum mehr vorstellbar, reines Denken kaum erreichbar ist. Baum und Zaun erzählen stumm und doch eindrücklich von der Ambivalenz als neuer Grundlage in der Welt. Nicht mehr hier oder dort, gestern oder morgen, gerade oder krumm, sondern die Additionen der verschiedenen Seiten, Parteien, Gedanken, Zeiten ergeben ein neues Spriessen und Wuchern. Es scheint in diesem Bild, als gehöre die Zukunft dem Bastarden. Vielleicht, weil das Bastarde sich zu arrangieren weiss, weil es nicht auf Absolutem beharrt? Weil es These und Antithese verschmilzt und so ein fruchtbares Gewebe von Natur und Kultur entsteht, das widerständiger ist als jede Reinkultur? 

Dieses Nachtbild von Pietro Mattioli erzählt von der Kraft der Ambivalenz, vom Gewinn, der aus dem Verwachsen, Wuchern und Sich-Arrangieren mit der Welt gezogen werden kann. Es spricht nicht vom Ideal, vom reinen Gedanken, sondern vom Gebrauchten, Gelebten, vom Gemisch aus Natur und Kultur. 

In einem anderen Bild erzählt ein rostender Staketenzaun von der Zeit, als Hinterhöfe noch streng unterteilt, beobachtet und bewacht waren und sich alle Jungen an den Zäunen (und am Misstrauen der Nachbarn) die Hosen aufrissen. Heute schwingt er frei und offenbar funktionslos als rostendes Artefakt durch die Nacht im Quartier. Oder: Eine T-förmige Eisenstange zieht sich senkrecht durch ein Bild, ihre runden gestanzten, gepressten oder gegossenen Löcher sind mit Spuren von rostigem Wasser miteinander verbunden. Spuren des stetigen Gebrauchs und ewigen Laufs der Zeit. 

Auf seinen nächtlichen, streunenden Gängen durchs Quartier begegnet Mattioli auch ein graues unidentified object, das sich, in graue Plastikplache verpackt und mit einfacher Schnur verschnürt, unförmig, wenig lesbar, doch mit spürbarer Gravitation nach unten, in sein Blickfeld, in den Bildraum schiebt. Maschendrahtzäune ziehen – teils verbraucht, mit Löchern im Geflecht, verdreht, verzogen, vom Übersteigen verbogen – vor seinen/unseren Augen durchs Bild, schulterhoch oder bildhoch, als seien sie Fallnetze des Blickens. Räume werden grau und grün ein- und ausgezont, abgesperrt und mit sichtbaren Spuren überschritten. Bildräume scheiden sich von Bildflächen, wie das Polaroid das Positiv und das Negativ voneinander trennt. Löchrige Netze und Gitter sind Erinnerung an Verbote und ihre Verletzungen – nun verloren, verfremdet vor der Unendlichkeit nächtlicher Schwärze. 

Mattioli zieht durch sein Quartier in Zürich, wie Eugène Atget durch Paris gezogen ist; jedoch ausschliesslich nachts und mit zeitgenössischer Kamera ausgerüstet. Er zieht durch die Nacht wie Brassaï, doch alleine, ohne vom Licht und Duft der Bistros, vom Blick auf Corsage-geschnürte Brüste angezogen ins Nachtleben einzukehren und den Durst von Körper und Seele zu stillen. Sein Sehnen und Suchen gilt nicht der wärmende Schenke, sein Blick fällt auf das Einfache, Banale, Normale, auf den Humus des Alltags. Ein Alltag, der Vertrautheit ausstrahlt, für den, der die Stadt, Gebautes, Gebrauchtes, Vergessenes im Quartier (noch) als Heimat wahrnimmt. 

Gott stecke in kleinen Details, hat Walter Benjamin geschrieben, das Wahrnehmen und Festhalten der kleinen, unbedeutenden Dinge, der übersehenen Winkel schafft ein lesbares, lebbares Reich, versehen mit dem Geruch von Heimatlichkeit. Diese Dinge schaut Mattioli an und blitzt sie. Er spiesst sie wie ein Botaniker auf, isoliert sie von der Umgebung. Anschliessend präsentiert er sie jedoch nicht vor weissem Blatt, vielmehr zerrt sein kühles Licht Elemente des gebauten, gebrauchten Raums isoliert vor den nachtschwarzen Grund. Seine Handlungen sind sachlich, direkt und einfach, ihr Resultat wirkt dennoch fremd, verfremdet, surreal. 

Die Nacht legt sich über die Stadt, die Dinge, die Schärfe des Sehens; Kanten werden unscharf, das Sehen reduziert sich zugunsten des Fantasierens und Träumens. Die Nacht verdeckt die ursprüngliche Klarheit der Gegenstände, ihre Funktionen und präzisen Gestaltungen. Für die Zeit bis zum Morgengrauen sind sie dem grossen Raum zurückgegeben. Mattiolis Blitz weckt die Dinge aus der Trance, aus dem Schlaf, reisst sie stückweise aus dem ruhenden, wartenden Gefüge und hebt sie hervor. Tore, Wände, Ketten, Gitter, Baumstämme werden aus dem Zusammenhang, aus der Verankerung gerissen, wirken durch das harte Licht-Schatten-Spiel entfunktionalisiert, vom System abgehängt, entrückt und verfremdet. Tagsüber banalfunktionale Gegenstände verwandeln sich nachts in fremde Konstellationen, in eigenartige, absurde oder aufgeladene Skulpturen. 

Mattioli streunt wie ein visueller Nachtwächter durchs Quartier, schaut da und dort rein, ob alles noch rechtens ist, beruhigt aufgeschreckte «Kinder», Objekte, zieht dann weiter durch das vertraute Gemisch aus entleerten Verkehrsschildern, importierten Nadelbäumen, Plattenelementen aus Beton und streng gestutzten Hecken. Er fotografiert das karge, bleiche, fast farblose Schattengesicht, das Gegengesicht zur gestalteten, geformten, gelebten Tages- und Verstandeswelt. Es ist sein Weg durch eine nächtliche Archäologie des Alltags, durch die wie Sterne blinkenden Zeichen einer Stadt. Vertraut und fremd, nahe und fern zugleich.