2003

Ordnung und Chaos

English Version: Order and Chaos →
<p>Installation: Marianne Müller</p>

Installation: Marianne Müller

Gegenwärtig erleben wir einen ‹Degré Zéro›, nähern uns gleichzeitig mehreren Nullpunkte. Es dauerte eine Weile, bis die grossen Utopien des 19. und 20. Jahrhunderts grundsätzlich in Frage gestellt wurden und an kläglichen Realisie­rungen, schrecklichen Kriegen und dem Versprechen auf einen Siegeszug des Individuums zu scheitern begannen. Umso schneller geht nun der Ausverkauf damit verbundener Werte – des Berufs als Berufung, der Familie als tragender Kleingruppe, des Gemeinsinns als konstituierender Moral, des Ortes als Ortung – und damit der Ausverkauf von Teilen der religiösen und zivilen Ethik und Moral vonstatten. Mitten in Gemeinschaften, die sich auflösen, mitten in der Mobilisierung, Globalisierung des Lebens, der Pulverisierung der Substanz zugunsten der Erscheinung, der Inhalte zugunsten der Zeichen, der Seele zugunsten des richtigen ‹Brands›, mitten auch in den merkwürdigen Versuchen, neue imperiale Weltordnungen zu etablieren, stehen wir vor einem individuellen und gesellschaftlichen Identitäts­scherbenhaufen, den selbst Kleider, Clubs, Sex, Ferien, Autos, Coolness – all jene käuflichen Waren und Identitäten also – nur kurzfristig farbig beleuchten kön­nen. Und doch scheinen diese Waren gegenwärtig das einzig verbindende, tragende gesellschaftliche Angebot zu sein: Wir dürfen – und wir müssen – konsumieren. Konsum als Recht und als Pflicht, als neue Gesetzestafel, «als erste Bürgerpflicht», wie es Boris Groys in ‹Lettre 62› (2003) zuspitzt: «Wir konsumieren nicht nur Waren, wir werden selber auch zu Waren … Wir müssen uns der Gesellschaft als optimale Konsumenten präsentieren.»

In dieser Parallelität von Konsumfülle und Konsumpflicht einerseits und inhaltlicher Leere andererseits stellt sich eindringlich und scharf die Frage nach der Identität, nach dem inneren und äusseren Halt, nach der Ordnung, nach Denk- und Lebenskoordinaten. Nicht alle begreifen und leben die Gegenwart als Party-Time, nicht alle unterwerfen ihre Existenzfragen dem Zynismus. Das Aufblühen von fundamentalistischem Gedankengut in vielen Gesellschaften ist ein alarmierendes Zeichen dafür. Wir werden aus angestammten Ordnungen in eine offene Welt entlassen – einiges davon empfinden wir freudig als neue Freiheit, anderes erleben wir ängstlich als Verlust, Zwang, Auflösung ins Chaos hinein. Neue Bojen der Orientierung und neue, vernünftige und tragende Plattformen sind – ausserhalb der umfassenden Apotheose des Konsums – kaum in Sicht. Erneut stellen sich die einfachen, essentiellen Fragen: Wer sind wir? Wo sind wir? Was tun wir? Weshalb tun wir es? In welchem Kontext stehen wir? – Diese Fragen stellen wir am liebsten in der Wir-Form, damit wir bei der Suche nicht so allein sind.

Die Arbeiten der in ‹Ordnung und Chaos› vertretenen Künstler und Künstlerinnen beschäfti­gen sich in unterschied­lichster Form mit dieser Situation. Sie konfrontieren uns mit dem Schrecken der Naturkräfte und dem Einbruch von Gewalt und thematisieren deren Darstellung. Sie lassen Verstandes- und Gefühlswelten aneinander reiben. Sie widmen sich verschiedenen Formen der Selbstver­gewisserung, thematisieren die Suche nach Ordnungen, nach Koordinaten, nach Kategorien, nach Halt in der ständigen Bewegung. Sie tun dies in unterschiedlichsten Bildformen, in konkreter oder abstrakter, in dokumentierender oder inszenierender Weise. Und sie tun es auffallend ruhig, konzentriert und spekulationsfrei.

 

Sophy Rickett (geboren 1970, lebt in London) thematisiert das Wahrnehmen, hinterfragt die Möglichkeiten des Sehens und Verstehens der Welt. Sie unternimmt ihre visuelle Recherche in Landschaftsbildern, die in ihrer auffallenden Reduktion – farblich auf Dunkel und Hell, Schwarz und Licht, formal auf Vordergrund und Hintergrund, Bäume und Himmel – karg und abstrakt wirken. In ihrer Transformation ins Künstliche lesen sich Sophy Ricketts Werke wie kleine visuelle Lehrstücke.

In ‹Cypress Screen›, einer dreiteiligen, panoramatischen Arbeit trennt eine Reihe von Zypressen die Landschaft in ein Davor und Dahinter. Wie ein Vorhang verbergen die Bäume nachtschwarz, was sich hinter ihnen abspielen vermag. Wir als Betrachter sind getrennt von diesem möglichen Geschehen, von diesem Licht, stehen auf der Schattenseite der Szene. In ‹Playing Fields›, einer weiteren Arbeit, zieht sich die Szenerie über vier Bilder hin: von Torstangen, die sich weiss und geometrisch aus tiefem, ungeordnetem Dunkel schälen, bis hin zu schwarzen Baumkronen, die ein starkes Licht dahinter durchscheinen lassen. Ähnlich wie im theatralisch wirkenden, nachtgrünen und ebenfalls vierteiligen Werk ‹Via di Bravetta Part I› suggeriert hier die Abfolge von vier Fotografien ein Panorama. Doch ist es ein falsches Panorama: der Blickwinkel ändert sich von Bild zu Bild ein wenig, so als folgten wir einem filmischen Travelling, als sässen wir auf einem sich bewegenden Kamerastuhl. Das Bild, das dabei entsteht, entwickelt sich wie eine Welle, die sich bedrohlich vor unseren Augen aufbaut. ‹Dead Tree› schliesslich zeigt ein feingliedriges, zerbrechliches Bäumchen, von einem Stecken gehalten, gestützt, das sich im Bild wie eine Rute horizontal vor schwarzem Grund entlang zieht. Kein Blatt ist zu sehen, nur kahle Ästchen. Ein Lehrstück, so scheint es, über die Differenz von Wollen und Können, der prekären Balance zwischen der Machbarkeit von Welt und dem Lauf der Welt, der Natur.

Sophy Ricketts Arbeiten kreisen um die Möglichkeiten der Wahrnehmung (die Vielfältigkeit der Perspektiven, die sich wie Kondensstreifen im Raum kreuzen) und um die Möglichkeit, die Welt willentlich zu gestalten. Nachtdunkle Farben dominieren über kleine Lichtstreifen, über Andeutungen von Licht als Erkenntnis, und wie ein metaphysisch dunkles All legt sich Schwarz vor unsere Augen. Erkenntnis, so lesen sich ihre Bilder, ist schwer zugänglich, entzieht sich uns, ist immer nur die Spitze eines Eisbergs; der Standpunkt des Betrachters ist in Bewegung – der Rest ist (platonischer) Schatten.

 

Marjaana Kella (geboren 1961, lebt in Helsinki) führt uns mittels Porträts – in einem Raum vor grauem Hintergrund fotografiert – an Grenzsituationen heran, Porträts von hypnotisierten Menschen. Wir sehen sie in verschiedenen Zuständen, merkwürdig bekümmert, merkwürdig lachend, merkwürdig sinnierend oder schwer atmend, angespannt. Wir sehen diese Menschen, aber wir sehen nicht in sie hinein, wissen nicht, was in ihnen vorgeht. Eine Zone der Sichtbarkeit und eine zweite der Unsichtbarkeit bauen sich als Gegensätze auf: geteilte Welt. Die Hypnose hat die Menschen aus der von Reizen überfluteten Bewusstheit herausgeholt, hat sie in Trance versetzt, so dass sie nicht mehr verstandesgeleitet handeln, sondern selbsttätig innerlich erleben, geleitet von jemandem (dem Hypnotiseur), der sie durch Gefühle und Gedanken führt. Sie folgen «einer Sache», einer Linie, die sie umso stärker von der Aussenwelt entfernt, je mehr sie in die Hypnose eintauchen. Sie befinden sich in einem Grenzzustand, befinden sich, von aussen betrachtet, «neben der Rolle», stossen in andere Zonen, Logiken, Zeitbereiche vor. Unser Jetzt ist nicht ihr Jetzt, sie sind ausserhalb unseres Bezugssystems, in einer anderen Welt. Damit scheint der Wachzustand nur eines der möglichen Ordnungssysteme zu sein, nur eine von vielen Facetten des Daseins.

 

Sonja Braas (geboren 1968, Siegen (D), lebt in New York) setzt uns dem Tosen der ‹Natur› aus. Die Mehrheit ihrer Bilder aus ‹Forces› zeigt wilde Naturschauspiele, mit Wasser, Schnee, Steinen. Alles scheint in Bewegung zu sein oder aber erstarrt, erfroren, mit Eis und Schnee überzogen. Wir sehen keinen Horizont: Unser Blick fällt direkt in die (Ausnahme-)Zustände hinein, ohne dass wir wissen, wo, wann, wie uns geschieht, ohne einen Ruhepunkte zu finden. Wir scheinen dieser ‹Natur› ausweglos ausgeliefert zu sein, wobei Sonja Braas ein Repräsentations-Spiel mit uns spielt: Es bleibt unklar, welches Bild in der Welt draussen, in der wirklichen Natur aufgenommen wurde und welches konstruiert ist, welche ‹Natur› im Studio generiert wurde. Sonja Braas stellt die beiden ‹Naturen› unverfroren nebeneinander, setzt damit nicht nur die Natur, sondern auch deren Bild, die Vorstellung von Natur in Bewegung. Erosion im Bild und vor dem Bild. Dieser Vorgang schafft mehrfach beunruhigende Momente. Je feiner die Unterschiede zwischen Natur und ‹Natur› ausfallen, desto ähnlicher ist das Gefühl beim Betrachten der unterschiedlichen Wirklichkeiten. Wir sind mitten in gewaltigen Naturmächten drin, im Nebel, in der Gischt, im Undurchdringlichen. Mit kleinen Ausnahmen spielen die Bilder jedoch nicht das Spiel der deutschen Romantik, wo die Seele sich dehnt und melancholisch an der Zerrissenheit, der Entfernung vom grossen Ganzen leidet. Vielmehr sind wir bei Sonja Braas Ausgelieferte, mit dem Floss mitten auf dem Ozean eines Géricault, in einer tobenden, tosenden, reissenden See, den Kräften, Mächten, Erosionen, dem Einbruch der „Natur“ ausgesetzt.

 

Marianne Müller (geboren 1966, lebt in Zürich) hat Tauben in Brooklyn fotografiert. Schwärme von Tauben, eine, mehrere Populationen, die hochschiessen, wegkurven, starten und landen. ‹The Flock› heisst die vielteilige Arbeit, der Schwarm. Dieser Vogelschwarm scheint wie die Stukas im 2. Weltkrieg herunterzustechen, in Formation anzugreifen, zieht Schleifen am Himmel, schliesst sich zusammen, öffnet und verteilt sich wieder, wie ein atmendes Kissen, das sich zerknäult und plötzlich wieder öffnet, als sei die Hülle zerschnitten und die schwarzen Vogelfedern am Himmel verstreut worden. Wir sehen die Tauben auf einem Flachdach landen und sich ineinander verkeilen, in einem grossen Durcheinander, in wildem Chaos. Die Formation wird plötzlich schiere Menge, Masse von Vögeln. Dann ein Einzeltier, das Porträt einer Taube, fast ein wenig majestätisch, dann noch eines, abgewandt im Gegenlicht. Wir sehen von Kot verdreckt Taubenschläge, ein Taubenei, einen Mann, der eine Taube in der Hand hält, wir folgen Spuren auf dem Dach, Spuren der Nässe, Schlieren. Im Laufe der Zeit begreifen wir, dass der Angelpunkt der Arbeit ein Zwischenboden zwischen Strasse und Himmel ist, ein Hausdach, auf dem Taubenschläge stehen, ein Mann, der sich um sie kümmert, in Brooklyn, New York. Doch diese Verortung ist nicht zentral, das Werk selbst zeigt sie eher nebenbei. Stattdessen ist in dieser dokumentarischen Arbeit eine Verallgemeinerung angelegt: Die Tauben lassen sich als Stellvertreter, das gesamte vielteilige Werk als Allegorie lesen. Eine Allegorie des gesellschaftlichen Verhaltens, darin das Gefühl der grossen schwebenden Freiheit am Himmel, der Losgelöstheit, aber auch das erdige Gerangel um Futter, die Eitelkeit. Formation und Aggression, Ordnung und Chaos. Zumindest: Verständliche und unverständliche, chaotisch anmutende Ordnung. Denn Ordnung und Chaos sind immer auch eine Frage der Perspektive, der Nähe oder Distanz.

 

          Janaina Tschäpe (geboren 1973 in Dachau (D), lebt in New York) reist durch die Welt, manchmal an bedeutsame Orte, wie etwa nach Weimar zum Goethe-Haus. Meist jedoch sind es alltägliche Orte: Passagen, Autobahnen, Treppenhäuser, Wohnräume, Wiesen. Dort legt sie sich mit dem Bauch auf den Boden, auf die Wiese, die Erde, den Teppich, den Marmor, den Beton, legt sich auf die unterschiedlichsten Untergrundmaterialien, nimmt körperlich Kontakt auf, berührt sie. Mal ist ihr Körper eingebettet, mal liegt er obendrauf, mal scheint er hingeschoben. Er wirkt dabei nicht im eigentlichen Sinne lebendig, sondern vielmehr so, als spiele jemand ‹Toter Mann›: hingelegt, leblos. Meist so, dass wir nichts anderes vermuten als das, was wir sehen; manchmal aber auch so, dass die Figur Janaina Tschäpes wie ein Teil einer Erzählung wirkt und darin erledigt, niedergeschlagen, vergewaltigt oder tot zu sein scheint. Sie nennt ihre Arbeit ‹One Hundred Little Deaths›. Hundert Fotografien, hundert ‹kleine Tode›, die alle von einer Begegnung zeugen. Den ‹kleinen Tod› erfährt nur, wer sich hingeben kann, wer sich in der Vereinigung verlieren kann. Es geht in dieser Arbeit um Punkte der Berührung, Augenblicke der Übereinstimmung, um das Da-Gewesen-Sein im wirklichen Sinne: berührt, erfahren, gespürt. Das Werk von Janaina Tschäpe liest sich als Ausweg, als Gegenläufer zum Verlust des Ortes, zur totalen Mediatisierung. Die Künstlerin ist real, körperlich unterwegs in der Welt, um sie zu erfahren, zu spüren, um für einen Augenblick lang mit ihren vielen Orten eins zu sein. Es ist nicht die Zeichenwelt, die Halt gibt, Leben und Erfahrung verleiht, sondern die Berührung, das Da-Sein, Dort-Sein, Hier-Sein.

 

Inés Lombardi (geboren 1958 in São Paulo (Brasilien), lebt in Wien) reist auf dem Schiff von der Rheinmündung zum Donaudelta. Es ist eine lange und langsame Reise, die sie von West- nach Osteuropa, von der EU in den Balkan führt, die an alte Handelswege in einem Netz von Wasserstrassen erinnert, das bis vor wenige Dekaden den industriellen Handel in Europa erst ermöglichte. Auf der Reise fällt ihr Blick direkt ins Wasser, zeigt dessen Bewegungen – ruhendes, träges, sanft bewegtes oder strudelndes, schäumendes Wasser –, stellt dabei Energiezustände dar oder sucht das Ufer ab, scannt es während der Fahrt ab. Dann weitet sich der Blick, orientiert sich am Flussrand, der sich als Horizontlinie durch die Videos und die rhythmisierten, montierten Tableaus zieht. Bilder wechseln von abstrahierender Nahsicht auf die Totale. Die ‹Welt› bewegt sich wie ein Bilderbuch an uns vorbei – Landstriche, Dörfer, Industrien, weit entfernt, entrückt fast – und erzeugt ein Gefühl der Ruhe, gleichzeitig der Leere, der Melancholie. Die Gliederung des einzelnen Werks in ein oder zwei grosse Bilder und drei unterlegte, kleinere Bilder verdoppelt den Blick, verdoppelt Nah- und Fernsicht, unterstreicht das Fliessen, die Abfolge und das Herausgreifen der Einzelaufnahmen aus dem Fluss. In diesen auffallend ruhigen, atmenden Bildern formen das sehende Gestalten, das gestaltende Sehen, das Einzelbild und dessen Anordnung eine grosse Einheit – eine Repräsentation von Räumlichkeit, von Geografie und von Zeit, vom Fliessen, vom Kommen und Gehen. Die Arbeit von Inés Lombardi stellt das Hineingehen in den Raum, das Sich-Einlassen auf die Zeit in einen Kontrast zur Eliminierung des Raums, zur Eroberung und In-Besitz-Nahme der Zeit in der heutigen Welt. Die Gefühle der Leere, der Konzentration, der Ausschliesslichkeit reiben sich an der Fülle, der Verfügbarkeit, der Distraktion in unserer Waren- und Medienzeit. Ein gelassenes, unaufdringliches visuelles Plädoyer für Zeit und Raum als lebendiges, lebbares Ordnungsprinzip.

 

Juha Nenonen (geboren 1967, lebt in Helsinki) thematisiert das Kategorisieren, Systematisieren, Normieren, Klassifizieren und Idealisieren: In der Fotografie mit Büchergestell und gelb gebundenen Bänden (sie enthalten alle Namen von Finnen, die 1964 für die Finnische Kulturstiftung gespendet haben), eingepasst in einen Türrahmen, beschienen vom Licht einer Kugellampe; aber auch in den drei Bildern der Sonne als Zentrum des Lichts – und als Gipfel der Erkenntnis –, der Armbanduhr als Verweis auf die Zeit und der Frau mit dem strahlenden Blick, der Idealisierung einer Frau, mit blauen Augen, grossen Lippen und blonden Haaren. Es ist augenscheinlich, dass das Bild des Büchergestells die Symmetrie und die damit verbunden Aufladung des Inhalts in bejahender, positiver Form vornimmt, genauso wie das Licht der Sonne selbstverständlich ins Zentrum des Bildes gesetzt wird. Hier wird Akzeptanz und Respekt spürbar, obgleich das Licht die Sonne verdeckt und nichts zeigt als sich selbst, obgleich die eindrucksvolle Reihe gelber Bände und die Kugellampe sich scheinbar duellieren. In den anderen Bildern hingegen sind Brüche deutlicher angelegt: Die idealisierte blonde Frau ist in Wirklichkeit blondiert, Sonnenblumen wenden sich vom Licht ab, sind verblüht und welken in Vasen dahin, ein Arm schält sich leichenblass aus nächtlicher Dunkelheit um zwanzig vor eins. Vielleicht ein Schlüsselwerk in dieser Reihe ist das grosse Bild ‹Untitled (Systematic Departement I)›: Aufgenommen im botanischen Garten der Universität in Helsinki, in einem Bereich, der ‹Systemaattinen Osasto›

(Systematischer Bereich) heisst, führt es eine künstlich angelegte, geordnete, gepflegte, normierte, systematisierte ‹Natur› als Landschaftsbild vor. Durchbrochen wird die Systematisierung durch ‹das Leben›, durch das Spiel der Kinder. In seinen Bildern konfrontiert Juha Nenonen das Modell mit dem Unverhofften, das Ideal mit dem Vergehen, den Begriff mit dem Leben und baut eine Spannung zwischen diesen Polen auf, ohne sie aufzulösen, ohne sich für das eine oder andere zu entscheiden.

 

Nanna Hänninen (geboren 1973, lebt in Helsinki) bewegt sich gleichsam von diesem ‹Nenonenschen Garten› nach drinnen, von der vielfältigen, überreizten Aussenwelt in die ruhige, sparsame Innenwelt, in die Gedankenwelt und baut minimale, reduzierte, karge Situationen auf: einen Stapel Papierblätter, geordnet, auf hölzerner Unterlage; weisse Klebpunkte auf gelblicher Unterlage, im Mittelgrund scharf abgebildet, in den übrigen Bildbereichen verschwimmend, unscharf, wobei die Kreisflächen ‹ausufern› und ihre Form verlieren; Zahnstocher, aneinandergefügt und zu zwei Bändern ausgerollt, spitz wie ein Staketenzaun; zwölf weisse Schachteln, gestapelt zu einem Block von drei mal vier Schachteln; Asche auf Papier, über alle Papiere verstreut oder mit ausgesparter, leerer Negativform in Ordnung und Chaos unterteilt. Ihre Werktitel – ‹Fear and Security›, ‹Keep under Control›, ‹Information Failure› – bekräftigen, dass diese bühnenbildhaften, kleintheatralen Szenen Gedankenbilder, visuelle Aphorismen, emblematische Abstraktionen sind. Sie repräsentieren Gedanken zur Welt, ‹sprechen› von Spannungen, von Gegensätzen, von Überlastung, von Fehlerquellen. In ihrem Buch ‹Fear and Security› äussert sich Nanna Hänninnen über diese Spannung: «Instead of order, I started to see chaos in things. I have been trying to catch the idea of society which is filing, sorting and systemizing things to be more secure and organized. I see a great paradox because setting up security measures you cause insecurity of something unkown .... this series (Fear and Security) is about the fear of losing control.» Die Angst, die Kontrolle zu verlieren, die Angst, dass die Dinge uns entgleiten, sich gegen uns wenden: derartige Zustände thematisiert Nanne Hänninen in konzentrierten, fast rein weissen Bildern, die sowohl Unschuld wie auch Unendlichkeit suggerieren.

 

Die alten Ordnungen der Welt zerfallen – welche neuen werden entstehen? Der Sinn vieler Werte geht verloren – worin findet er seine neue Form? Die greifbare, materielle Welt wird überformt von einem Himmel immaterieller Zeichen – wo in diesem Himmel platzieren wir unsere Gefühle? Das Verstehen der Welt entzieht sich zunehmend der Sichtbarkeit, was wir sehen ist nicht das, was es ist und bedeutet – wie werden wir uns ohne die gewohnte Visualität erinnern können? Die Natur nähert sich kritischen Grenzwerten – was, wenn sie sie überschreitet und zur ‹reinen›, zur unkontrollierbaren Natur wird? Die Ideologie des Konsums überschwemmt die Welt – werden wir daran ersticken, ihr alles opfern?

 

Diese und eine Reihe weiterer Fragen werden durch die Werke in diesem Buch und in der Ausstellung aufgeworfen, angesprochen, in visuell präzise Formen gefasst und uns als Dokumentation der Welt oder als Setzung von Welt präsentiert. Dass diese Setzungen vor allem Werke von Frauen zeigen, ergab sich durch die Recherche: Das Feld der Sinnfindung, der Ordnungsbefragung, das Feld von Ort und Zeit und Existenz und deren Visualisierung scheint von Frauen eindringlich und klar besetzt. Ein weiteres Thema, das die Ausstellung aufwirft.