März 2012  /  Du 824

Pappardelle und Passwang

<p>Cédric Eisenring: <em>Palm Tree</em>, Barcelona, 2010, HD-Video (2 min 56 sec)</p>

Cédric Eisenring: Palm Tree, Barcelona, 2010, HD-Video (2 min 56 sec)

<p>Cédric Eisenring: <em>Moonshine</em>, 2011, HD-Video (1 min 36 sec)</p>

Cédric Eisenring: Moonshine, 2011, HD-Video (1 min 36 sec)

<p>Cédric Eisenring: <em>Magnolien</em>, 2011, HD-Video (1 min 12 sec)<br />Alle drei Werke in Zusammenarbeit mit Thomas Julier.</p>

Cédric Eisenring: Magnolien, 2011, HD-Video (1 min 12 sec)
Alle drei Werke in Zusammenarbeit mit Thomas Julier.

Die Grand Tour war einst als krönender Abschluss der Erziehung eines Adeligen oder eines gehobenen Bürgersohnes gedacht. Vornehmlich den schönen Künsten, der Poesie und Malerei, zugewandte Jungsprosse brachen in Richtung Süden auf,  ritten und kutschten nach Italien, nach Venedig, Florenz, Rom und Neapel, einige sogar bis ins Heilige Land. Die Engländer erhofften sich von diesen Reisen auch Genesung vom misslichen Wetter (von erotischen Aventüren und Heiratsabsichten ganz zu schweigen), Goethe hingegen unternahm seine italienische Reise gereift aus einer persönlichen Krise heraus. 

So glitzernd ist meine persönliche Grand Tour nicht, dafür wiederholt sie sich Jahr für Jahr. Sie führt zwischen Weihnachten und Neujahr von Zürich nach Luzern, dann über Aarau nach Bern und schliesslich nach Basel. In Anfällen von Wahn auch mal zusätzlich über Biel nach Basel. Alles an einem Tag. Um neun Uhr ist jeweils Abfahrt – alleine, aber lieber zu zweit oder zu dritt –, um 10 Uhr im Kunstmuseum Luzern, 12 Uhr im Kunsthaus Aarau, dann öde Geradeausfahrt über Kriegstetten in die Kunsthalle Bern (Ankunft um 14 Uhr) und schliesslich um 16 bis 18 Uhr Uhr im Kunsthaus Baselland und in der Kunsthalle Basel.  Danach die leckeren Papardelle in sugo di Manzo im gleichen Haus um die Ecke. 

Eine Grand Tour zuhause also. Nicht in die Fremde, die Antike, das Exotische, sondern Ethnografie vor der Haustür. Ein Jahresend-Kriterium  durch die Schweizer Kunst, entlang der Jahresausstellungen, die in vielen Schweizer Städten mit grosser Regelmässigkeit stattfinden. Die Romandie kennt diese Tradition weit weniger, die Stadt Zürich hadert seit Jahren mit dem Prozedere. Luzern, Aarau, Bern, Baselland, Baselstadt als eine Art Umfrage, was denn die Künstler und Künstlerinnen in der Schweiz so treiben, wenn für einmal nicht die Krem oben abgeschöpft, sondern ein zwar ausgehandelter, dennoch statistisch anmutender Mittelwert ins Rampenlicht rückt. Kein guter Jahrgang, dieses Mal.

Bei genauerem Hinsehen sind die Abweichungen vom jährlichen Gesamtbild nicht so markant, aber ein Haus, das bisher immer Garant für Qualität war, fiel diesmal ab. Doch alles der Reihe nach: Luzern ist nie wirklich aufregend an Weihnachten, aber auch nicht schlecht. Man ärgert sich im Vorfeld über Jean Nouvel, den Architekten, schlendert dann durch 37 Werkgruppen, die aus 209 Einsendungen ausgewählt worden sind. Ein solider Start, wenn wir auch nicht oft wirklich anhalten.  Mit dem überheblichen Glauben, Qualität oder Intrigierendes von weitem zu erkennen, schlendern wir durch und diskutieren fast nur über Lukas Hoffmanns Fotografieraum und Susanne Hofers Video-Skulptur. Hoffmanns gleichmütige Fotografien von gleichmütigen, nicht als wichtig erachteten Banallandschaften draussen in der Natur, im industriellen Hinterhof oder im Vorgarten der Städte entwickeln einen merkwürdigen Sog. Susanne Hofers Sommerhaus konfrontiert auf gelungene Weise die Sehnsucht des Sommers mit der harten Realität des realen Zerfalls, konfrontiert zwei Zeitrechnungen in einer minimalen Kombination von Spannplatten und Projektion miteinander.

Ja, Aarau ist in der Regel jeweils eine erste Steigerung gewesen. Doch dieses Jahr ist alles anders: Weder die Arbeiten noch die Installation der Ausstellung überzeugten. Viel langweilige figurative Malerei, viele kleinteilig aneinander gereihte Positionen vergällen die Wahrnehmung. 69 Künstler und Künstlerinnen stellten dieses Jahr aus. Ein Drittel weniger hätte der Ausstellung wohl gut getan, unklar bleibt aber, ob die Qualität der Einreichungen für den gewonnen Platz gewinnbringend genutzt hätte. Wie Anton Egloff in Luzern, so war auch hier mit Stefan Gritsch ein Altmeister eher unauffällig, aber dennoch überzeugend am Werk. Richtig aufgeschreckt bin ich aber erst bei der monumentalen Palme von Cédric Eisenring, eine Palme, die vom im Mondschein reflektierenden Wellenschlag, dann vom stolzen Windrad moderner Stromerzeugung und schliesslich vom Blick durch einen Magnolienbaum ins Himmelhellblau abgelöst wurde. Die total fünf Videobilder, die alle fast «standen», fast stills waren, so wenig bewegten sich die Szenerien, überzeugten in der Einfachheit, der Präsenz und dem feinen Zeitriss zum Nachdenken.

Ein Sorry nach Bern: ich mag die Räume der Kunsthalle Bern ungemein. Warme Ausstrahlung, Tageslicht, knarrende Parkettböden, tolle Oberlichter. Auch eine gut installierte Ausstellung. Aber wenige Arbeiten, die mich reizen, darüber zu schreiben. Ein Sorry auch in Richtung St. Jakobstadion, zum Kunsthaus Baselland gleich nebenan: Hier bin ich doch eher gelangweilt durchmarschiert. Die Skulpturen von Boris Repetez waren gut, doch zu klein, um diese Auswahl zu retten. Die Kunsthalle Basel hingegen erfüllte ihre Pflicht als jährlicher Höhepunkt. Die Ausstellung mit zweimal sechs Künstlern aus Basel stellte KünstlerInnen, die Jean-Christophe Ammann in den achtziger Jahren zeigte, zeitgenössischen KünstlerInnen gegenüber. Der Zugriff auf die achtziger Jahre mit Alex Silber, Anselm Stalder, Miriam Cahn, Vivian Suter ist kunsthistorisch interessant, richtig begeistert haben mich darin vor allem die Vitrinen voller fragiler, verquerer Kleinstskulpturen aus Büro- und Abfallmaterialien der früh verstorbenen Fotokünstlerin Hannah Villiger. Das Obergeschoss «riecht» anfänglich wie gewohnt nach einer Adam-Szymczyk-Totalreduktion. Angebot ein Stück Käse und eine Scheibe Brot und viel zu denken. Doch Esmé Valks Showcasing today’s Essentials als skulpturaler Installation von Materialien und Formen wirkte wie eine reiche Gesamtausstellung für sich. 

Danach dann die Papardelle im Restaurant der Kunsthalle. Wirklich guter Sugo, und noch wichtiger: breite und sehr dünne Nudeln, also Nudeln, die wegen der Breite nicht auch dick werden. Das und die verlorene Leere auf dem verschneiten Passwang, der Graupelschneeregen bei Zofingen, die aufbrechende Wolkendecke und das urplötzlich gleissende, blendende Sonnenlicht auf der Fahrt Richtung Bern überstrahlte um Vieles den Mittelwert der Schweizer Kunstproduktion. Aber nächstes Jahr folgt sie wieder, die Grand Tour durch die Schweiz – alleine, zu zweit oder zu dritt.