2010  /  Zeitschrift Kanton Zürich

Porträt: Fotomuseum Winterthur

Wir tragen ihn in der Tasche, als Rechner, Handy oder als Smartphone; die Fahrkarte lösen wir mit ihm, das Auto bewegen, die Alarmanlage entschärfen wir, das Geld kassieren wir über ihn; wir verfassen Texte, erstellen Grafiken mit ihm; er ‚ruft‘ uns auf, er kündet an, verspricht; dann, wieder zu Hause, kochen, backen wir mit ihm und legen schliesslich unseren Kopf vor ihn hin: vor den Bildschirm, das Display, den Monitor. Es ist unser Fenster geworden, er ist das Schild, der Wegweiser und das Tafelbild des 21. Jahrhunderts, alles zusammen, das erste allgegenwärtige, multifunktionale und portable Bildinstrument. Schlafzimmer in Hotels werden nicht mehr mit Grafiken von Hundert­wasser oder Miró oder mit Fotos von Meer und Bergen ausgestattet, sondern einzig mit einem Flachbildschirm, der Menu, Tagesprogramm, Börsendaten, Spielfilme und persönliche Emails aufscheinen lässt, allein oder parallel nebeneinander.

Verriegeln wir gedanklich unsere Wohnung, schliessen wir die Fenster, lassen die Rollläden runter und hängen Screens an die Stelle der Fenster, dann erhalten wir ein Sinnbild für die neuen Konstellationen, die neuartigen, verschlungenen, indirekten Wege, welche die Wahrnehmung dadurch nimmt und weiter nehmen wird. Wir verstehen dann auch, weshalb der Name „Windows“ eher ironisch klingt. Das sogenannte Fenster ist ein selbstleuchtender Schirm, der die ursprüngliche, direkte, sinnliche Wahrnehmung, die Aussicht auf die Welt, den Einblick in die Natur, das Berühren, Riechen und Schmecken der Substanzen kappt. Er verändert die Distanzen zum einstigen Betrach­tungs-Ge­gen­stand dramatisch, fast geräuschlos und technologisch kühl; er scheucht Raumgefühl und Ordnungssinn auf und drückt die Welt dann platt zu einer Scheibe. Der Bildschirm ist das heutige Brett vor dem Kopf, nicht opak, nicht aus Holz, sondern milchgläsern-durchscheinend, flach, aber Tiefe vortäuschend.

Die 17 Jahre, die seit der Gründung des Fotomuseum Winterthur 1993 vergangen sind, wirken wie ein Turbolader, der die behäbige Fotochemie in Schwung und Ekstase versetzt hat. Vor 17 Jahren war die Fotografie noch mehrheitlich analog. Die digitalen Auflösungen waren zu gering, die Speicherkapazitäten zu schwach und die elektronische Verbreitung der Bilder unmöglich. Heute sprechen wir von Terrabyte-Festplatten und ärgern uns, wenn 15 Megabytes schwere Emails nicht gleich durch die Leitung wollen. Was macht diese neue elektronische Datenwelt mit der Fotografie? Einiges: Zum Beispiel untergräbt sie selbstverständlich die 150jährige Behauptung der Fotografie, sie beanspruche zu Recht eine Referenz auf die Wirklichkeit und auf eine Darstellungswahrheit. Die Fotografie wird im selbstleuchtenden Schirm zu einem visuellen Datenlieferanten unter anderem. Ihr hybrider Charakter löst sich in der Digitalisierung auf: Sie ist kein Wirklichkeits- und Wahrheitsme­dium mehr, sondern ein Bildmedium unter anderen, zugegeben mit einer für unsere Augen realitäts­nahen Erscheinung. Dann wird es die Fotografie im Alltag je länger je mehr Materie-los geben. Nicht mehr geprintet, auch nicht gedruckt, sondern gespeichert. Das persönliche Album ist ein I-Pod, seit ein paar Tagen heisst er I-Pad, in dem wir zusammen mit unseren Freunden die Erinnerungen, die Fami­lie, die Kinder anschauen. Schliesslich erlaubt die Digitalisierung das Verschwinden des ungelieb­ten Farbfotomaterials. Es war immer zu unstabil, es wird abgelöst durch neue Formen von Plotter­techniken, von Inkjets, die lange haltbar sein werden.

Bei allen Veränderungen gilt jedoch: Die Beschäftigung mit den komplexen fotografischen Abtastungen der Welt wird weitergehen. Das Dokument, auch wenn es ein Scheindokument ist, bleibt ein zentrales Element im Verstehen der Welt. Die Fotografie wird in allen Bereichen mensch­licher Tätigkeit weiterhin eine zentrale Rolle als Vergegenwärtigung spielen, auch wenn es nicht immer die Fotografie ist, wie wir sie bisher kannten. In einer zunehmend abstrakter werdenden Wis­sens- und Wirtschaftswelt braucht es dringend Verbildlichungstechniken, und da ist die Fotografie, vermischt mit anderen Mitteln, ein wichtiges Darstellungswerkzeug.

Ähnlich intensiv, wenn auch nicht mit vergleichbarem Einfluss, entwickelte sich das Fotomuseum Winterthur in seinen nun 17 Jahren Bestehen. Zweieinhalb Personen, 250 Stellenprozente, bildeten damals den Kern, heute sind es 10 feste MitarbeiterInnen und rund 800 Stellenprozente, und beim Jahresessen kommen gut 30 bis 40 Personen zusammen. Die einzelne Ausstellung mag weiterhin ähnlich strukturiert sein, doch ihre Kommunikation und Kontex­tualisierung hat sich vervielfacht. Führungen, Künstlergespräche, reichhaltige Beiprogramme begleiten sie ebenso wie Newsletter und ausführliche Präsentationen auf der Website oder auf Facebook. Ausstellungen entwickeln eine Kerntemperatur, mit der ein Netzwerk entwickelt und gesponnen wird, das Besucher und Presse, Kuratoren und Künstler, SchülerInnen und LehrerInnen, regionale Vereinsmitglieder und weltweite Internetbesucher miteinander verbinden und in Schwingung versetzen. Nebst den drei Programm-„Schienen“ – zeitgenössische Ausstellungen, Meister des 19. und 20. Jahrhunderts, kulturhistorische/soziologische Ausstellungen (ein starker Pfeiler des Museumsprofils mit Bild-Projekten zur Industrie, zum Welthandel, zum Gegenstands­fetischismus, zur Medizin und Mode, zu Körper und Krankheit u.a.) – gewinnt die Sammlung, gewinnen die Sammlungspräsentationen und die Diskussion um Bedeutungsverschiebungen je nach Kontextualisierung von Bildern zunehmend an Bedeutung. Seit der Erweiterung von 2003 (zusammen mit der Fotostiftung Schweiz) bilden die Bibliothek, der Buchladen, der Webkiosk (der das Browsen durch 400 Fotowebseiten erlaubt), der Filmkiosk (mit filmischem Zugang zur Fotografie) zusammen mit den Ausstellungsräumen und dem „Buchraum“, den Publikationen, ein Netz von Zugängen zur Fotografie, ein Geflecht von Präsentations- und Diskussionsmöglichkeiten, das die 2500 Vereinsmit­glieder, die 50‘000 realen BesucherInnen pro Jahr, die 50‘000 virtuellen BesucherInnen pro Monat auf ihre je eigene Weise nutzen (können).

Gerade eben fand die vierte  „Plat(t)form“, das Portfolio Viewing von Arbeiten junger europäischer Fotografen und Fotografinnen statt. Von Moskau bis Portugal, von England bis Finnland sind 42 junge „emerging artists“ nach Winterthur gekommen, um sich dem Publikum und einem Team von Experten vorzustellen. Die FotografInnen lernen 41 KollegInnen kennen und vernetzen sich. Galeris­ten oder Kuratoren entdecken Talente, die sie gerne ausstellen möchten, Sammler kaufen junge Foto­gra­fie zu sehr erschwinglichem Preis und wir alle erfahren jedes Jahr, wer in Europa neu die Szene betritt, mit eigener, kräftiger Stimme auftritt. Eine (neudeutsche) Win-Win-Situation für alle Beteiligten.

Eine kurze Durchsicht durch das Wirken des Fotomuseum Winterthur (Trägerin ist die Stiftung Fotomuseum Winterthur, ihr angeschlossen der Verein Fotomuseum Winterthur) kann nicht abgeschlossen werden ohne drei Worte zur Finanzierung anzufügen. Seit Beginn wird diese Institution zu einem Viertel von der öffentlichen Hand unterstützt, einen Viertel nimmt sie selbst ein, erhält einen Viertel über die Mitglieder, Gönner und Patrons, und findet einen grossen letzten Viertel der Mittel bei Dritten, bei anderen Stiftungen und bei Firmensponsoren. Dafür, dass dieses für die Schweiz ungewohnte System von 75 Prozent Eigenfinanzierung auch funktioniert, sorgen eine Fundraising-Stelle und ein agiles Wirtschaften mit den vorhandenen Mitteln. Dennoch stellt sich uns die Frage: soll es ein Schicksal für immer und ewig sein, dass das Fotomuseum Winterthur nur zu 25 Prozent öffentlich unterstützt wird?

 

Urs Stahel, Direktor Fotomuseum Winterthur