April 2019  /  Photoworks, Issue 25

New Europe Revisited

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Es ist fast unheimlich. Es fällt mir schwer, die Bilder in „New Europe“ im Rückblick nicht als Prophezeiung zu lesen. 1989 war für viele ein hymnischer Augenblick. Die Mauer fiel, die DDR, die Sowjetunion, der erstarrte, bleierne Staatskommunismus. Europa schien sich zu vereinen, und mit ihr die ganze Welt. Die Vorstellung einer Freistellung von Geschichte, die das Lebensgefühl in den achtziger Jahren bestimmt hat, schien sich zu erfüllen, schien Bodenhaftung zu kriegen. Freistellung von Geschichte, Freistellung von politischer Verantwortung auf der einen Seite und freie soziale Marktwirtschaft auf der anderen Seite. Das war es. Von nun an konnte jedes Individuum unbekümmert seinen eigenen persönlichen Weg gehen, sich selbst optimieren, seine eigene Identität in all ihren Ziselierungen ausleben.

Viele hörten in den hymnischen Klängen auch erste Dissonanzen. Einige sahen hinter dem gleissenden, verheissenden Licht einen tiefen, dunklen Schatten aufziehen. Im Januar 1993, als wir mit der Ausstellung von Paul Graham zugleich das Fotomuseum Winterthur eröffneten, wussten wir schon, wie schnell sich der neoliberale Kapitalismus breitmachte, wie er sich schärfte und begann, sein siegesgewisses und oft höhnisches Grinsen aufzusetzen. Der Feind, der Gegner war eingebrochen, und damit zugleich das „Soziale“ im Kapitalismus. Margaret Thatcher hatte es in den achtziger Jahren ergiebig vorgebahnt: Deregulierung des Finanzsektors, Privatisierung der Staatsunternehmen und Deindustrialisierung im Produktionssektor. Und die frivole Freistellung von der Geschichte? 1991 brach der Balkankrieg aus, der erste von vieren, der uns vor den Toren Westeuropas klarmachte, dass uns allen vielleicht irgendwann droht, von der Geschichte eingeholt zu werden.

Paul Grahams Bilder in New Europe sind getränkt von solchen Ambivalenzen, von Ahnungen, von Umschattungen. Das spanische Diptychon paart die Exzentrik und Ausgelassenheit der Stunde in Madrid mit der spuckenden Verachtung für das Grab von Franco. Bilder von ausgelassen Tanzenden reiben sich an düsteren Hausfassaden, deren Fensterkreuze an Grabmale erinnern, reales Geschehen in der Geschichte gerinnt zur Bieretikette im Supermarkt, die Menschen wirken angespannt.  Bei aller Ausgelassenheit, bei aller Transformation von Geschichte in Bilder, in Produkte, in Waren, beim Gleiten in Konsum, Sexualität und Drogen hinein wird eine tiefe existenzielle Verlorenheit spürbar, ein Sartre‘sches Nichts: gottlos, frame-los, sinnlos. In der Transformation in eine freie globale Konsumwelt wird Schritt für Schritt spürbar, dass die Vergangenheit an den Schuhen klebt, dass wir sie nicht loskriegen, und dass der neue Weg viel Falsches in sich trägt. Paul Graham begann sein Buch mit einer Strophe aus T.S. Eliots Langgedicht Waste Land: „And I will show you something different from either / Your shadow at morning striding behind you / Or your shadow at evening rising to meet you / I will show you fear in a handful of dust“. 2019 spüren wir, wie stark uns die Vergangenheit und wie stark uns die Verkorkstheit der Politik, die sich viel zu eng mit der Wirtschaft verbandelt hat, einholt. Wir fürchten uns erstmals wieder vor den nächsten Schritten in Europa, in der Welt, vor dem nächsten grossen Schatten.

Paul Graham argumentiert in seiner visuellen Geschichte, die er um 1989 herum fotografiert und 1993 erstmals ausgestellt und publiziert hat, politisch, wirtschaftlich und existenziell, er verknüpft das Schicksal des Einzelnen mit der politisch-wirtschaftlichen Gesamtstruktur in Europa, er zeigt ihn/sie ausgelassen feiernd oder in sich gekehrt, fragil und angespannt. Dabei fehlen, wenn man aus heutiger Sicht zurückblickt, natürlich noch das neue grosse Feld, die Problematik des Digitalen, das uns heute so sehr umtreibt, und ebenso die jetzt weit massiver sichtbare und messbar werdenden Folgen der Industrialisierung für die Umwelt. Aber neue Formen von Faschismus, neue Formen von Radikalisierungen und Ideologisierungen treiben uns bereits wieder um.

Für mich war Paul Graham ein Idealstart in Winterthur, am Fotomuseum Winterthur. Ich konnte mit ihm nicht nur ein inhaltlich hochaktuelles, vielschichtig erarbeitetes Thema zeigen, sondern eine erste starke Form von neuer dokumentarischer Fotografie, von einer Fotografie, die zwischen Dokument und Essay, zwischen objektiver Darstellung und subjektiver Sichtweise sachte hin und her pendelt und die sich mit den unterschiedlichen Ausformungen, den unterschiedlichen Grössen einen Platz in den Ausstellungsräumen behauptet.  Und Pauls Fotografie war ja auch von Anfang an in Farbe. Wir erinnern uns, wie heftig er, Martin Parr, Peter Fraser und andere in England dafür angegriffen wurden, sozialpolitische Themen nicht mehr, wie gefordert, in Schwarzweiss, sondern in Farbe zu fotografieren. Ein aus der Sicht vieler schrecklicher, gewaltiger, sicher jedoch ein wichtiger und richtiger Schritt. Ein gekonnter Schritt auch ins Spannungsfeld zwischen Bild und Abbild, zwischen Abbildung und Gestaltung, ein Bekenntnis zum suchenden subjektiven Blick. Schon in “Beyond Caring”, “Troubled Land”, und später in “End of an Age” und in seinem Masterpiece “A Shimmer of Possibility”. Damit war gleichsam mit dem Start des Museums auch ein Stein eingeschlagen, für einen neuen Umgang mit Fotografie in Museen, einen neue Umgang von Fotografie mit der Welt. Ein paar Jahre bevor die digitale Fotografie im Ausstellungsfeld eine Rolle, und rund 15-20 Jahre bevor die Fotografie in den Social Medias eine markant neue Rolle zu spielen begann.

(1993 kuratierte ich die Ausstellung Paul Graham - New Europe als Eröffnungsausstellung des Fotomuseum Winterthur)