April 2011  /  Du 815

Paul Graham – A Shimmer of Possibility

<p>Paul Graham: <em>Pittsburgh 2004</em>, aus <em>A Shimmer of Possibility</em> (2007)</p>

Paul Graham: Pittsburgh 2004, aus A Shimmer of Possibility (2007)

«Ich wollte Bilder von diesem farblos grauen Versprechen der Konsumgesellschaft machen, dem Sturm zum Markt, der alles dominiert. Entweder wir akzeptieren seine Umklammerung, oder wir werden an den Rand gespült.» Paul Graham spricht hier über «New Europe», seine Arbeit über Europa nach der grossen Wende von 1989, eine 45-teilige Werkgruppe, die die Kommerzialisierung des Lebens in den achtziger Jahren reflektiert, dieses «Kalifornische Versprechen» (Georg Steiner) einer unendlichen, kapitalisierten Leichtigkeit des Seins, das vorgab, uns alle von der Geschichte freistellen und jedem Individuum ein Füllhorn an persönlichen Möglichkeiten bieten zu können. Graham begegnete diesem konsumtiven Strom mit Bildern, die den Umgang mit Alltag und Geschichte um 1990 visualisieren, durchsetzt von Menschenbildern, in denen sich Isolierung, Gleichgültig- und Einsamwerden und die Kommerzialisierung von Sex und Freundschaft manifestieren. Er rollte in der Eröffnungsausstellung des Fotomuseum Winterthur (Januar 1993) mit «New Europe» eine Topographie zeitgenössischer Befindlichkeiten aus, eine soziale und psychische Landschaft, ein Mischkulisse aus schreiendbunter Alltäglichkeit, quälender Isoliertheit, die uns Betrachter, eingehüllt vom Gelächter entleerter Perspektiven erschaudern liess. 

«Entweder wir akzeptieren die Umschlingung der Konsumgesellschaft oder wir werden an den Rand gespült»: Diese wenig erbauliche Feststellung wird zum Leitmotiv vieler Arbeiten von Paul Graham, von «Beyond Caring» (1985) zu «New Europe» (1993), «American Night» (2003) und « A Shimmer of Possibility» (2007). Sie liest sich zu Recht wie eine Art Glaubenssatz seines Schaffens. Obwohl das visuelle Interesse an den existenziellen Folgen gesellschaftlicher Strukturen eindringlich in seinem Werk sichtbar war, wurde es zu Beginn stark kritisiert. Er, und mit ihm Martin Par und ein paar weitere britische Fotografen, verletzten in den achtziger Jahren ein grosses Tabu sozialdokumentarischer Fotografie. Sozial engagierte, kritische, aufklärerische Fotografie hatte, so das Credo weltweit, besonders aber in England, zwingend schwarzweiss zu sein. Nur schwarzweiss und mit dem schwarzen Negativrand zusammen vergrössert – als Hinweis auf ein unverändertes, unbeschnittenes Bild – galt fotografische Sozialkritik als glaubhaft, wahr, authentisch. Farbfotografie an sich und insbesondere wenn sie in unterschiedlichen, auch grossen Formaten im Museum ausgestellt waren: Das grenzte an ketzerische Eigensinnigkeit, war ein schwerer Tabubruch. Für die fotografische Welt des aufrechten Gangs und Wissens wurde Graham schnell zum Häretiker. Aber auch der Einstieg in die Kunstwelt blieb ihm anfänglich verwehrt. Sein Werk war weder lakonisch, noch sarkastisch oder frivol, vielmehr aufklärerisch, direkt, zumindest symbolisch benennend. Addiert ergab dieser Gegensatz ein mehrfaches No-Go in den künstlerisch frivolen Neunzigerjahren. Mehr als ein Jahrzehnt lang balancierte Paul Grahams Werkrezeption also zwischen Stuhl und Bank. 

Mittlerweile erfährt sein Werk hohe Aufmerksamkeit. Nebst retrospektiven Ausstellungen zeigen Kunstvereine nun explizit auch Arbeiten der achtziger Jahre. «Beyond Caring» etwa wird hervorgeholt und unter neuen Voraussetzungen, neuem Frame – dem Erkenntnisinteresse einer Kunstszene, die sich seit ein paar Jahren zu einem Teil wieder systemischen (wirtschaftlichen, sozialen, kommunikativen) Phänomen unserer Gesellschaft zuwendet – intensiv diskutiert. «Beyond Caring» zeigt in einer Reihe von eindringlichen, tristen Bildern die Schattenseite der Thatcher-Ära. Die Social Security and Unemployment Offices, die britischen Arbeitsämter, sahen sich, einst eingerichtet für die 600‘000 Ärmsten des Landes, plötzlich mit Millionen von Bedürftigen konfrontiert. Ihr immer schon kärglicher Service brach mehr oder weniger zusammen und stiess Heerscharen von in Armut Lebenden an den Rand tiefer Erniedrigung. Paul Graham fotografierte, da er keine Erlaubnis erhielt, mit versteckter Kamera das Leben am unteren Rand der Gesellschaft als endloses, liebloses Warten, als langsam sich einprägender schmerzender Alptraum. Da er nicht durch den Sucher schauen durfte, die Kamera oft auf den Schoss stellte und quasi blind abdrückte, entstand eine Serie von Bildern, die durch ihre Aufnahmemethode eindringlich Nähe und Teilnahme ausdrückte.

2007 veröffentlichte Paul Graham « A Shimmer of Possibility», ein Werk, das mit seinen 12 einzeln in je verschiedenfarbiges Leinen gebundenen Gruppen wie ein Epos erscheint. Ein komplex komponiertes, musikalisch-filmisches Werk, ein Stapel von Situationen, kleinen Sequenzen, die Mikrohandlungen zeigen, ein sich Zurechtfinden, ein einfaches Weitermachen. Einige Bände sind umfangreicher, enthalten bis zu 26 Bilder, ein Band enthält, sehr prägnant, nur ein einziges Bild. Wir öffnen ein Buch, dann das nächste, schliesslich eines nach dem anderen und folgen einer ruhigen, beobachtenden Kamera, die sieht, ohne zu zeigen, die wiedergibt, ohne benennen zu wollen, die – in Anlehnung an Tschechows Novellen, wie Graham selbst sagt – mit ruhigem Atem, ohne Aufregung, ohne je schrill zu werden, Einblicke ins Leben bietet, Bilder einzeln oder in kleinen Kompositionen zur Anschauung, zum Nachdenken vorlegt. Diese Suiten sind in ihrer Mischung aus Einfachheit, Präzision und Gelassenheit etwas vom Eindruckvollsten, was in jüngerer Zeit als Dokumentation, als Darstellung von Wirklichkeit, von Bedingungen des Lebens vorgelegt worden ist. Paul Graham zeigte über die Jahre immer wieder Bilder einer Welt, die schamlos alle Werte verwurstet, den Eigennutz fördert und den Gemeinsinn schwächt, diese Suiten verneinen das nicht, aber sie spielen –  wie ein meditatives Saxophon mitten in einer andauernden Katastrophe – einen «Hauch von Möglichkeit».