September 2008

Sehen und gesehen werden
Voyeurismus und Fotografie

English Version: Seeing and Being Seen →

Das 20. Jahrhundert war das Centennium der Schaulust par excellence. Fotografie, Film und Fernsehen sind die Medien, die das Jahrhundert visuell prägten. Ihnen allen unterliegt das Schauen, die Neugierde und Faszination am Sehen als maßgebender Antrieb. Das Jahrhundert schien endgültig belegen zu wollen, dass die Schaulust „Ursprung aller Bemühungen und Phantasien, die menschlichen Sinne zu erweitern“1 ist und ebenso „Beweis für den unauflösbaren Zusammenhang von Ästhetik, Erotik und Kreativität“2. Sigmund Freud beschreibt zu Beginn des Jahrhunderts das kindliche Interesse an der Beobachtung des Geschlechtsaktes der Eltern als (erlebte oder fantasierte) Urszene, die das spätere Begehren und Wünschen, die Lust, Macht und den Willen zum Wissen, die ästhetische, erotische und kulturelle Praxis entscheidend beeinflussen. Damit bekräftigt er eigentlich, wie ursprünglich, wie „natürlich“ der Augensinn ist. Dennoch schreibt Meyers Lexikon Online zum Begriff Voyeurismus: „Voyeurismus: [… französisch voyeur »Zuschauer«, zu voir, von lateinisch videre »sehen«] der, Skopophilie, abweichendes Sexualverhalten (v. a. bei Männern), bei dem sexuelle Erregung und Befriedigung durch heimliche Beobachtung körperlicher Nacktheit, Entblößung oder sexueller Handlungen bei fremden Menschen erreicht werden. Voyeuristische Anteile im Sexualverhalten sind weit verbreitet. Nach S. Freud stellt Voyeurismus eine mit dem Exhibitionismus eng verbundene Fixierung auf einen isolierten Partialtrieb dar, die mit Problemen der Geschlechtsidentität und des körperlichen Selbstbilds einhergeht.“3 In Meyers Großem Taschenlexikon von 1983, also 25 Jahre früher, ist deutlicher noch von „sexueller Perversion“ die Rede.4 Woher stammt dieses Zögern, die Verlegenheit, ja das Abqualifizieren, wenn der Begriff des Voyeurs zur Sprache kommt?5 Waren Mädchen und Landschaften im Mittelalter noch eine „Augenweide“, wurde „geäugelt“, wenn geflirtet wurde, so verengte sich im letzten Jahrhundert die positive oder zumindest neutrale Vorstellung des Zusehers, des Voyeurs als eines Menschen, der neugierig schaut, in die negative Vorstellung eines Menschen, der aus sexueller Perversion zuschaut, der sich durch das Schauen „abreagiert“. Einen ersten Grund sieht Volker Roloff (Mitherausgeber des Symposiumsbandes über Die Ästhetik des Voyeur) in den Diskursen über die Psychoanalyse Freuds, welche die Reflexion über die Schaulust nicht nur weiterentwickelt, sondern auch pathologisiert haben. Doch er ergänzt mit dem Hinweis, dass wir alle befangen seien, wenn wir mit unserer eigenen Schaulust konfrontiert sind, ihr kreatives Potenzial erkennen wollen: „Wir überlassen es am liebsten Schauspielern, Künstlern, Malern, Theater- oder Filmregisseuren, unsere Schaulust zu gestalten und zu reflektieren“, und wir seien froh, wenn ein Werk als nicht voyeuristisch beurteilt wird.6 Einen zweiten Grund sieht er in der über Jahrhunderte stattfindenden christlichen Abwertung der Sinne und Sinnlichkeit, die als Werkzeuge der Sünde verdächtigt werden. Sie betreffen vor allem das Auge und die Zunge: „Die sogenannte concupiscentia oculorum gehört zu einer Tradition, die Begriffe wie Lust und Begehren, volupté, désir, curiosité von vornherein negativ“ belegt.7 

Wir verfolgen hier also die Entwicklung des Begriffs Voyeur vom Ausübenden einer ursprünglichen, neugierigen Schaulust hin zu einem verbotenen Schauen, einem pervertierten Schautrieb. In paradoxer Verschränkung schält sich aus dem christlichen Sinnlichkeitsverbot die Schaulust aus der Summe der Sinne heraus und entwickelt sich zum dominanten Sinn im 19. und 20. Jahrhundert. Bei gleichzeitiger Verdammung des neugierigen Sehens entwickeln wir Fernrohre, Mikroskope, Fotografie, Film, Fernsehen, Internet zu omnipotenten Geräten und Medien des Entdeckens, Festhaltens und Vermittelns, Instrumente, die alle unseren Sehsinn, unsere Lust zu schauen und das visuelle Angebot stärken. Sinnlichkeitsverbote scheinen (vor allen anderen Sinnen) den Augensinn zu fördern, und Sehverbote scheinen das Begehren noch weiter zu verstärken. Weiter hält Roloff fest: „Die Schaulust ist (…) keineswegs nur ein äußerer Sinn, sondern immer zugleich nach innen und außen gerichtet; Ursprung und générateur einer imaginären Welt der Bilder, der kulturell codierten, erinnerten, phantasierten und geträumten Bilder, die jede Wahrnehmung steuern und konstituieren.“8 Entsprechend ist die eigentliche Opposition von Subjekt und Objekt der Schaulust ebenso fragwürdig wie letztlich die Unterteilung zwischen der Spiritualität und der Sinnlichkeit des Sehens oder zwischen der Realität und der Imagination. Trotz aller Ächtungsversuche ist festzuhalten: Das Sehen ist ursprünglich, das Sehen ist imaginär, und entsprechend ist es nicht kontrollierbar. Das ist die Quintessenz der vergangenen zweihundert Jahre (belästigende, strafbare Übergriffe sind ein anderes Thema).

Das Medium der Fotografie hat sich in seiner 170-jährigen Geschichte von einem schwerfälligen zu einem superhandlichen Instrument, einem eleganten Katalysator des Sehens entwickelt. Immer kleinere Kameras, kräftigere Teleobjektive, höher auflösende „nachtsichtige“ Träger stärken das Sehen, Entdecken und das (analoge oder digitale) Festhalten von Situationen und Ereignissen in jeder Ecke, in jedem Versteck der Welt. Die Fotografie ist ein markant voyeuristisches Medium. Sie selbst ist grundlegend voyeuristisch angelegt, lange bevor sich der Blick und der Blickende mit der Fotografie von Distanz zur Nähe, vom Gestellten zum (im Schnappschuss) Enthüllten, von der würdevollen Abbildung zur pornografischen Verengung des Dargestellten entwickeln. Das Schauen durch die Linse entspricht dem Schauen durch das Loch der Wand (wiedergegeben zum Beispiel in Ohne Titel, Brüssel 1932 von Henri Cartier-Bresson) und dem Spiel zwischen phallischem Begehren und der Vulva als Fluchtpunkt in psychologischer Dimension. Die Verbindung von optischer Konzentration des Blicks und beobachtender Haltung, des „Teilhabens ohne Folgen“, sind sowohl Attribute des Betrachters von Fotografien, des Fotografen als auch der Fotografie als Medium: der Voyeur des Voyeurs des Voyeurismus. Voyeurismus ist eine „Augenlust-Erfüllung auf Distanz“9, und in dieser Spielform verbinden sich voyeuristischer und ästhetischer Blick.

Wir sprechen der Fotografie jedoch nicht nur im sexuellen Bereich einen voyeuristischen Antrieb zu. Der voyeuristische Blick sucht die Indiskretion, die Überschreitung einer privat oder konventionell gesetzten Grenze im Profanen oder Sakralen. Paparazzi-Fotografie zum Beispiel lebt ausschließlich von der voyeuristischen Kraft der Fotografie, der sie verbreitenden Medien und der voyeuristischen Lust der Betrachter. Nahaufnahmen von Ermordeten aus großer Nähe, bloßstellende Bilder von Kranken, forsche und zudringliche Blicke in Privatsphären kritisieren wir ebenso als voyeuristisch. Fokussiert, visiert, verengt sich hingegen der fotografische Blick immer stärker und schließt zunehmend Komplexitäten aus dem Seh- und Denkfeld aus, dann entwickelt er sich zum pornografischen Blick. 

Exemplarisches Beispiel für voyeuristische Fotografie im herkömmlichen, im eroti-schen, sexuellen Sinn ist das Werk von Helmut Newton: Seine Fotografien funktionieren zuerst einmal direkt, einfach, fast funktional. Er präsentiert seine Motive, meist junge, attraktive, „sexualisierte“ Frauen, vor einem düsteren, schweren Hintergrund, blitzt sie aus dieser Dunkelheit heraus. In vielen seiner Bilder dominiert ein großer Schwarzweiß-Kontrast: Bestimmtes wird grell erleuchtet, während anderes im Dunkeln versinkt. Das Prinzip des fotografischen Voyeurismus braucht diesen Wechsel von dunkel zu hell. Der Voyeur sitzt klassischerweise im Dunkeln, Sicheren und entfaltet sein Fiebern beim Blick auf die erleuchtete Szene. Zu dieser Ästhetik passt sehr gut, dass der Blitz das verbotene, geheimnisumwitterte Tummelfeld der Reichen und Schönen aufhellt. Im Schein der 125stel- Sekunde taucht das Objekt auf und entflammt die voyeuristische Begierde der Betrachter. Das viele Schwarz unterstreicht das Verbotene, den crime, den der Fotograf und die Agierenden begehen – und sei es auch nur jenes Vergehen, jener Luxus, wirklich Zeit für Sexuelles zu haben –, und öffnet den Raum für alle möglichen projizierenden Gedanken. Dieser Situation steht entgegen, dass bei Newton die Angeblitzten nie erschrecken, dass sie nicht darauf reagieren, sondern ungestört weiter machen, was sie tun wollen. Newton bricht so auf einer zweiten Ebene die eigene Vortäuschung von Realität und erzeugt eine ambivalent schillernde Bilderwelt: Seine Realistik verwandelt sich dadurch in Symbolisches.

In einigen Fotografien hingegen hat der Macher Helmut Newton den Voyeurismus selbst zum Thema gemacht. Er nannte sie Studien zum Voyeurismus, zum Beispiel die Szenerie in einem hohen, mit ornamentalen Seidentapeten, schweren Vorhängen und reich geschnitzten Holzmöbeln bestückten Schlosssaal. Entgegen der Gediegenheit filmt im Vordergrund ein Mann eine Frau. Angespannt, konzentriert steht er, vornübergebeugt, über ihr, während sie sich in anstrengender Rückenstützlage räkelt, sich der Kamera anbietet. Er ist angezogen, sie ist nackt. Er filmt, sie zeigt sich und wird gesehen. Es muss diese Komplementarität sein, die aus den beiden Figuren ein gleichschenkliges Dreieck formt. Die beiden erwecken mit allen anderen Details den Eindruck, für den Moment des Tuns wie siamesische Zwillinge verknüpft zu sein. Ein eindringliches Bild für die Komplementarität von Voyeurismus und Exhibitionismus. 

Ein zweites Beispiel ist ein Close-up, eine außergewöhnlich direkte Fotografie. Nur eine Armlänge vom Objektiv entfernt posiert eine – wie so oft – kräftige junge blonde Frau. Sie schaut über den Kamerastandpunkt hinweg vermutlich ins Gesicht des agierenden, beinahe unsichtbaren Mannes. Ihr Kleid ist halb geöffnet, wird gerade von einer Männerhand drapiert, so dass ihre Brust frei und im Zentrum des Bildes zu liegen kommt. Sie selbst wirkt „in between“, in der Schwebe, ihr Körper lädt zum Betrachten ein, ihre Haltung jedoch wirkt leicht unschlüssig. Nebst vielen kleinen Details und Verweisen, die das Bild füllen und mitbestimmen, ist es so konstruiert, dass es sich der Betrachter/die Betrachterin aus der Position anschaut, die der beinah unsichtbare Agierende mit
seiner Kamera und seinem Penis einnehmen muss. Schauen und Fotografieren wird hier, wie kaum
je so deutlich, als explizit sexualisiert vorgeführt: „Le regard est l’érection de l’oeil“ (Jean Clair).10 

Im Selbstporträt mit June und Modellen, Vogue-Studio, Paris 1981 entfachte Newton ein Feuerwerk von Bezügen und Gegensätzen. Newton ist angezogen, „overdressed“ in seinem halb-geöffneten (Spanner-)Trenchcoat, mit weißen Tennisschuhen und zweilinsiger Rollei; das Modell, direkt als Rückenakt und gespiegelt von vorne sichtbar, posiert bis auf seine schwarzen High Heels nackt; als Nebenfiguren agieren sitzend: June, seine Frau, in Alltagskleidern, unaufgeregt, ja leicht gelangweilt, und ein verdecktes Modell, von dem wir nur angeschnittene Beine und Füße in extremen Stilettos sehen. Wer steht hier wo, und wo stehen wir als Betrachter? Das Geschlecht des Modells markiert wiederum genau die Mitte des Bildes. Durch die Spiegelung erfahren wir, dass Newton als Fotograf unsichtbar da steht, wo wir als Betrachter uns befinden. Mit ihm schauen wir aus dem Rundhorizont, aus der inszenierten Szenerie hinaus in die Alltagswelt, aus der uns June entgegenblickt. Newton, und wir mit ihm, wird in seiner Tätigkeit als Fotograf, als im Sucher Schauen-der, zum Voyeur, doch die voyeuristische Spannung wird durch die ebenmäßige Ausleuchtung und
den Blick von June Newton aufgelöst, das Geheimnis der Szene wird offengelegt und damit dekonstruiert. „Nicht die Figur der Verführung ist mysteriös, sondern die des Subjektes in den Fängen seines eigenen Wunsches oder Bildes.“11 Mit diesen Worten von Jean Baudrillard muss sich hier der vom Licht und von der Auflösung enttäuschte Voyeur (Betrachter) trösten. Eine etwas ungewöhnliche Enttäuschung. Üblicher, aber auch härter trifft es den Voyeur, wenn er beim Schauen entlarvt wird, wenn die Frau, das Objekt der Begierde zurückblickt und ihn mit den eigenen Waffen schlägt, ihn damit überbietet. Während der Voyeur beim Schauen heimlich wie ein Dieb agiert, setzt die Frau bewusst ihren Blick als Waffe ein.12 Helmut Newtons Big Nudes von 1980 sind Beispiele, in denen starke, große, nackte Frauen mit ihrem Blick den voyeuristischen Betrachter aus seiner Rolle als Teilhaber ohne Folgen heraus reißen. 

Valie Export spielt mit diesem Effekt in Genitalpanik, einer Sequenz von Fotografien von 1969, in denen sie als Protagonistin auftritt. Sie bricht darin mit der klassischen Unterscheidung von männlichem Aktivismus und weiblicher Passivität. Als sei sie Aktivistin einer Widerstandsorganisation, der Black Panther Party zum Beispiel, posiert sie in enger Hose und Jacke, mit wildem Haar und Maschinenpistole. Gleichzeitig aber zeigt sie Schamhaare und Vagina. Der (männliche) Blick muss hier irrlichtern – im Wechsel von Hin- und Wegschauen, von Zugreifen und Rückweisung. Der Voyeur wird mit einem aggressiven Blick konfrontiert, das Objekt wird Subjekt.

Nachsatz: Gegenpart zum Voyeurismus sind Formen exhibitionistischen Verhaltens: das Zeigen, Vorführen, Anbieten von Sexualität, das Entblößen, Enthüllen des Geschlechts vor der Kamera, vor dem Publikum. Ein Sextheater fürs Private oder fürs Theater (Exhibitionismus als Verbreitung eines genitalen Schreckens ist damit nicht gemeint). Hier fällt das Geheimnis des Entdeckens, des unbemerkten Schauens weg. Es wird durch ein Vorführen, durch eine private oder öffentliche dialogische Setzung ersetzt, welche die Anbietenden und die Zuschauer für einen bestimmten Augenblick verbinden. Sie bauen in gemeinsamer Erregung (oder in professioneller Schauspielerei) eine sexuelle Spannung über den Augensinn auf. Jean-Luc Moulènes Arbeit Noeska, Amsterdam, 2004 als Teil einer Serie interveniert in diesem Kontext. Seine Doppelporträts von Frauen, die ihr Gesicht und ihre Vagina fast krampfhaft gleichzeitig „hinhalten“, thematisieren das Animalische und Zivilisatorische, das Persönliche und Allgemeine, das Ich und das Es als ein großes Ganzes, das nicht getrennt, sondern zusammen gelebt und gedacht werden soll.

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1 Volker Roloff, „Anmerkungen zum Begriff der Schaulust“, in: Lydia Hartl, Yasmin Hoffmann, Walburga Hülk, Volker Roloff, Die Ästhetik des Voyeur. Heidelberg 2003. S. 26

2 Roloff, a. a. O., S. 28

3 http:// lexikon.meyers.de / meyers / Voyeurismus

4 Meyers Großes Taschenlexikon, Aktualisierte Neuausgabe 1983. Mannheim, Wien, Zürich, S. 276

5 Roloff, a. a. O., S. 26

6 Roloff, a. a. O., S. 27

7 Roloff, a. a. O., S. 27

8 Roloff, a. a. O., S. 28

9 Gundolf Winter, „Voyeurismus oder die Differenz von Blick und Motiv“, in: Lydia Hartl, Yasmin Hoffmann, Walburga Hülk, Volker Roloff, Die Ästhetik des Voyeur. Heidelberg 2003, S. 57

10 Jean Clair, Méduse. Paris 1989, S. 79

11 Jean Baudrillard, Cool Memories, 1980–1985. München 1989, S. 9

12 Wolfgang Drost, „Der Blick der Frau auf den Voyeur. Zu Gautiers Roi Candaule“, in: Lydia Hartl, Yasmin Hoffmann, Walburga Hülk,
Volker Roloff, Die Ästhetik des Voyeur. Heidelberg 2003, S.144