März 2021  /  Richard Mosse: Displaced. MAST

Richard Mosse: Vom Bildereignis zur forensischen Analyse

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„Elisabeth war fassungslos, denn sie hielt das für das einzig Richtige, alles, was sie taten zu der Zeit, die Leute mussten erfahren, genau, was dort vor sich ging, und sie mussten diese Bilder sehen, um ‚wach gerüttelt‘ zu werden. Trotta sagte nur: So, müssen sie das? Wollen sie das? Wach sind doch nur diejenigen, die es sich ohne euch vorstellen können.“ In der Erzählung „Drei Wege zum See“ (1972)[i], die vom trügerischen Glauben einer Fotojournalistin handelt, in der Welt ungebrochen ihre Heimat, ihre Zukunft, ihr Glück und ihre Wahrheit zu finden, lässt die Autorin Ingeborg Bachmann ihre Protagonistin Elisabeth Matei in eine zunehmende Verunsicherung schliddern, bis ihr der Lebenssinn und ihr berufliches Selbstverständnis als Fotojournalistin, als Kriegsberichterstatterin abhandenkommen. Das Zitat steht am Anfang einer tiefreichenden Auseinandersetzung, die sie mit ihrem neuen Liebhaber Franz Josef Eugen Trotta über Bilder aus dem Algerienkrieg (1954-1962) führt. Trotta schärft dann sein Entgegnung zusätzlich mit den Worten: „Glaubst du, dass du mir die zerstörten Dörfer und Leichen abfotografieren musst, damit ich mir den Krieg vorstelle, oder diese indischen Kinder, damit ich weiss, was Hunger ist? Was ist denn das für eine dumme Anmassung. Und jemand, der es nicht weiss, der blättert in euren gelungenen Bilderfolgen herum, als Ästhet oder bloss angeekelt, aber das dürfte wohl von der Qualität der Aufnahmen abhängen, du sprichst doch so oft davon, wie wichtig die Qualität ist, wirst du denn nicht überall hingeschickt, weil deine Aufnahmen Qualität haben?“ 

Trotta versteht zwar, was Elisabeth in ihrem jungen, festen Glauben tun will, aber er stellt im Gespräch zunehmend den Sinn und die Ethik ihrer Beschäftigung in Frage: „Du und deine Freunde, ihr werdet diesen Krieg damit nicht beenden, es wird anders kommen, ihr werdet nichts ausrichten (…) ich habe überhaupt die Menschen nie verstehen können, die sich diesen Abklatsch, ach nein, diese in die ungeheuerlichste Unwirklichkeit verkehrte Realität ansehen können, man schaut sich doch Tote nicht zur Stimulierung für Gesinnung an.“ [ii]

In der Erzählung von Ingeborg Bachmann wird auf literarische Weise ein Thema diskutiert, das die Fotografie seit den 1970er Jahren umtreibt. Als habe das Fernsehen, vor allem die damals neuartigen Livekameras Ende der 1960er Jahre die Fotografie von ihrer Pflicht zu berichten freigestellt, werden seither viele Formen der Dokumentarfotografie - die Strassenfotografie, die Ereignisfoto­grafie, Fotojournalismus allgemein, vor allem aber die Kriegs- und Krisenfoto­grafie - zur Diskussion gestellt, ja kritisiert. Was tut sie und wie tut sie es, wird gefragt. Was kann sie tun und was darf sie tun? Was löst sie aus? Was ermöglicht sie? Was verhindert oder zerstört sie allenfalls? Wie unterscheidet sich die Erfahrung am Kriegsschauplatz selbst von der journalistischen Verwendung und Gestaltung des Bildmaterials?[iii] Anfang der 1970er Jahre sind es Allan Sekula[iv] und Susan Sontag[v], die mit ihren Schriften die Fotografie herausfordern, seit 2000 sind es Judith Butler[vi] und Hito Steyerl[vii], die mit ihren Texten eine führende Rolle in der Debatte spielen – nebst vielen anderen Autoren und Autorinnen.

Drei Fragestellungen stechen aus dieser Diskussion hervor: Die erste betrifft gleichsam die Arbeitsbedingungen des Kriegsfotografen. Dabei steht insbesondere der Begriff des „Embedded Journalism“ zur Diskussion. Wenn, wie seit den 1980er Jahren zunehmend, Journalisten und Fotografen nur noch begleitet, geführt in Krisengebieten und zu Kriegsgeschehnissen zugelassen werden, wie können sie dann inhaltlich sachlich und möglichst objektiv schriftlich und visuell berichten? Das Eingebettetsein und damit das Geführt- und Gerichtetsein durch den führenden Armeestab verhindere ja bewusst eine unabhängige, objektive Berichterstattung, heisst es.

Das zweite Diskussionsfeld betrifft den Gebrauch dieser Fotografien in den Medien, in den Zeitungen und Zeitschriften. Die siebziger Jahre sind der Beginn des ersten Medienzeitalters und man beginnt zu begreifen, dass in den Zeitungen und Magazinen möglichst intensive, eindringliche, berührende, auch schockierende Bilder bevorzugt werden, und das nicht allein aus aufklärerischen Gründen. Der Leser, die Leserin sollen dadurch auch bewegt und berührt und gefühlsmässig an das Heft gebunden werden. Man spricht von „Auflagebolzen“, von medialem „Aufrüsten“, wenn das Titelblatt und die zentralen Bildstrecken überaus heftige oder tränenrührende Bilder zeigen. 

Der dritte Diskussionspunkt geht eine Stufe höher, er wird grundsätzlicher. Fast in allen Diskussion wird die Frage aufgeworfen, ob dokumentarische Fotografien, und in diesem Fall Kriegsfotografien tatsächlich fähig sind, das Gesehene, das Geschehen nicht nur blank, das heisst kommentarlos, ausschnitthaft, wiederzugeben, sondern die Wirklichkeit auch interpretieren können. Sekula und Sonntag sind da apodiktischer als Butler und Steyerl. Vor allem Sekula spricht den Fotografien strikt die Fähigkeit zur genauen, korrekten, nachvollziehbaren Interpretation ab. Während Sekula und Sontag argumentieren, dass jede Frontseite eines Bildes seine „Rückseite“ braucht, also die Information, die auf der realen oder imaginierten Rückseite des Bildes festgehalten ist – der Stempel, die Legende, andere Bemerkungen, auch die genaue Auftragslage, also das Ziel, das Framing eines Auftrags – , billigen Butler und Steyerl der Vorderseite eine eigene Kraft, eine Bildgewalt, Bildenergie zu. Eine Reihe von Bildern könne zusammen durchaus eine bestimmte Information übermitteln und nicht nur eine visuelle Aufregung bewirken. Selbstver­ständ­lich sind sich alle diese Theorien darüber bewusst, dass das Dokumentarische nicht nur passiv geschieht, sondern auch eingreift, dass also das Geschehen durch den Akt des Fotografierens selbst beeinflusst wird. 

 

Early Works

Richard Mosse, der nach 2000, parallel zu diversen Abschlüssen[viii] mit dem Fotografieren begonnen hat, weiss selbstverständlich sehr genau um diese Fragestellungen und die darin implizierten Schwierigkeiten. Wie jeder ernsthafte Fotograf/Fotografin oder fotografisch operierende Künstler und Künstlerin, die sich für die Realdokumentation entscheiden und damit gegen eine streng konzeptualisierte Kunstform, die Bilder ausschliesslich in einem dichten Geflecht von Informationen präsentiert, so musste sich auch Mosse von Beginn seiner Karriere an immer wieder mit diesen Fragen auseinandersetzen. Das kann man bereits an seinen ersten frühen Arbeiten ablesen, wenn auch noch nicht so klar und deutlich wie bei seinen späteren grossen und zentralen Werkgruppen „Infra“ und „Heat Maps“. 

An „Nadar Que Declarar“ beispielsweise, einer Serie von Fotografien, die er um 2007 entlang illegaler Übergange an der mexikanisch-amerikanischen Grenze gemacht hat. In dieser Serie wird deutlich, dass Mosse gleichsam der Grenze entlangstreicht und die Überbleibsel, Liegengelassenes der vielen Flüchtlinge, die hier versucht haben, über die Grenze zu kommen, fotografiert. In seiner Serie vom Gazastreifen sind es Teile des durch die Israeli Defense Forces zerstörten Flughafens, des hochsymbolischen Gaza International Airport (2008), im Kosovo sehen wir eine von einer Rakete aufgerissene Kirche (2004), in „The Fall“ (2009) sind es abgestürzte, aber nicht aufgebrochene, auseinander ge­fledderte Flugzeuge, die über die Jahre mit der Natur, in die sie eingetaucht sind, zu verschmelzen scheinen. In „Nomads“ (2009) schauen wir mehrheitlich im durch einen Sandsturm gebrochenen diffusen Gegenlicht auf Fahrzeuge, die alle von Kugeln regelrecht durchlöchert, aufgerissen und zu skurrilen Figuren verformt und zerfetzt wurden. 

Auffallend an diesen Bildern ist, dass sie alle menschenleer, verlassen, also nach der Tat, nach der Aktion, nach der Katastrophe – der Flucht, des Absturzes, der Rakete, der Gewehrschüsse – aufgenommen worden sind. Gleich­wohl aber flüstern sie von den Menschen, die in den Szenen aktiv gewesen sind. Auch die seltsam coolen, teils fetischisierten Replikate von abgestürzten Flugzeugen in der Serie „Airside“ (2008), diese aircraft emergency training simulators, raunen von den 100, 200 Menschen, die in und mit den Flugzeugen abgestürzt und gestorben sind, und animieren unsere Fantasmen und Traumas beim Fliegen jetzt und morgen.

In einem Interview mit WN – Whiteshot Magazine of contemporary art öffnet Richard Mosse’s  Antwort auf die einfache Frage “Why aircrafts?” einen ersten Zugang zu seinem künstlerischen Denken: “I feel there's no finer, more violent, more succinct, more international, and more culturally loaded expression of the catastrophe than the air disaster. However, a plane crash is a very difficult thing to photograph. You can stand under the flight path of JFK with your camera each morning for years and you won't get anything that resembles an air disaster. Or you can reenact Chris Burden's piece 747 and stand under the flight path of LAX for ten minutes, fire off a pistol at a jumbo jet, and take a photo of that. The documentary photographer has a terribly difficult life compared with the conceptual artist. But like Prometheus and Loki, we're both tied to the same rock.
Why airplanes? The air disaster holds tremendous traumatic power. An airliner in vertical descent is a spectacle of modernity's failure. It is horrifying but also aesthetically powerful and depicts unstoppable globalization. It's for these reasons that terrorists covet the air disaster. Terrorism is not an act of warfare. It's a form of advertising, and it's aim is not primarily to kill, but to capture the popular imagination through killing. Artists, particularly those working in photography, with its relation to advertising, have every right to enter the terrorist's symbolic order and violate the same taboos.” [ix]

Einzig in “Breach” (2009), der Serie über die Besetzung von Saddam Husseins Palastarchitektur im Irak durch die amerikanische Armee – Saddam Hussein hatte rund 85 Paläste, alle strategisch gut über das Land verteilt –, finden wir Menschen auf den Bildern – aber die falschen, wenn man so will. Nicht die ursprünglichen, sondern die erobernden Soldaten, die Saddam und seine Soldaten vertrieben haben. Sie bewegen sich wie Stellvertreter für uns Betrachter in der teilweise zerstörten Architektur, dieser zeitgenössischen Palastruine. Nahezu sorglos, denn der Kampf, die Tat ist vorbei. Zentrales Bild ist hier die Szene einer Gruppe von Soldaten am Rande des halbzerstörten Swimmingpools. Die scharfe, leuchtende Geometrie des Pools misst sich mit einem mäandernden Flusslauf in der weichen Landschaft. Am Rande setzt sich eine Gruppe von Soldaten zur Ruhe. Ein Soldat hat sich ausgestreckt niedergelassen und den Helm ausgezogen, andere scheinen vergeblich Haltung von ihm zu fordern. Die kleine Gruppenreiberei misst sich an einem weit grösseren Konflikt, am Übergang von einer Kultur zur andern, von einem Machthaber zum nächsten, der Kontrast zwischen der feierlichen symbolischen Kraft der Architektur und dem Fitnesswahn der amerikanischen Eroberer/Befreier. Ein eindrückliches Bild, gleichsam eine zeitgenössische „Historienmalerei“, ausgeführt im Medium Fotografie.

Diese frühen Bildserien zeigen eine Welt nach der Klimax, nach der Tat. Es wird nicht der Kampf, die Auseinandersetzung, die Grenzüberschreitung, also nicht der Höhepunkt vorgeführt, sondern die Welt danach, nach der Geburt und nach der Katastrophe, als Genre wird sie deshalb oft Aftermath Photography genannt. Mosse zeigt uns hier Sinnbilder, ja Allegorien der Zerstörung, der Niederlage, des Einbruchs der Energie, der Konzentration, des Zusammenbruchs des Systems „Saddam Hussein“ oder der abendländischen „Moderne“. In „Airside“ wiederum wandelt sich die Szenerie der simulierten Flugzeugkatastrophen, durch den Gegenstand selbst, aber auch durch die Inszenierung vor Ort und durch die fotografische Umsetzung in die Form eines phallischen Theaters, eines surreal designten Stücks zum Thema Sieg oder Niederlage.

Diese frühen Werke – einige davon wurden dank des hoch dotierten Leonore Annenberg Fellowship in The Performing and Visual Arts in erstaunlich kurzer, intensiver Zeit nach dem MA in Yale geschaffen – weisen schrittweise in die Richtung, die Richard Mosse zu gehen bereit ist. Und das heisst in seinem Fall: Bereit sein, die Welt zu betreten, es zu wagen, visuell zu berichten, sich all den Urteilen und Vorurteilen auszusetzen, die sich um die Krisenfotografie herumranken. Konkret heisst es, sich an die Nahtstellen von sozialen, politischen und wirtschaftlichen Erdplattenverschiebungen zu begeben – in den Kongo, wie wir sehen werden, auf Lesbos in die Hölle der gegenwärtigen Migration, in den brasilianischen Regenwald und seine endlosen, zerstörerischen Brandrodungen – und da hartnäckig zu bleiben, den Finger in die wunden Stellen legen, Bilder zu machen, die nicht spurlos an uns Betrachter/Betrachterinnen vorbeigehen, sondern uns hineinziehen, uns beunruhigen, uns herausfordern. Immersive Bilder, wie man heute gerne schreibt, intensive, eindrückliche Bilder, die uns triggern, während sie uns kritische Situationen vor Augen führen, und uns damit konfrontieren. Richard Mosse spielt dabei mit dem Spektakel, er setzt es ein, um uns den Kopf und die Augen zu verdrehen, er spielt mit der singulären Kraft des Bildes, mit der „Erregung“, aber gleichzeitig kontextualisiert er es, führt er die Bilder und Videos nach langen Recherchen zu einem Ganzen zusammen. Er spielt mit dem „Feuer“ und versucht es gleichzeitig zu bändigen, zu kontrollieren, fruchtbar zu machen.  

Der japanische Schriftsteller Tanizaki Jun’ichito schrieb 1933 ein zauberhaftes Buch über die Ästhetik in Japan, es heisst „Lob des Schattens“. Er vergleicht das ästhetische Empfinden der Europäer, der Abendländer mit jenem in Japan und arbeitet über Dichotomien von Schatten und Licht, vom Glänzenden und Matten, Bunten und Einfachen eine Lehre der japanischen Ästhetik heraus. Untertitel: „Entwurf einer japanischen Ästhetik“. Er vergleicht darin auch Fotografien aus Japan mit Fotografien aus Europa und Amerika und arbeitet die Differenzen heraus. Schliesslich fragt er sich: Und wie sehr, wie stark würden sich wohl die fotografischen Bilder der beiden Kulturen unterscheiden, wenn die Japaner sogar die Fotokamera erfunden und entwickelt hätten, wenn also schon im Ursprung, im Entwickeln des Werkzeugs, des Instruments, das so andere Denken eingeflossen wäre. Man spürt beim Lesen seiner Zeilen, wie sich in seinem Kopf die zwei Erdplatten noch weiter voneinander entfernen, zum Guten für die japanische Kultur, zur Korrektur der westlichen kolonialen Dominanz. Ändert sich das Werkzeug, ändert sich das Denken, und umgekehrt, heisst seine Losung.[x]

Als habe Richard Mosse nicht nur die vielen Debatten über Dokumentarfoto­gra­fie inhaliert, sondern auch den feinen, leichten, aber präzisen Hauch, der diesem kleinen Büchlein entschwebt, beginnt er fortan, für bisher jedes neue Projekt über die Verwendung von neuem, anderem Filmmaterial, von neuen, anderen Kameras eine neue Herangehensweise, eine gänzlich neue Aufnahme-Perspektive einzusetzen, die es ihm erlaubt, jedes Thema, jede Situation dem jeweiligen Kontext angepasst umzusetzen. Er schmiedet sich also gleichsam das Werkzeug für jedes Projekt neu, für „Infra“, „Heat Maps“, „Ultra“ und „Photosyntheziser“. Schauen wir vertieft hin.

 

Infra

Der Kongo könnte eine der reichsten, einflussreichsten, mächtigsten Gegenden von ganz Afrika sein – und ist das pure Gegenteil davon. Im 16. und 17. Jahrhundert und noch weit heftiger nach dem Zerfall des Königreichs Kongo Ende des 17. Jhs. belieferten die Sklavenhändler in Richtung Westen vor allem Brasilien mit Sklaven aus dem Kongo, während die islamischen Sklavenhändler, hauptsächlich von Sansibar aus agierend, die arabischen Länder im Osten versorgten. Nach dem Zerfall des Kongo-Reiches und der portugiesischen Vorherrschaft folgten die Niederländer und Briten als Kolonialherren, bevor schliesslich der belgische König Léopold II. Teile des Kongos 23 Jahre lang als Privatreich vereinnahmte und die Bewohner während des ersten grossen Kautschukbooms als rechtlosen Privatbesitz ausbeutete. Es kam dabei zu so grausamen Exzessen, dass Leopold gezwungen wurde, die Kolonie dem Staat Belgien zu übergeben. 1960 wurde die damalige „Republik Kongo“ unabhängig. Aber das Land kam dennoch nie zur Ruhe. Joseph Kasavubu, Patrice Lumumba und Joseph Mubutu, Vater und Sohn Kabila stehen als Führer für ein Kongo (zwischenzeitlich Zaire genannt), das durch drei Kongokriege in eine unsichere Gegenwart geführt wurde.[xi] 

Das riesige Land, rund siebenmal so gross wie Deutschland, ist reich an Bodenschätzen, an Gold, Diamanten, Kupfer, Coltan, Mangan, Blei, Zink, Zinn, aber das damit verbundene Potential konnte kaum je genutzt werden, weil sich in der Demokratischen Republik seit dem Völkermord 1994 in Ruanda ein Vielzahl an Rebellengruppen bis heute immer wieder aufflammende Kämpfe liefern, mit rund 5 Millionen Opfern – Ermordeten, aber auch einer riesigen Zahl an Menschen, die an der extrem schlechten Versorgung zugrunde gegangen sind. Die überlieferte Geschichte beschreibt regelrecht eine menschliche Disasterzone unvorstellbaren Ausmasses, die über 500 Jahre lang dauert und in der die rote Erde metertief von Blut getränkt zu sein scheint. Als sei es ein negativ geladener Flecken Erde, ein Ort des Grauens, das sein Karma nie ablegen konnte.

Richard Mosse bewegte sich 2010-2011 mit „Infra“ und dann mit „Enclave“ – der komplexen 6-teiligen Videoinstallation zum gleichen Thema – im Osten der Demokratischen Republik Kongo, in der Region Nord-Kivu, in der, meist mit blossen Händen und Kleinwerkzeugen auf Lebensgefahr, vor allem Coltan abgebaut, ein Erz, aus dem der Baustoff Tantal gewonnen werden kann, der für die Produktion der globalen Elektronikindustrie, d.h. für alle unsere  Smartphones von zentraler Bedeutung ist. Sein „Werkzeug“, das er für dieses grosse und auch gefährliche Projekt wählte, ist ein ganz bestimmter Film: „The Infra series is marked by Mosse’s use of Kodak Aerochrome, a discontinued reconnaissance infrared film. The film registers chlorophyll in live vegetation. The result is the lush Congolese rainforest rendered into a beautifully surreal landscape of pinks and reds.”[xii] Mosse erklärte dazu in einem Interview mit dem The British Journal of Photography: “‘I wanted to export this technology to a harder situation, to up-end the generic conventions of calcified mass-media narratives and challenge the way we're allowed to represent this forgotten conflict… I wanted to confront this military reconnaissance technology, to use it reflexively in order to question the ways in which war photography is constructed."[xiii]

Mosse fotografierte Landschaften, Szenen mit Rebellen, Versammlungen im freien Feld, er porträtierte viele Menschen und Soldaten, aber auch die mobilen Behausungen einer Bevölkerung, die sich ständig bewegen muss, die immer auf der Flucht ist, in einem Krisen- und Kriegsgebiet, in dem Rebellen blitzschnell auftauchen und wieder im Dschungel verschwinden, in einem endlosen Krieg, der ohne schwere Waffen, sondern hauptsächlich mit Macheten und Gewehren geführt wird. Mosse erstellte gleichsam die visuelle Karte einer Kriegs-Landschaft, mit vielen Akteuren, mit Tätern und Opfern, mitten in einem wildwuchernden Dschungel. Durch die Verwendung des Kodak Aerochrome-Films, durch die fotochemische Umfärbung der Landschaft von sattem Grün zu pinkigem Rot, filtert er die Realität, verschiebt sie ein Stück weit ins Theatralische, ins Surreale. Er verfremdet sie, verwandelt sie in eine für unsere Augen künstliche Film- und Bildrealität, in eine grosse, komplexe, gebrochene visuelle Erzählung ohne bisher sichtbares Ziel und Ende, und ohne jegliche Katharsis. Ein hartes Lehrstück ohne klärende Lehre. Eine schauerlich-schöne Bildwelt zwischen Fotografie und Kunst, zwischen Dokument und Symbol. Gleichsam eingefärbt in die pink-strahlende Vegetation. Getränkt vom Elend eines endlosen Kriegs.

Dabei verwendet er mit dem Aerochrome ein Filmmaterial, das ursprünglich im zweiten Weltkrieg in Zusammenarbeit mit dem Militär entwickelt worden war, „um Tarntechniken des Feindes zu unterlaufen.“[xiv] Er verwendet gleichsam alte Militärtechnologie, aber nicht um irgendeinen Feind nochmals zu entdecken, sondern um mittels dieser Technologie diesen unglaublichen Sonderfall Kongo, diesen jahrhundertealten und jetzt jahrzehntealten Notstand zu markieren. Wer seine Arbeit gesehen hat, wird den Kongo endlich nicht mehr vergessen. Das ist vermutlich der nachhaltigste Nutzen seiner Arbeit, abgesehen von ästhetischen und soziologischen Ereignissen und Erkenntnissen.

Heat Maps

2016-2017 beschäftigte sich Richard Mosse mit „Migration“, mit der grossen europäischen Krise im Teufelskreis zwischen Abgrenzung und Öffnung, Anteilnahme und Abweisung, Willkommenskultur und Rückschaffung, auch zwischen warmer Menschlichkeit und kalter Wirtschaftlichkeit. Hier soll das Prinzip seiner Arbeiten, deren Thema unter dem Titel „Incoming“ auch als eindrückliche, intensive, wuchtige dreiteilige Videoinszenierung realisiert wurde, an einer einzigen Arbeit, nämlich am aufregenden, 7.33 m langen Werk „Skaramaghas, 2016“ vorgeführt und analysiert werden:

Der Blick zoomt rein. Da stehen sie, aufgereiht, gestapelt, einer nach dem anderen. Hapag-Lloyd, Maerks, Gartner, Cosko, Trans Container AE, die chinesische Hanjin. Container über Container, nebeneinander, übereinander. Davor eine nahtlose Einerreihe von Lastwagen, die heran- und wegfahren, Container bringen und abholen, ohne Pause. Kleine Kranwagen verschieben sie hier, grosse Hafenkräne werden sie auf Schiffe verladen. Wir müssen uns die Weltmeere als gigantische Warenströme vorstellen, back and forth, hin und her. Was dort drüben 2 Euro kostet, ist nach der Fahrt bei uns 2000 Euro wert, dazwischen wird auf den Anstieg oder Zerfall des angenommenen Warenwertes gewettet. 

Dann schwenkt der Blick langsam nach rechts. Die Container werden kleiner, stehen nur noch einstöckig da, auf dem Dach tragen sie dafür Satellitenschüsseln und Kühlaggregate, nach vorne hin öffnen sich eine Tür und ein, zwei Fenster. Das globale Warenlager wird hier zum Menschenlager. Die Container sind geometrisch ausgelegt, wie ein dörfliches oder städtisches Raster angeordnet, mit Hauptstrassen und Querstrassen. Wäsche hängt quer von Container zu Container, eine Person sitzt im Eingang, davor spielt eine Gruppe Menschen Volleyball, weiter rechts eine andere Fussball, ein paar schauen zu, Mädchen ziehen ums Eck. Dahinter glitzert scheinbar das Meer. Was auf den ersten Blick wie eine grosse globale Freihandelszone wirkt, ist mit Zaun und Stacheldrahtrollen feinsäuberlich voneinander getrennt. Hier die freien Waren, da die kontrollierten Menschen. Hier grösstmögliche Geschwindigkeit, da stärkste mögliche Verlangsamung. 

Vor unseren Augen breitet sich allmählich die Hafenanlage der Hafenstadt Skaramagas im westlichen Teil der Athener Agglomeration aus. Bekannt für ihre grosse Werft, und dann auch für das Flüchtlingslager. Meine Augen schweifen im ausgedehnt langen Bild von Richard Mosse herum, einer Offenbarung an schwarzweisser Grandiosität, an tiefen Schwärzen, hellen Lichtern, verführerischen Kontrasten, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Irritierend präsent, wuchtig, irisierend in der Wahrnehmung. Ist es ein Negativprint? Wurde das Bild etwa solarisiert? Mosse operiert hier, wie auch in anderen Flüchtlingslagern in und wegen Europa – Tel Sarhoun Camp und Aarsal im Bekaa Valley im Libanon zum Beispiel, Nizip I and Nizip II Camps in der Gaziantep Provinz in der Türkei oder ein Lager im Tempelhof Airport in Berlin – nicht mit der Aufnahme von sichtbarem Licht, sondern mit einer sogenannten Wärmebild­kamera, die tief im infraroten Bereich Wärmeunterschiede festhalten kann. In der Regel gilt: Hell ist warm, dunkel ist kalt. Was wir also zu sehen bekommen, sind nicht aufgenom­mene Reflexionen von für uns Menschen sichtbarem Licht, sondern Registrierungen von Wärmedifferen­zen, sogenannte „Heat Maps“. Eine Kameratechnik, die das Militär seit dem Koreakrieg kennt, aber seither immer weiter entwickelt hat. Man kann mit ihr, bei Tag und bei Nacht, bis zu 30 km weit „sehen“. Sie liefert kontrastreiche, scheinbar scharfe, präzise Bilder. Beim genauen Hinsehen sehen wir hingegen keine Details mehr, sondern Abstraktionen, als blickten wir auf feingliederige Scheren­schnitte. Jeder Mensch, jedes Fahrrad, jeder Container ist genau erkennbar, aber nur in seiner Art, in seiner Bewegung, seiner Kontur, hingegen nicht in seiner Individualität, nicht in seiner Intimität. Er ist da und nicht da zugleich, er wird vermessen und kann sich zugleich entziehen.

Der genaue Standort des Fotografen ist ebenfalls nicht auszumachen. Diese Kamera „schiesst“ sehr weit, dafür extrem eng und schmal, fast wie die Gewehrkugel eines Snipers. Deshalb hat Richard Mosse für „Skaramaghas“ rund 1500 Aufnahmen machen müssen, die anschliessend in monatelanger Arbeit minutiös gestitched werden, bis das Panorama, diese Illusion eines endlosen Weit­winkels entsteht. Das Bild gibt weit weniger den Blick aus der Zentralperspektive wieder als eine aufwändige Form des schrittweisen Abtastens, Scannens der Situation.

Diese Kameras sind auch als Waffen registriert. Um ihre Reichweite und Präzision zu erhöhen, werden ihre Sensoren auf minus 50 Grad Celsius abgekühlt. Sie eigenen sich deshalb nicht mehr für Schnappschüsse, sondern müssen in mühseliger Arbeit in Stellung gebracht werden. Ein hochstabiles robotergesteuertes Stativ führt die von Richard Mosse eingegebenen Einstellungen aus, in diesem Fall vielleicht 20 Linien zu je 75 Aufnahmen, bei einer Aufnahmedauer von 50 bis 60 Minuten. Konsistent ist entsprechend nur der Ort, aber nicht die Zeit. Jede der 1500 Aufnahmen findet zeitverschoben statt. Mit der Möglichkeit, dass die gleiche Person oder Teile von ihr zwei- oder mehrmals im Bild erscheinen. 

Mosse sucht also auch hier die Verfremdung, er sucht nach Möglichkeiten, der Formensprache der Dokumentarfotografie zu entkommen. Hier mit der paradoxen Intervention einer Technik und Sprache, die real zur Erkennung und Überwachung von Menschen, entsprechend auch von Migranten eingesetzt werden, jedoch bei gleichzeitiger Anonymisierung des Individuellen, der Person, der Identität. Entgegen der Absicht der Kamera (und ihrer Erfinder), werden hier nicht Menschen überwacht, sondern letztlich Szenen des politischen Scheiterns, das System der Abschottung, der Ausgrenzung. In der analogen, gebauten Welt gelingt das, zumindest auf Zeit, so glauben wir jedenfalls (und nehmen dabei grosses Leid wie auf Lesbos in Kauf), in der digitalen Welt hingegen werden wir alle zu Migranten, zu migrierenden Daten.[xv]

 

Ultra

Durch die Anwendung des Kodak Aerochrome-Films werden Teile der Bilder in „Infra“ Scharlachrot, Karmesinrot und Pink wiedergegeben, in den „Heat Maps“ erzeugt eine Wärmebildkamera endlose schwarzweisse Datenfelder von Auffanglagern für Migranten – und in „Ultra“ wiederum, in diesen faszinierenden Bildern, die Richard Mosse im Regenwald mit einer ultravioletten Taschenlampe und Mehrfachbelichtungen erzeugt, schillert ein zauberhaftes, leuchtendes Ultraviolett, vermengt mit einem Silbergrün und metallig-schimmernden Caput-mortuum- bis Karminrottönen. 2018-2019 begann Mosse in den brasilianischen Regenwald zu reisen, das Blickfeld verengend, die Optik von unendlich auf Mikro und Makro verkleinernd, das Forschungsinteresse von “Human Conflicts“ hin zu Bildern von Natur-Karambolagen und Natur-Camouflagen verlagernd. Mit der Taschenlampe scannte er den Regenwaldboden, die Flechten, Moose, Orchideen, fleischfressenden Pflanzen und erzeugte in diesen Nahsichten durch die Verschiebung des Farb-Spektrums ein fast unglaubliches, fluoreszierendes, schillerndes Farbfeuerwerk. Die UV-Fluoreszenztechnik hebt die verschiedenen Tarnungen in der Natur auf und verschiebt den vertrauten Anblick ins Ungewohnte, ins Fantastische. Sein Licht-Bild-Zugriff verwandelt die Natur in ein Schaustück, das vom Wuchern, vom Verdrängen, vom Verschlingen und von Koexistenz, von Wirten und Parasiten in der Natur erzählt. Mosse wird hier zum Licht-Dompteur der gefährdeten Pflanzenwelt. 

Im Pressetext der Galerie Carlier Gebauer steht: „In einer Zeit, in welcher der fragile Regenwald von Bevölkerungsdruck, Rodung, Abholzung, Viehzucht, Palmölplantagen, illegalen Goldminen und anderen menschgemachten Infrastrukturen bedroht ist, untersucht Mosse die Komplexität seines Bioms, seine symbiotischen Beziehungen und Abhängigkeiten. Der Regenwald ist ein Ort der Jagd und der Beute; die natürliche Welt befindet sich hier in einem ständigen Zyklus des Tötens und Getötetwerdens. Ultra untersucht wie Pflanzen und Insekten im Laufe von Millionen Jahren überlebensfähig wurden, oft durch die Entwicklung von Tarnungsstrategien. Die Orchideenblüten hingegen haben sich so entwickelt, dass sie die Form der Orchideenbienen perfekt ergänzen, was die gegenseitigen Abhängigkeiten des Ökosystems perfekt illustriert.“[xvi] 

 

Photosynthesizer

Photosynthesizer heisst die allerneuste Serie, an der Richard Mosse zurzeit im brasilianischen Regenwald arbeitet, mit dem Untertitel: „multispectral orthographic photographs of sites of environmental damage“. Während Richard Mosse in „Ultra“ mit der Schönheit und Fruchtbarkeit des Regenwaldes spielt, dokumentiert, vermisst, kartographiert er in „Photosynthesizer“ mit genau vermessener Dronenfotografie die verschiedenen Zerstörungsarten des Regenwaldes: Rodung, Abholzung, Viehzucht, Palmölplantagen, illegale Goldminen und Mineralien. Dabei interessiert ihn im aktuellen Schritt nicht so sehr die Problematik der Vertreibung der indigenen Völker, sondern die grosse, umfassende, zerstörende Umweltkriminalität, die riesigen Flächen Regenwald, die täglich abgefackelt werden. Den multispektralen Film, den er einsetzt, entdeckte er in der Welt der hochentwickelten Satellitentechnik. Mit der Zeit, so seine Absicht, will er eine Art Archiv über diese schreckliche Deforestation erstellen. 

Mosse bewegt sich in einem hochaktuellen, hochbrisanten Feld. Das Iagrape-Institut, ein brasilianischer „Think and Do Tank“, betitelte eines seiner Strategie-Papiere mit „Envrionmental Crime in the Amazon Basin“: A Typology for Research, Policy and Action“ und hält darin fest: „Das Amazonasbecken ist in Gefahr. In Brasilien ist nach fast einem Jahrzehnt der Verlangsamung der Entwaldung Mitte der 2000er und Anfang der 2010er Jahre die Rate der Waldrodung und -degradierung wieder sprunghaft angestiegen. Das brasilianische Nationale Institut für Weltraumstudien (INPE) meldete einen 85-prozentigen Anstieg der Entwaldung im Amazonasgebiet von 2018 bis 2019, und bis Mitte 2020 war die Entwaldung bereits um weitere 34 Prozent gegenüber dem Niveau von 2019 angestiegen. Regierungsbehörden in Ländern wie Brasilien, Bolivien, Kolumbien, Ecuador, Guyana, Peru, Surinam und Venezuela erklären das Phänomen oft damit, dass es von Einzelpersonen und kleinen Akteuren verursacht wird, die Strategien zur Sicherung des Lebensunterhalts verfolgen. Umfangreiche Untersuchungen von Umweltaktivisten haben jedoch gezeigt, dass die Umweltzerstörung in der Region häufiger das Ergebnis gut organisierter Aktivitäten ist, die von einer Vielzahl von Akteuren durchgeführt werden.“[xvii] 

Mit diesem Papier eröffnet das Igarape-Institut ein „mehrjähriges Projekt zur Kartierung von Umweltkriminalität“, das vom Institut selbst und von Partnern wie Interpol und InSight Crime betreut wird. Hochdringlich – genauso wie die ungewöhnliche Bildkraft von Richard Mosses Werken. Um in der Welt etwas zu erreichen, braucht es beide Seiten – und vermutlich noch einiges mehr.

 

Conclusion

Vergangenes Jahr wurde Richard Mosse 40 Jahre alt. Für ein grundsätzliches Fazit, eine Schlussfolgerung ist es etwas früh. Dennoch ist es hochspannend, seinen bisherigen Weg anzuschauen und zu diskutieren. Offensichtlich will er die Dokumentarfotografie beleben, sie aus ihren verschiedenen Sackgassen befreien. Er hält am Bild als ureigener Kraft fest, verzichtet aber in der Regel auf klassisch-ikonische Ereignisbilder, vielmehr erhebt er die Umstände, den Kontext, das Vor- und Danach zum Thema der Betrachtung. Er verzichtet in diesem Sinne auf das, was man die indexikalische Abbildfotografie eines Ereignisses nennt. Nach hundert Jahren Fotojournalismus ist dieses Feld ein wenig müde geworden. Vielmehr fühlt er sich weit stärker zum Forensischen hingezogen, wie er jüngst in einem Interview mit Monocle erklärte[xviii], zur visuellen Erforschung von Tatorten, von Tatbeständen, von bestimmten Themen, Sachverhalten, Problemlagen wie zum Beispiel die Brandrodungen in Brasilien oder die Flüchtlingskrise in Europa. Er verwendet dafür in seinen grossen Serien keine üblichen, klassischen Fotokameras mehr, auch kein klassisches Filmmaterial, sondern Spezialmaterial, das nicht für die künstlerische Fotografie, sondern in der Regel für militärische und wissenschaftliche Überwachungen und Untersuchungen entwickelt worden ist. Die Bildtheoretiker Rune Saugmann, Frank Möller & Rasmus Bellmer kreierten dafür in ihrem Papier „Seeing like a surveillance agency? Sensor realism as aesthetic critique of visual data governance“ den neuen Begriff „Sensor Realism“, im Gegensatz zum klassischen fotografischen, fotojournalistischen Realismus. Sie führen aus: „Unter Sensor-Realismus verstehen wir einen ästhetischen Realismus, der auf der visuellen Replikation von Technologien basiert, die zur Visualisierung und Steuerung eines Problems eingesetzt werden, und nicht auf einer fotorealistischen Darstellung eines Problems. Der Sensor-Realismus ist also die kritische künstlerische Aneignung von Geräten, Ästhetik und Praktiken der visuellen Datenproduktion und erlaubt es dem Betrachter, zu hinterfragen, wie die visuelle Datenproduktion das, was sie beobachtet, neu zusammensetzt und formatiert.“[xix] 

Aber wie bei der klassischen Fotokamera, so ist der Fotograf, der Kameramann, der Sensorkünstler auch bei diesen neuen Werkzeugen verpflichtet, gegenüber dem Motiv, dem Konflikt, der Situation sorgfältig vorzugehen, die Umstände seiner künstlerischen Produktion mitzudenken, mit zu reflektieren. Um doch gleichzeitig starke, wichtige Bilder zu machen, die die Betrachter, die Betrachterinnen aufwecken, aufschrecken, beindrucken und sie zugleich motivieren, ja antreiben, mitdenken und mitzuhelfen, die Welt allenfalls ein Stück weit besser zu machen. Und das tun die Arbeiten von Richard Mosse mit ihrer grossen Bildkraft, wie es selten Fotografien in diesem Bereich schaffen. Sein Verbinden von Spektakel mit dem Kontext, dem Inhalt, von Konkretem mit der Metapher, von Hinschauen mit dem Nachdenken, Hinterfragen zeigt eindrücklich, aber stellt nicht zur Schau, stellt nicht bloss. Die moralische Gelassenheit, Sicherheit, vielleicht auch Überheblichkeit, die Trotta in der Erzählung von Ingeborg Bachmann ausstrahlt, können wir uns vermutlich bei 8 Milliarden Menschen und den sich potenzierenden Problemen, Konflikte und Kommunikationskriegen gar nicht mehr 
 
[i] Ingeborg Bachmann: Drei Wege zum See, in: Ingeborg Bachmann, Werke, Band 2, München 1978. S. 394 ff.
[ii] Ebenso, S. 394 ff.
[iii] „Zwischen Zeugenschaft und Voyeurismus – Visuelle Medien und die Berichterstattung über Krieg und Terrorismus als ästhetisches Problem und literarisches Thema“. In: ‚Störungen’. Kriegsdiskurse in Literatur und Medien von 1989 bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Hg. v. Carsten Gansel u. Heinrich Kaulen. Würzburg (Königshausen & Neumann) 2010
[iv] Allan Sekula: Photography Against the Grain - Essays and Photo Works 1973–1983, Mack, London 2016
[v] Susan Sontag: Against Interpretation Against Interpretation and Other Essays. Penguin Books 2013
[vi] Judith Butler, Photography, War, Outrage, in: PMLA, Vol. 120, No. 3, May, 2005. https://www.jstor.org/stable/25486216?seq=1
[vii] Hito  Steyerl: Die Farbe der Wahrheit – Dokumentarismen im Kunstfeld, Wien 2008
[viii] 2001 Bachelorabschluss im Fach Englische Literatur am King’s College London, 2003 wurde er Master of Research am London Consortium im Fach Kulturwissenschaften, 2005 erhielt er ein Postgraduierten-Diplom im Fach Kunst bei Goldsmiths, University of London, zuletzt erhielt er 2008 den Titel Master of Fine Art (MFA) an der Yale School of Art.
[ix] WN – Whiteshot Magazine of contemporary art, December 2009. https://whitehotmagazine.com/articles/in-conversation-with-richard-mosse/1981
[x] Tanizaki Jun’ichiro: Lob es Schattens – Entwurf einer japanischen Aesthetik. Manesse, Zürich 1987, S. 18-19. „ Wenn das schon beim Gebrauch derselben Apparate und Chemikalien, desselben Filmmaterials der Falls ist, wie sehr müsste dann erst recht eine von uns selbständig entwickelte Photographie auf unsere Haut, unser ganzes Aussehen, unsere klimatischen und topographischen Verhältnisse zugeschnitten sein.“
[xi] Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Demokratische_Republik_Kongo
[xii] Jack Shainman Gallery, Webseite, https://jackshainman.com/artists/richard_mosse
[xiii] British Journal of Photography, November 2010
[xiv] Hannah Carroll Harris, in: https://www.berlinartlink.com/2020/03/20/terrestrial-symbiosis-richard-mosses-ultra-at-carlier-gebauer)
[xv] “Seeing like a surveillance agency? Sensor realism as aesthetic critique of visual data governance”. Rune Saugmann , Frank Möller & Rasmus Bellmer analysieren und diskutieren hier Richard Mosse’s Arbeitsweise. https://www.tandfonline.com/author/Bellmer%2C+Rasmus
[xvi] CarlierGebauer, Pressemitteilung, 4.03-18.04.202, https://www.carliergebauer.com/downloads/Press%20release_RM_Ultra_2020_DE.pdf
[xvii] SP47 (Strategic Paper 47), Environmental Crime in the Amazon Basil: A Typology, Police and Action. August 2020. https://igarape.org.br/wp-content/uploads/2020/08/2020-08-19-AE-47_Environmental-Crime-Typology.pdf
[xviii] The Monocle Weekly, 12 January 2021
[xix] Rune Saugmann , Frank Möller & Rasmus Bellmer : Seeing like a surveillance agency? Sensor realism as aesthetic critique of visual data governance. Published 18 June 2020. https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/1369118X.2020.1770315