Januar 2019

Natur & Politik

English Version: Nature & Politics →
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Thomas Struths erste Museumsausstellung fand in der Schweiz statt, 1987 in der Kunsthalle Bern. Titel der Ausstellung: Unconscious Places. Sie bestand aus langen Reihen von kleinformatigen schwarzweissen Fotografien, die ausschliesslich Strassenzüge zeigten. Links eine Fassadenreihe und rechts eine, in der Mitte die schnurgerade Strasse, manchmal mit Strassenbahn­gleis, die sich in Blickrichtung entfernt. Die Bilder waren so strukturiert, dass man sie wie geometrisch strenge Rorschachtests anschauen konnte, als würden die Fassaden in der Mitte gespielt, als seien die streng dokumentarisch aufgenommenen Städte gleichsam das Psychogramm der Gesellschaft, die gebaute, gebrauchte, sanierte, sichtbare Seite der Sozialstruktur, der Geschichte der Menschen in diesen Städten. Menschen sind kaum darauf zu sehen, und dennoch gewinnt man den Eindruck, nur Menschengemachtes zu sehen, nur ihr Wollen, Schaffen, Errichten und Zerstören zu erkennen. Die Strassenzüge führen tief in das Unbewusste der Städte. Das Schwarzweisse der Bilder hilft uns Betrachtern dabei, sie als Strukturen zu sehen, als Karten zu lesen. In der Folge fotografierte Thomas Struth in mehr als fünfzig Städten und schuf damit ein umfangreiches Mapping des materialisierten Daseins, ein Porträt der gebauten Geschichte.

Das Parallelstück dazu sind die Familienbilder. Bei diesen Fotografien ist die Flucht geschlossen, der Raum, die Raumecke hält die Familien, die sich um einen Tisch gruppiert, auf Sofas sitzend oder formell und formgerecht vor der Kamera als Gruppe, Ensemble, als Familienbaum aufbauen, mit Blick zur Kamera. Die Bilder wirken im Gegensatz zu den Strassenbildern konfrontativ. Die Kamera baut sich vor den Menschen auf, die Menschen richten sich auf die Kamera aus, ordnen sich untereinander, stützen sich ab, lehnen sich an, in sich ruhend, entspannt oder steif, verquer, die Arme auf den Knien, den Schultern des anderen, des Vaters, der Mutter, die Arme verschränkt, ausgestreckt, in Taschen versteckt, die Hände weit gespreizt oder wie zum Gebet gefaltet. Ein Ballett der Hände und Blicke, von Körpern und Möbeln gestützt, gerahmt. Die Räume sind gleichsam die Innenseiten der Strassenzüge, eingerichtet, belebt, mit Zeichen und Gesten der Familienstruktur versehen. Die Bilder wirken wie unbewusste/be­wusste Familienaufstellungen, die uns Betrachtern und weit stärker noch Bekannten und Verwandten über all die Zeichen Hinweise über die Verhältnisse in Familien geben. Die Museumsbilder sind dann die  Erweiterung in den öffentlichen Raum. Sie sprechen von Bewegungen von Menschen untereinander und von der Begegnung mit der Kunst und Kultur.

So eine Dublette, einen Dialog von Werkgruppen gibt es noch ein zweites Mal im Werk von Thomas Struth. Die Dschungelbilder, die Struth alle „Paradise“ nennt, und die neuen Technologie- und Wissenschaftsbilder. Sie formen ein kontrastreiches Paar. In einem ersten Vergleich der Dschungelbilder mit Struth’ frontaler Ansicht des Mailänder Doms erkennen wir sofort einen Gegensatz. Der Mailänder Dom ist streng strukturiert, gegliedert, er gibt (oder gab) uns Menschen eine Ordnung vor, eine Richtung, einen Halt. Er repräsentierte die göttliche Ordnung auf Erden, fest in Stein gehauen. Er bietet Einlass, Heimat, selbst wenn seine Fassade auch eine immense Machtdemonstration darstellt, selbst wenn die Türen auf dem Bild dunkel und verschlossen wirken. Auf der anderen Seite der Dschungel. Noch stärker als beim Mailänder Dom sind diese Bilder randabfallend, ein Art von all over in Grün. Eine rationale Ordnung ist nicht erkennbar, es wuchert und spriesst, kreuz und quer, ohne Weg, ohne Richtung. Natur scheinbar in ihrer ursprünglichsten Form. Hell leuchtend, grün strahlend lädt sie uns ein, düster und dunkel scheint sie uns in dem Augenblick zu verschlingen, in dem wir in dieses Stück natürlichen Chaos eindringen wollen. Fotografisch, bildnerisch ist kein Zentrum erkennbar, in dem Sinne kein Motiv, keine Bildordnung, sondern überwucherndes Dickicht, das dem Auge den Blick nach hinten verwehrt. Paradise lost? Paradise regained? Wir spüren jedenfalls, dass Thomas Struth uns hier bewusst aufs Glatteis führt, dass er uns verunsichert, und uns mit seinem attraktiven Angebot an unsere Sehnsüchte, Fantasien und Projektionen alleine lässt. Unentschieden, ob wir eintreten oder draussen bleiben wollen. Unklar, wohin das führt, wie wahrhaftig oder ironisch, wie konkret oder wie metaphorisch das wohl gemeint sein kann.

Viele der oft grossformatigen, präzis komponierten Wissen­schafts- und Technologiebilder lesen sich zu Beginn ebenfalls wie ein grosses Durcheinander, wie ein Chaos. In „Measuring“, „Stellarator Wendelstein“, „Tokamak Asdex Upgrade“, „Laser Lab“ oder „Grazing Incidence Spectrometer“ zum Beispiel schauen wir in ein Gewirr von Kabeln, Stangen, Anschlüssen, Metallabdeckungen, Cutter Tape und Plastiküberzügen. Wir können uns, wenn wir nicht in diesen Bereichen arbeiten, keinen Reim aus diesen Bricolagen machen. Entsprechend schauen wir neugierig, aber auch vorsichtig, was die Anordnungen zu bedeuten haben. Sie wirken fremd, anders, ungeordnet wie seine „Paradise“-Bilder. Nur wissen wir, dass wir hier nicht in eine „ursprüngliche Natur“ schauen, sondern dass wir Maschinen, Vorrichtungen, Installationen von neuster Technologie sehen, dass wir einen Blake’schen Tiger, eine Mühle von Don Quichote, ein „Eisentier“ von Melville erblicken, wie die mechanischen „Auswüchse“ des menschlichen Geistes und Schaffens in der Literatur des 19. Jahrhunderts symbolisch gefasst worden sind. Keine Annäherung an den Ursprung unserer Natur, sondern die schrittweise Entfernung davon. Euphorisch wie Marinetti in seinem futuristischen Manifest oder melancholisch wie Freud, der alle technologische Erweiterung des menschlichen Körpers und Geistes als Prothese empfand und sie als Abwesenheit, als Verlust beschrieb, begegnen wir Menschen unseren eigenen technischen, technologischen Entwicklungen. Einhundert Jahre später sind wir diesem Verlust, dieser Art von Autoritätsverlust im Verhältnis Mensch und Maschine ein grosses Stück näher gekommen.

Thomas Struth bewegt sich hier in Welten, zu denen wir normalerweise keinen Zugang haben, verbotene Zonen, er zeigt uns wissenschaftliche, hochtechnologische Versuche, Entwicklungen, Forschungen, Messabläufe und Eingriffe, die irgendwann, jetzt oder in der Zukunft, in direkter oder mittelbarer Weise in unser Leben eindringen, auf unser Leben Einfluss nehmen werden. Sinn­bildlich steht dafür der Eingriff in den Körper mit Robotern, mit ferngesteuerten, oft minimalinvasiven chirurgischen Instrumenten. Wir übergeben unsere Autorität und unseren bisher integren Körper der Wissenschaft und chirurgischen Technologie. Die Instrumente dringen durch die äussere Schicht, die Haut ins Innere des Körpers, in seinen Mechanismus ein. Endoskopieren des Körpers mit Überwachung am Bildschirm meint, ins Innerste des Körpers hineinsehen, den Körper an die grosse Maschine andocken, ihn in eine neue Form von Demut zu versetzen – und damit das Verhältnis von Mensch und Maschine ein Stück weit zu verschieben.

Die Paradise-Dickichte zeigen sehr schnell, was sie, auf beschreibender Ebene, sind, und lassen uns dann, emotional und fiktional mit der dargestellten Welt und ihren Möglichkeiten, ihren Abgründen alleine, die Technologie-Bilder hingegen schaffen es bei aller Schärfe, Präzision und Ausgewogenheit des Bildes nie wirklich, uns genügend, uns genau zu informieren. Diese Welten bleiben ohne Legende, ohne Erläuterung und Kontextualisierung unergründlich. Mit Ausnahme vielleicht der Ölplattform und dem Unterteil eines Space Shuttles. Entsprechend stark fixieren und fordern sie unseren Blick, der ständig versucht zu verstehen, zu ergründen, das Neue hier mit Gesehenem, mit der eigenen Erfahrung, dem bisherigen Wissen zu vergleichen, bis er selbst zu irrlichtern beginnt.

Thomas Struth erarbeitete sich hier mit der gewohnten Genauigkeit, Akribie und mit seinem starken Bildgefühl eindrückliche Bilder der Welt der gegenwärtigen Forschung und Hochtechnologie. Gleichzeitig lässt er uns in seinen Fotografien die Komplexität, die Reichweite, die Kraft der Prozesse spüren, aber auch die Macht, die Politik des Wissens und Handelns erahnen, die hinter diesen Projekten steht. Er verunsichert uns mit Absicht und stellt diese seltsam entrückten Welten und unser Verhältnis zu ihnen zur Debatte. Mit der Zeit können wir zwar Einzelteile benennen, sie in unsere bekannte Welt zurücknehmen und einordnen, aber für den grossen Zusammenhang, für dieses Andere, Neue, Fremde, für die hochtechnologischen „Mühlen“ der Gegenwart und Zukunft bleibt uns lediglich ein grosses, manchmal heiteres Staunen.

Als Referenz zur Natur und zur Geschichte der Menschheit sind deshalb stellvertretend die beiden Bilder „Seestück, Donghae City“ und „Acropolis Museum, Athens“ in die Ausstellung integriert worden. Und als Referenz zum Handwerk, zur menschlichen Fähigkeit zu höchster handwerklicher und künstlerischer Präzision zeigen wir das Video „Read This Like Seeing It for the First Time“ von 2003/4, welches das präzise Wechselspiel von Lehrer und Schüler im Musikunterricht zeigt, was es zum Lehren und Lernen, zum Geben und Annehmen, Aufnehmen braucht. Es ist gerade in unserer Zeit, in der wir einen gewaltigen Schub in Richtung Robotisierung der Arbeitswelt erleben, darauf zu achten und zu betonen, zu welchen Leistungen die Menschen imstande sind.