2009  /  Pietro Mattioli: Two Thousand Light Years from Home

Pietro Mattiolis nächtliche Archäologie des Alltags
Zehn Gedanken(-blitze) und ein Nachtrag

English Version: Nocturnal Archaelogy of the Everyday →
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→ Baum und Zaun, weich und hart, natürlich und künstlich verschmelzen und gebären das Bild einer Zeit, in der reine Natur kaum mehr vorstellbar, reines Denken kaum erreichbar ist. Sie erzählen stumm und dennoch eindrücklich von der Ambivalenz als neuer Grundlage in der Welt. Nicht mehr hier oder dort, gestern oder morgen, gerade oder krumm, sondern die Additionen der Seiten, Parteien, Gedanken, Zeiten ergeben neues Spriessen und Wuchern. Gehört die Zukunft tatsächlich dem Bastarden? Weil es sich zu arrangieren weiss? Weil es nicht auf Absolutem beharrt? Weil es These und Antithese verschmilzt? Weil so ein fruchtbares Gewebe von Natur und Kultur entsteht?

→ Staketenzäune aus Metall haben vor nicht langer Zeit die Hinterhöfe halbiert, geviertelt oder mehrteilig zerschnitten. Jedes Haus hatte seinen eigenen, genau begrenzten Hinterhof, in dem Teppiche geklopft, Wäsche getrocknet und im Frühjahr Matratzen und Bettwäsche ausgelüftet wurden. Scharf, fast gehässig abgegrenzt vom Nachbarhaus, in dessen Garten der exakt gleiche Alltag gelebt wurde. Alle Buben haben sich an diesem „Haag“-Labyrinth regelmässig die Hosen aufgerissen und die Schuhsohlen angestochen. An diesem Zaun hier frisst sich der Rost durch die jahrelang aufgetragenen Farbschichten. Der Boden hat sich abgesenkt, der Zaun hat seinen „Grund“, seine Funktion verloren. Er schwebt, fast haltlos, wie es scheint, über dem Boden; Farbschichten erzählen von Pflege und Sorge gegenüber Witterung und Zeit.

→ Ein auffallend symmetrisches und kompaktes Bild: Nachtschwarz mit wenigen Farbtupfern im Hintergrund, davor eine im Querschnitt T-förmige Eisenstange, die sich als Mittelachse durchs Bild zieht. Bildobjekt und Bildfläche fallen hier zusammen, werden beinahe verankert, miteinander verschweisst. Die dunklen runden Löcher in der Eisenstange sind auch die Knopflöcher des Bildes. Hintergrund, Vordergrund und Bildfläche wirken gegossen wie ein eisernes Hemd. Einzig die leichte Drehung der Stange in den Bildraum hinein sowie Rinnsale von Regen und farbige Kratzer trotzen lasierend der totalen Abstraktion.

→ Von links schiebt sich ein graues unidentified object in den Bildraum, in graue Plastikplache verpackt und mit einfacher Schnur verschnürt, unförmig, wenig lesbar, doch mit spürbarer Gravitation nach unten. Die schwarze Nacht legt sich wie ein Vorhang an die Fläche der grauen, „belebten“ Plache heran. Doch: Was ist hier Rahmen, was Inhalt, was ist Vorhang, was Bühne? Die Flächen schmiegen sich eng aneinander, verzahnen sich ineinander: Das verpackte Objekt trägt Falten, erzählerisch auch seine Oberfläche (eine Chronik früheren Gebrauchs), aber die Form der Drapierung, den Rahmen der Handlung liefert die dunkle Nacht.

→ Maschendraht oder Spannnetze im Gebrauch - teils verbraucht, mit fehlenden Gitterdrähten, mit Löchern im Geflecht, verdreht, verzogen, vom mehrfachen Übersteigen verbogen - ziehen vor dem Auge des Betrachters durchs Bild, schulterhoch oder bildhoch, als seien sie Fallnetze des Blickens. Räume werden grau und grün ein- und ausgezont, abgesperrt und mit sichtbaren Spuren überschritten. Bildräume scheiden sich von Bildflächen, wie das Polaroid das Positiv und das Negativ voneinander trennt. Löchrige Netze und Gitter als Erinnerung an strenge Gebote und Verbote – verloren vor der Unendlichkeit nächtlicher Schwärze.

→ Eine gemauerte Wand, angestrahlt, aus der Nacht heraus geblitzt, drängt sich von rechts ins Bild, gibt sich als Mauer zu erkennen, aber kaum mehr als das, denn das Licht brennt die Geschichte der Mauer fast gänzlich weg, nur im Verlauf zur oberen Kante hin behauptet sich eine leichte Vergrünung gegen die elektrische Kraft. Diese Reduktion, diese Blendung erschafft aus alltäglichem Gegenstand und Hintergrund nächtlich verstohlen eine Erinnerung an die Moderne, an die Klarheit und Rationalität von Form und Gehalt.

→ The party is over. Von einem Verkehrsschild hangen geplatzte Träume herunter. Schlabbrige Gummilappen erinnern an die einst prallen und strahlenden Ballone, die rot, gelb, türkis, lila und orange die gesprenkelte Befestigungsschnur in den Himmel zogen. Jetzt „lamped sie abe“, hängen sie runter, einer nach dem anderen, einer über dem anderen, als tropfe Farbe froh in die Nacht. Spiel- oder Festtagsspuren als zeitgenössisches Informel. Sekundiert vom Wegweiser zum Reitplatz und vom elliptischen Gelb einer Strassenlaterne.

→ Verholzte Schlingpflanzen, blaue Plastikbänder und warmgelbe Lichtbänder, Lichtgirlanden verknüpfen sich vor einer dunklen Eingangstür zu wildem freien Strich, der wie Twombly über die dunkle Nachtfläche zittert, strafft, schleift und schnellt. Ein imaginäres Haus vor dem Haus entsteht, ein Gebäude aus Linien und Knoten, eine sich im Raum auflösende Skulptur. Für den Abend geschaffen, von der Nacht verschluckt. Für den Traum gedacht, als Schaum entlarvt. Der fahle Morgen wird es ganz ausblenden.

→ Stumme Spiegel, so scheint es, auf einer gelben Stange übereinander gereiht. Sie sind nicht blind und führen dennoch ins Leere, ins Nichts. Wir schauen in den Wald, und er schaut nicht zurück. Matt, dunkel, schweigend, einzig ihre Rahmen, ihre Positionen berichten bei allfälliger Frage von drei Richtungen, drei Perspektiven, drei Verkehrsflüssen, die sie tagsüber lenken, umlenken, reflektieren. Das letzte Auto verschwindet links in der Nacht. Ein paar Stunden Schweigen vor dem Aufflammen des morgendlichen Lärms.

→ Raum und Geschwindigkeit wird hier geregelt, der Raum von Morgen, das Tempo von gestern und jetzt. Zukünftiger Raum wird hier ausgesteckt, zum Tarif von gestern, denn die Winkelhölzer selbst reden von Planung und Realisierung im Schneckentempo. Hoch oben, am Firmament des Strassengesetzes leuchtet Zone 80 wie ein Stadtmond; 80, diese Ambivalenz zwischen Tuckern und Gasgeben. Geometrie mal Geschwindigkeit gleich „Einstein im Quartier“. Die Dehnung und Krümmung der Heimat in die Hochstrasse hinauf.

Pietro Mattioli zieht nächtliche Kreise, ums Haus herum, durchs Quartier, in angenehmer Gehdistanz. Ähnlich einer Katze, eines streunenden Hundes streicht er den Hausmauern entlang, überquert Vorplätze und Hinterhöfe, scheint blind die drei Stufen hoch zu finden, den Kopf einzuziehen, wenn Hängeblumen sein Haar streifen, sich den Drahtgittern und Fangmaschen entlang zu tasten. Was links und was rechts, was oben oder unten ist, scheint ihn nicht zu interessieren, er geht gerade, aufrecht, fotografiert in Sicht- und Körperrichtung. Es sind keine Verrenkungen zu spüren, kein Hoch- und Tiefbau, kein nächtlicher Exotismus. Vielmehr: „Hier bin ich, da stehe ich, das sehe ich vor mir … wenn ich es anblitze, wenn ich es aufblitze.“ Für die 250stel-Sekunde des Blitzes kehrt sich im Vordergrund die Nacht in den Tag, schrillen ein roter Pfeil auf Alu, eine grüne (chinadrachenähnliche) Pflanze, eine hängende Eisenkette auf, setzen sich Dinge und Zeichen für einen Sekundenbruchteil vom nachtschwarzen Hintergrund ab, werden Star der Szenerie und versinken wieder im farblosen Grauschwarz einer nächtlichen Stadt. Wir sind Zeugen dieser blühenden „Kakteen“ der Nacht, wir erleben die Zeichen, Gegenstände und Texturen, die schläfrig ins grelle Licht blinzeln.

Pietro Mattioli zieht durch sein Quartier, wie Eugène Atget durch Paris gezogen ist. Nur nachts und mit zeitgemässer Kamera ausgerüstet. Er zieht durch die Nacht wie Brassaï, doch alleine. Sein Sehnen und Suchen gilt nicht der wärmenden Schenke oder einer besänftigenden Brust. Sein Blick fällt auf das Einfache, Banale, Normale, auf den Humus des Alltags, der Vertrautheit ausstrahlt, für den, der die Stadt, Gebautes, Gebrauchtes, Vergessenes im Quartier (noch) als Heimat wahrnimmt. Gott stecke in kleinen Details, hat Walter Benjamin geschrieben, das Wahrnehmen und Festhalten der kleinen, unbedeutenden Dinge, der übersehenen Winkel schafft ein lesbares, lebbares Reich, versehen mit dem Geruch von Heimatlichkeit. Diese Dinge blitzt Pietro Mattioli auf. Er spiesst sie wie ein Botaniker auf, isoliert sie von der Umgebung. Doch er legt sie nicht auf ein weisses Blatt, vielmehr zerrt er sie ans kühle Blitzlicht, isoliert sie vor dem nachtschwarzen Grund.

Seine Handlungen sind sachlich, ihr Resultat wirkt dennoch manchmal fremd, verfremdet, surreal. Die Nacht legt sich über die Stadt, die Dinge, die Schärfe des Sehens. Kanten werden unscharf, das Sehen reduziert sich zugunsten des Fantasierens und Träumens. Der Blitz weckt die Dinge aus ihrer Trance, aus ihrem Schlaf, reisst sie stückweise aus ihrem Gefüge, aus ihrem Kontext und hebt sie hervor. Tore, Wände, Ketten, Gitter, Baumstämme werden aus dem Zusammenhang, aus der Verankerung gerissen, wirken durch das harte Licht-Schatten-Spiel entfunktionalisiert, vom System abgehängt, entrückt und verfremdet. Tagsüber minimale, banalfunktionale Gegenstände verwandeln sich nachts fremde Konstellationen, in absurde oder aufgeladene Skulpturen.

Pietro Mattioli streunt wie ein visueller Nachtwächter durchs Quartier, schaut da und dort rein, ob alles noch Rechtens ist, beruhigt aufgeschreckte „Kinder“, zieht weiter durch das vertraute Gemisch aus entleerten Verkehrsschildern, importierten Nadelbäumen, Plattenelementen aus Beton und streng gestutzten Hecken – sein Weg durch eine nächtliche Archäologie des Alltags, der Zeichen einer Stadt, vertraut und fremd, nahe und fern zugleich, eben: „2000 Light Years from Home“.