November 1998

Andreas Gursky -- Opening Speech
[Fotomuseum Winterthur]

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Meine Damen und Herrn,

ich begrüsse Sie herzlich zur Ausstellung von Andreas Gursky, mit neuen Fotografien der Jahre 94 bis 98. Ich begrüsse besonders herzlich Andreas Gursky. Ich möchte mich in erster Linie bei ihm, dann bei Veit Görner vom Kunstmuseum Wolfsburg und schliesslich beim gesamten Aufbauteam unter Pietro Mattioli, das mit dem Abbau der Sammlungsaustellung, dem Auf- und Abbau der Auktion und nun dem Aufbau der Gursky-Ausstellung in kürzester Zeit eine wahre Sonderleistung vollbrachte, für die Zusammenarbeit und den Einsatz bedanken.

Die Fotografie beschäftigt sich (klassischerweise) mit einem Gegenstand oder Wesen, also mit einem besonderen Motiv, das an einem bestimmten Ort vor einem bestimmten Hintergrund und zu einem bestimmten Zeitpunkt ins Blickfeld der Kamera gerückt wird. Diese Art der Beschäftigung scheint nicht bloss der Haltung und dem Stil des jeweils Fotografierenden zu entsprechen, diese 'klassische Haltung', diese 'Klassik', scheint vielmehr dem Medium Fotografie eingeschrieben, ihm geradezu verhaftet zu sein: Die Kamera wählt einen konkreten Gegenstand aus der Welt aus, macht ihn durch die Auswahl zum besonderen und durch das Klicken des Auslösers zum bestimmten, einmal dagewesenen Gegenstand: „Das ist er dort und dann und unter diesen Umständen gewesen.“

In diesem Sinne reist auch Andreas Gursky – auf den ersten Blick gesehen - durch die Welt und wählt sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an bestimmtem Ort ein ganz bestimmtes Motiv aus: zum Beispiel Produktionsstätten - Produktionsweisen in zeitgenössischen Industrien - oder Warenumschlagplätze - Frachthäfen, zur Schau gestellte Konsumgüter, Banken oder Börsen -, zum Beispiel auch 'Verkehrsknotenpunkte' - Schiffs- und Flughäfen und Hotels - oder Freizeitbeschäftigungen - in ihrer grossen Spannweite von 'leisure' zu Sport: vom Lustwandeln im Garten also zum Skilanglaufen, Skiabfahrtslauf oder zum Raven, zum Tanzen zu Techno- und Housemusik. Dazu hat er auch Foren der Politik und Tempel der Kunst und des Konsums fotografiert. Ganz in diesem Sinne erhalten die Fotografien meist einfach beschreibende, lokalisierende Titel wie "Times Square", "Bundestag", "Union Rave", "Prada II", "Engadin", "Rhein", "Hong Kong, Stock Exchange", "Atlanta", oder "Turner Collection". Zusätzlich sind sie mit einer Jahreszahl versehen, werden zeitlich fixiert.

Im Gegensatz nun zum Gesagten, scheinbar auch im fast totalen Gegensatz zu diesem Wesenhaften der Fotografie, verfolgt Andreas Gursky ein etwas anderes Ziel: Er geht zwar an bestimmte Orte, aber er versucht weniger, ein einzelnes Motiv vor einem Hintergrund aufzuspüren, als vielmehr Konstellationen zu zeigen, darüber oder darunter liegende „grundlegende“ Strukturen, gesellschaftliche Ereignis- und Handlungszusammenhänge herauszuarbeiten, zu visualisieren. Entgegen dem Siegeszug des sogenannt Individuellen im 20. Jahrhundert interessiert ihn nicht das Einzelne, sondern die Gattung, nicht das Einzelteil, sondern das Regelwerk. Er fotografiert zwar zu einem bestimmten Zeitpunkt, und er fotografiert an den besonders zeitgenössischen Orten einer prosperierenden, mobilen, nachindustriellen kapitalistischen Gesellschaft, aber er ist bestrebt, das zeitlich Fixierte zu dehnen - nicht zu einem erzählerischen Ablauf, sondern um es in ein Allgemeines zu verwandeln.

Er tut das einerseits in Zusammenfassungen von vielen einzelnen Details zu einer Art fotografischer Landkarte, die wir Betrachter von oben, wie von einem Übersichtshügel oder Übersichtsturm herab, betrachten (zum Beispiel das Börsen-Bild hier oder im Raum da drüben), aus Distanz und mit dem Gefühl, das System des Getümmels da unten zu begreifen; er tut das andererseits in Verdichtungen, Reduktionen oder Abstraktionen zu flächig organsierten, monochromen, Farbfeld- oder gitterartigen Bildern: die Shanghei-Bank in Hongkong hier, Engadin, der Rhein da drüben, der leere Konsumschrein da hinten und natürlich das flächige Decken- oder das Bodenbild sind Beispiele dafür. Auesseres und inneres Bild, Bildgegenstand und Bildaufbau fallen dabei auffallend zusammen – das spielt eine wichtige Rolle bei der grossen Präsenz der Bilder. Parallelen zu Bildauffassungen in der Kunst der Moderne, vom all over eines Pollock zu den Farbfeldern bei Barnett Newmann und den Gitterstrukturen bei Sol LeWitt, sind sicht- und spürbar als ein allgemein bekanntes, verfügbares und adäquat zeitgenössisches Bildvokabular.

In Bezug auf die Fotografie gesehen dehnt Andreas Gursky das Medium Fotografie bis an seine Grenzen, formuliert er quasi einen neuen Gebrauch: Seine Bilder wirken häufig so streng dokumentarisch und enthalten gleichzeitig stark konstruierte Züge; in Bezug auf das Bild generell nimmt er Abstraktionen oder Konstruktionen vor - er abstrahiert vom Besonderen ins Allgemeine, er konstruiert mit den vielen vorhandenen konkreten Details ein übergeordnetes Allgemeines: die vielen verschiedenen Sportschuhe in einem Gestell formulieren das Thema eines zeitgenössischen Markenkults und Warenfetischismus; inhaltlich gesehen sucht Andreas Gursky nach Universalien, nach universalen Zeichen. Er sucht im Heutigen, Besonderen, Zeitgenössischen nach allgemeinen, immer wiederkehrenden Zeichen von Regeln und Strukturen des Zusammenlebens, Produzierens und Ordnens der Welt. Er sucht im Konkreten die „Natur der Dinge“, wie er selbst einmal gesagt hat.

Diese Gegensätze scheinen unauflösliche Paradoxe zu sein, doch die sie bauen je das Spannungsfeld auf, in dem sich die Betrachter vor und in seinen grossen Bildern bewegen, hin- und herbewegt vom konkreten Detail zur Ahnung einer allgemeinen Regel, vom Mikrokosmos zur Makrostruktur, vom Bedeutung Erkennen und gleich wieder Verlieren – schliesslich auch sich selbst darin verlieren, weil der Standpunkt der Betrachter sich auflöst, nicht mehr gesichert ist. Verschiedene Welt-Ordnungen, Wirklichkeits-Regeln werden gezeigt: manchmal gespiegelt am ‚leeren‘, ruhigen, klärenden, 'absoluten' Himmel – das Landschaftsbild im kleinen Raum dahinten - oder dann sind wir mittendrin, im Knoten, in der Fülle der (Bild-)Realität, ohne Horizont, ohne Ausweg, Beispiel dafür sind die Rave-Bilder, die Hotelarchitekturen und die Börsenbilder.

Andreas Gursky formiert mit seinen einzelnen Bildern zusammen ein Tableau der neunziger Jahre, des zeitgenössischen Produzierens, Handelns, Verwertens und Verhaltens. Findet er draussen in der Welt auch nach längerem Suchen nicht den geeigneten Schauplatz, der den Geruch des Heutigen ausstrahlt, den Gehalt des Heutigen fasst, dann greift er digital ein, bearbeitet die Bilder, so lange, bis sie seiner Idee von der Welt heute entsprechen. Das Nike-Adidas-Reebock-Bild ist dafür Beispiel, oder das Prada-Bild, in dem die Sommer- und die Winterkollektion auf dem gleichen Gestell dargeboten werden, oder die schwindelerregenden Strukturen in den beiden Hotelarchitekturen. Beim „Rhein“ da drüben hat er gar eine Fabrik digital wegretuschiert, weil sie zu stark nach 19. Jahrhundert, nach Industrialisierung „roch“. Der digitale Eingriff ist dabei nicht Thema, wie bei anderen Künstlern, sondern Mittel zum Zweck, um das gewünschte Ziel, ein Bild von und für heute zu schaffen, erreichen zu können. Es wird nicht, wie in der hergebrachten Vorstellung der Fotografie, die Wahrheit von der Welt wiedergegeben, sondern Wahrheiten über die Welt visualisiert.

Andreas Gursky wirkt wie ein Zivilisationsmaler, wie die zeitgenössische Form der einstigen Historienmaler, der Zivilisationsfotograf Gursky bleibt dabei aber unromantisch-kühl analysierend. Trotz einem Hang zu universalem Denken, einem Bestreben, allgemeine, auch wiederkehrende Regeln und Strukturen zu formulieren, zeigen die Bilder primär, sie lösen nicht auf, bieten nicht Sinnfälliges als Bedeutung an, lassen uns, die Betrachter, diese Welten frei erkunden. Andreas Gursky ist immer, zuerst und zuletzt, um eine hohe, aussergewöhnliche Präsenz seiner fotografischen Bilder bemüht, er ist in erster Linie ein aussergewöhnlicher Bildermacher – trotz all der erwähnten Inhaltlichkeit. Lassen Sie sich davon verführen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.